Zwei Jahre Krieg in der Ukraine: Kindheit in Zeiten der Angst
Seit 730 Tagen leben Kinder in der Ukraine mit Luftalarm, Zerstörung und Angst. Für jedes Mädchen und jeden Jungen ist jeder weitere Tag des Krieges einer zu viel. Ein Kommentar von Christian Schneider, Geschäftsführer bei UNICEF Deutschland.
Das Heulen von Sirenen wird allen Kindern in der Ukraine bis an ihr Lebensende in den Knochen sitzen. Und sie in ihren Alpträumen verfolgen. Zwei, drei Sekunden des schrillen Alarms werden genügen, um ihnen noch Jahrzehnte später einen Schrecken einzujagen. Ich selbst werde nie vergessen, wie am ersten Tag meines letzten Besuches in Charkiw in der Ostukraine etwa zehn Mal die Sirene der Warn-App aufheulte – und damit der Krieg ganz nahe war. Für mich war es ein Tag der Unsicherheit, ja, der Angst. Kinder in Städten wie Charkiw, Dnipro oder in den Ortschaften, die noch näher an der 1.000 Kilometer langen Frontlinie liegen, leben seit 730 Tagen mit diesem Luftalarm, mit der Wucht der Detonationen und der Zerstörung, mit der Todesangst.
Zwei Jahre Krieg in der Ukraine: Vier bis fast sieben Monate Kindheit im Untergrund
Unser UNICEF-Team hat überschlagen, dass die Kinder in Frontnähe seit dem 24. Februar 2022 zwischen 3.000 und 5.000 lange Stunden in Luftschutzkellern verbracht haben – wenn sie denn die Möglichkeit hatten. Das sind vier bis fast sieben Monate Kindheit im Untergrund. Meist wurden sie nachts oder in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf gerissen. Für viele kam die Warnung jedoch zu spät: Mindestens 1.863 Kinder wurden verletzt oder getötet. Und das sind nur die verifizierten Fälle.
Schule im Untergrund: In sicheren Klassenräumen in U-Bahnstationen oder Schutzkellern kann der Unterricht auch bei Luftalarm weitergehen. | © UNICEF/Filippov
Kein Kind in der Ukraine kann diesem Krieg mit seinen unablässigen Angriffen entkommen, die erst vor wenigen Tagen eine 17-jährige in Charkiw in den Tod rissen. Als ich davon las, gingen meine Gedanken zurück zu meinem Besuch in der Metro-Schule der Millionenstadt. In den U-Bahnstationen hat UNICEF geholfen, sichere Klassenräume einzurichten. Wir trafen Jugendliche im Alter des getöteten Mädchens, die voller Pläne für die Zukunft waren - trotz des Krieges. Sie träumten davon, Schauspielerin zu werden, oder Programmiererin, mindestens aber davon, zu leben. Seitdem haben die Angriffe wieder an Intensität zugelegt, immer wieder wurden Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen getroffen - und Kinder.
Im Hintergrund der Debatten um die Lage an der Front und weitere Militärhilfen hat sich eine düstere Wolke über das Leben der Kinder gelegt. Jedes zweite Kind kann aufgrund der Gefahr und der Zerstörung nicht durchgängig am Präsenzunterricht teilnehmen. Im besten Falle lernen sie online, aber isoliert von ihren Freundinnen und Freunden. Wie wichtig es für die Kinder ist, Zeit mit anderen zu verbringen, ihre Lehrerinnen oder Erzieherinnen zu sehen, habe ich bei Besuchen in den Klassenräumen und Kindergärten erlebt, die UNICEF in Luftschutzkellern eingerichtet hat.
Jeder weitere Tag des Krieges in der Ukraine ist einer zu viel
Selbst wenn der Beschuss und der Lärm der Drohnen pausieren, ist der Krieg präsent: Laut Umfragen leidet die Hälfte der 13- bis 15-Jährigen unter Schlafproblemen. Verstörende Gedanken und Flashbacks sind häufig. Mütter und Sozialarbeiterinnen berichteten mir von Alpträumen der Kinder, von Bettnässen – und auch Suizidgedanken. Bei UNICEF schätzen wir, dass etwa 1,5 Millionen Kinder ein hohes Risiko haben, an Depressionen, Angstzuständen oder posttraumatischen Belastungsstörungen zu leiden. Für jedes Mädchen und jeden Jungen ist jeder weitere Tag des Krieges einer zu viel. Viele Kinder und Jugendliche sind müde und zermürbt – ihren Müttern geht es nicht anders.
Die Hoffnung der Kinder auf eine Zukunft nach dem Krieg bewahren
Zwei Dinge sind für unser UNICEF-Team an der Schwelle zum dritten Kriegsjahr besonders wichtig: Angesichts der zuletzt wieder so heftigen Attacken muss die humanitäre Versorgung der Menschen in Frontnähe dringend weitergehen und verlässlich finanziert werden. Medizinische Versorgung, Trinkwasser, die wichtigsten Dinge des täglichen Bedarfs, Bargeldhilfen für Familien, die alles verloren haben – das ist für Millionen Kinder und ihre Eltern weiter der einzige Hoffnungsschimmer.
Doch ebenso entscheidend ist es, im ganzen Land Angebote für Kinder zu stärken, damit sie, wo immer möglich, in die Schule oder den Kindergarten gehen und dringend benötigte psychosoziale Unterstützung erhalten. Damit sie, über Spiel- und Freizeitangebote, über therapeutische Hilfe und gemeinsame soziale Projekte die Hoffnung auf eine Zukunft nach dem Krieg bewahren. Nach zwei Jahren Kindheit in Angst gibt es vielleicht nichts Wichtigeres als diese Medizin gegen den andauernden Alptraum aus Attacken und ständigem Alarm.
Die UNICEF-Hilfe geht weiter. Helfen Sie mit!
Nach zwei Jahren Krieg sind Millionen Kinder aus der Ukraine in Not. Jeden Tag, den der Krieg andauert, wächst die Belastung der Kinder. Sie brauchen unsere Unterstützung nun mehr denn je. Wir von UNICEF stehen ihnen weiter zur Seite, liefern lebensrettende Hilfe und tun alles dafür, ihnen inmitten des Krieges eine Perspektive zu geben. Vielen Dank an alle, die uns mit einer Spende unterstützen.
Sie möchten mehr UNICEF-Blogs zur Ukraine lesen? In unseren Blogbeiträgen zur Ukraine schildern wir die aktuelle Situation der Kinder, geben Tipps, wie man mit Kindern über den Krieg sprechen kann, und erklären Ihnen, wie sich der Konflikt über die Jahre entwickelt hat.
*Dieser Kommentar wurde zuerst in kürzerer Form in der Fuldaer Zeitung veröffentlicht.