UNICEF-Neujahrsgespräch in Schloss Bellevue: Zwischen Albtraum und Hoffnung
Wie erleben Kinder und Jugendliche den Krieg in ihren Heimatländern? Was macht sie stark, Gewalt und Einsamkeit zu überwinden – und wieder nach vorn zu schauen? Lesen Sie, was betroffene Jugendliche, Fachleute und UNICEF-Schirmherrin Elke Büdenbender beim einem gemeinsamen Gespräch in Berlin besonders wichtig war.
„Ich wünsche Kindern eine Kindheit.“ Die 16-jährige Mariia aus Kryvyi Rih in der Ostukraine beschreibt eindringlich, was für sie Kindheit ausmacht: Zur Schule gehen können, sich mit Freunden treffen, Spaß haben und Chancen. Die Realität ist ganz anders: Seit fast zwei Jahren leben Kinder in der Ukraine in einem Albtraum aus Bombenalarm, Tod, Angst und Zerstörung. Viele mussten immer neue Angriffe in Bunkern überstehen. Jede*r dritte 13- bis 15-Jährige leidet unter Schlafstörungen, viele berichten von Angstzuständen und Flashbacks. Ihre Schulen sind zerstört, normaler Unterricht findet kaum noch statt – so zieht UNICEF zum zweiten Jahrestag (24. Februar 2024) des Ukraine-Kriegs Bilanz.
Kurz vor dem Jahrestag kommen betroffene Jugendliche und Fachleute beim UNICEF-Neujahrsgespräch im Berliner Schloss Bellevue zusammen, um „voneinander zu lernen und sich gegenseitig den Rücken zu stärken“, so Gastgeberin Elke Büdenbender in ihrem Grußwort.
„Zwischen Albtraum und Hoffnung – Kindheit im Krieg und auf der Flucht“ – hinter diesem Leitthema des Gesprächs verbirgt sich das Schicksal von rund 460 Millionen Mädchen und Jungen auf der Welt. Der UNICEF-Vorsitzende Georg Graf Waldersee skizzierte, wie sehr Kinder in der Ukraine, im Sudan, in Gaza, in Afghanistan oder dem Jemen unter Gewalt und Angriffen leiden. „Jede Kugel, jede Bombe, jede Zerstörung treffen nicht nur Gebäude und lebenswichtige Infrastruktur, sondern auch das innere Fundament eines Kindes“, so Waldersee.
Psychosoziale Unterstützung für 2,5 Millionen Kinder und Betreuende
Mariia engagiert sich in der Ukraine bei Upshift, um ihre Altersgenossen zu unterstützen. Das Programm von UNICEF gibt Jugendlichen in zahlreichen Ländern neue Perspektiven. In der Ukraine treffen sie sich zum Beispiel online, um zusammen mit Videographern oder Architekten Kreativprojekte zu entwickeln und so auf Berufsideen zu kommen. 2023 hat UNICEF in der Ukraine laut aktuellem Nothilfereport rund 2,5 Millionen Kinder und Betreuende psychosozial unterstützt – und Nothilfe für die Gesundheits- und Wasserversorgung im Land geleistet.
Hier geht es Blog zur aktuellen UNICEF-Arbeit in der Ukraine:
Der 19-jährige Oleksandr aus Kiew floh 2022 nach Deutschland. Hoch motiviert lernt er deutsch und versucht, sich ein neues Leben aufzubauen, trotz aller Ungewissheit in seiner Heimat. Er würde gern Informatik studieren und als Softwareentwickler arbeiten. Sein größter Wunsch: „Dass dieser Krieg aufhört.“
Jedes Kind bringt seine eigene Geschichte mit
Auch Sham und Sarah, beide 19 und in UNICEF-JuniorBeirat engagiert, wissen genau was ihnen wichtig ist. Sham floh mit ihrer Familie 2015 unter großer Gefahr mit Mutter und Schwester aus dem umkämpften Syrien. „In Deutschland fühlte ich mich endlich sicher“, sagt Sham. „Aber ich musste mich in einem völlig neuen Land zurechtfinden und in der Schule vieles doppelt lernen.“ Weil Bildung ihr sehr wichtig ist, gibt sie benachteiligten Kindern Nachhilfe. Ihr Wunsch: „Mehr Rücksicht darauf, dass jedes Kind seine eigene Geschichte mitbringt.“
Auch Sarah wünscht sich, dass mehr auf die mentale Gesundheit geflüchteter Kinder und Jugendlicher geachtet wird. Sie ist in Deutschland geboren, ihre Eltern kommen aus Afghanistan. Doch obwohl sie eine gute Schülerin war, wurde ihr oft nur ein Realschulabschluss zugetraut. „Bis heute verfolgt mich der Satz meiner Lehrerin, dass es bei mir irgendwie nicht passen würde – heute mache ich in Frankfurt mein Abitur.“ Ihr ist es wichtig, dass alle Kinder eine Chance erhalten. Und dass sie selbst nie von Hilfe abhängig ist.
Mit Mut neue Lösungen finden
Was lässt sich nun tun, damit sich die Lage geflüchteter Kinder und Jugendlicher konkret verbessert? Für Jochen Steinhilber, Abteilungsleiter Grundsätze im Bundesentwicklungsministerium (BMZ), ist ernsthafte Beteiligung sehr wichtig für nachhaltige Verbesserungen. „Wir brauchen Kinder und Jugendliche als Akteur*innen des Wandels.“ Programme wie Upshift zeigten auf innovative Weise, was gemeinsam mit jungen Menschen selbst machbar sei.
Ilka Horstmeier, Mitglied des Vorstands der BMW AG für Personal und Immobilien, hält Bildung für einen Schlüssel für Veränderungen. Unternehmen stehen in der Verantwortung voranzugehen und zu zeigen, dass konstruktive Lösungen möglich sind. Die BMW Group selbst hat mit UNICEF die globale Partnerschaft BRIDGE entwickelt, um jungen Menschen durch Ausbildung in MINT-Fächern Lebenschancen zu eröffnen. Parallel dazu haben in den letzten zweieinhalb Jahren über 2.500 Menschen aus Ländern wie der Ukraine, Syrien oder Afghanistan bereits angefangen, in den BMW Group Werken in Deutschland zu arbeiten.
Geflüchtete Kinder brauchen wieder Stabilität
Auf die Situation in Deutschland blickten Gewaltschutzkoordinatorin Milena Michy sowie die Leiterin der Flüchtlingsambulanz am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Dr, Areej Zindler. In vielen Gemeinschaftsunterkünfte fehle es an Angeboten für Kinder, so Milena Michy – dass vielen Kindern Privatsphäre fehlt, zeigte auch die UNICEF-Studie „Das ist nicht das Leben“.
„Geflüchtete Kinder brauchen Stabilität und verlässliche Routinen“, so die Sozialarbeiterin. „Es braucht bundesweit verbindliche Regeln.“ Dr. Areej Zindler kam als 19-Jährige zum Medizinstudium aus Palästina nach Deutschland. Seit 2016 leitet sie die Flüchtlingsambulanz am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, in der jährlich rund 2.000 junge Patient*innen Hilfe finden. „Posttraumatische Belastungsstörungen lassen sich bewältigen“, so die Kinder- und Jugendpsychiaterin. „Ich wünsche mir insbesondere, dass Sprachmittlung als Teil der Therapie anerkannt und auch bezahlt wird.“
Der syrisch-palästinensische Pianist Aeham Ahmad schloss die Runde mit einem Appell zu Mut und Ausdauer – und mit einem bewegenden Klavier-Medley aus bekannten europäischen und arabischen Stücken. Weltbekannt geworden als „Pianist aus den Trümmern“ durch seine Straßenkonzerte im zerstörten Damaskus, kam er 2015 über die Balkanroute nach Deutschland. Er lebt heute mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Nordrhein-Westfalen.
Ankommen muss leichter gemacht werden
Bei der Schlussdiskussion waren Jugendliche und Erwachsene sich einig: Das Ankommen muss leichter gemacht werden. So wünscht sich Oleksandr ganz konkret weniger Bürokratie und mehr Information bei der Zukunftsgestaltung. Daran schloss UNICEF-Schirmherrin Elke Büdenbender direkt an: „Wir müssen Jugendliche und auch Eltern besser über die beruflichen Möglichkeiten informieren – viele Wege führen nach Rom“, so ihr Appell. Sie selbst sei auch zunächst nicht auf dem Gymnasium gewesen und heute Richterin.
„Die jungen Menschen, die ich getroffen habe, bringen Willenskraft, Anpassungsfähigkeit und – ganz wichtig – enormen Mut mit“, so Elke Büdenbender. „Lassen Sie uns alles tun, sie auf ihrem Weg zu unterstützen, und das gemeinsam mit ihnen!“ Mit diesem Appell zum Engagement endete ein bewegendes Neujahrsgespräch, das gerade in schwierigen Zeiten großer Konflikte viel Energie, Mut und Zuversicht vermittelte. Danke an alle, die dabei waren!