Menschen für UNICEF

Für die jungen Stimmen von UNICEF – eine Ermutigung


von Peter-Matthias Gaede

In einer bewegenden Rede hebt UNICEF-Vorstandsmitglied Peter-Matthias Gaede die Rolle von jungen Erwachsenen hervor, deren Engagement für Kinder enorm hilfreich ist – und immer wichtiger wird.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Vortrags, den Gaede im Mai bei einem Workshop der UNICEF-Hochschulgruppen in Freiburg gehalten hat:

Peter-Matthias Gaede mit Studenten der UNICEF-Hochschulgruppen

Bild 1 von 2 | Peter-Matthias bei einem Treffen mit engagierten Studenten der UNICEF-Hochschulgruppen. Als ehrenamtliches Vorstandsmitglied bemüht sich Gaede um den Austausch mit jungen Freiwilligen und spricht mit ihnen über die Bedeutung der UNICEF-Arbeit.

© UNICEF DT/Vasko
Vortrag von Peter-Matthias Gaede beim Hochschulgruppenworkshop in Freiburg

Bild 2 von 2 | Vortrag beim Hochschulgruppenworkshop in Freiburg: Auf Einladung des Teams "Bürgerschaftliches Engagement" spricht Gaede im Mai mit Studenten aus dem gesamten Bundesgebiet über ihre wichtige Rolle als Ehrenamtliche für UNICEF Deutschland.

© UNICEF/DT2018-60274/Lisa Wegst

"Ich möchte Ihnen heute nicht mit Fotos aus der Ferne kommen, sondern mit einer Geschichte ganz aus meiner Nähe beginnen.

Es ist die Geschichte von Husam. Er kommt aus einer palästinensischen Familie, die 1973 nach Syrien geflohen ist. Husam war da noch lange nicht auf der Welt. Er ist jetzt zwölf Jahre alt. Er hat die alte Kriegsgeschichte gewissermaßen in den Genen, eine ganz aktuelle aber direkt erfahren. Er ist, gemeinsam mit seinem Onkel, aus jenem Palästinenserviertel am Rande von Damaskus geflohen, das einige Zeit von Kämpfern des IS besetzt war.

Das war vor gut zwei Jahren. Etwa fünf Jahre Krieg in Syrien hat Husam also am eigenen Leib gespürt. Sein Vater ist tot. Und tot oder in Gefängnissen sind auch viele andere Familienmitglieder; Husams Onkel hat kleine Fotos von ihnen auf die Rückseite seines Handys geklebt.

Husam und sein Onkel leben nun in Hamburg. Sie sind zu Fuß über die Balkan-Route gekommen, als das noch möglich war. Husam hat einiges Glück gehabt. Er hat nette Lehrer, ist in einen Fußballverein eingeladen worden, hat ein paar Freunde. Er und sein Onkel haben eine kleine Wohnung bekommen, der Onkel verdient ein bisschen Geld mit Gelegenheitsarbeiten am Bau; es gibt ein paar Kümmerer. Und die beiden haben einen Husky, weil sie Hunde lieben, auch wenn die Hundehaltung in ihrem Haus nicht gestattet ist.

Zerrissene Familie zwischen Syrien und Deutschland

Und vor allem: Neuerdings ist auch Husams Mutter in Hamburg, mit der er bis dahin nur jeden Sonntag geskypt hat. Dann hat er sich angestrengt, nicht zu weinen, weil das seine Mutter traurig gemacht hätte. Nun ist sie da, musste aber drei weitere Kinder, das jüngste fünf Jahre alt, in Syrien zurücklassen. Sie haben kein Visum bekommen. Sie wohnen mit einer Großmutter im Klassenzimmer einer halbzerstörten Schule in Damaskus. Die Mutter hofft, sie von Deutschland aus leichter nachholen zu können. Ein Anwalt ist eingeschaltet. Ein Sozialarbeiter versucht zu helfen, er dolmetscht. Was ansonsten Husam machen muss.

Husam ist zwölf Jahre alt und muss offizielle Schreiben der deutschen Botschaft in Beirut und des Ausländeramtes übersetzen. Er muss seinem Onkel die Fernsehgebühren und die Hundesteuer erklären. Er muss seiner Mutter Deutschland erklären. Er steht jeden Morgen um fünf Uhr auf, weil er Angst hat, nicht pünktlich in der Schule zu sein. Er vermisst seine Geschwister. Er kann die Groß- und Kleinschreibung noch immer nicht, auch nicht f und v auseinanderhalten. Er kauft ein. Er hat keine Spielsachen und keine Erfahrung, was Ferien sind. Er sitzt in einer Gartenhütte und wartet auf das Arbeitsende des Onkels. Er isst gerne Pizza und möchte nicht zum Syrer gehen, weil er dann womöglich Arabisch sprechen soll, aber nicht nach seinem Vater gefragt werden will.

Was geht in Husam vor? Auch jene Deutschen, die sich um ihn kümmern, wissen es nicht wirklich. Welche Bilder von der Überfahrt mit dem Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland kommen in ihm hoch? Welche Erinnerungen überfallen ihn? Möchte er nach Damaskus zurück? Oder hätte er Angst davor? Wie fremd, wie unaufgehoben fühlt er sich? Von was außer einer Spielkonsole träumt er? Ist er irgendwie angekommen, zumindest fürs Erste?

Das Ferne und das Nahe geht uns an

Ein zwölfjähriger Junge also, hinausgeworfen aus seinem Biotop und mit zerfetzter Familie. Eines von Millionen Kindern auf Zwischenstation, auf der Flucht. Eines von Millionen Kindern, das Frieden bräuchte. Einen kleinen Frieden können nette Menschen in Deutschland ihm temporär schaffen – den großen aber nicht.

Der große, in diesem Falle, wäre Frieden in Syrien. Nur haben wir uns damit auseinanderzusetzen, dass er sich noch nicht abzeichnet. Eine Rückkehr wird für die meisten Menschen in absehbarer Zeit nicht möglich sein.

Tja, und damit sind wir beim großen Bild. Haben wir früher dafür geworben, dass Menschen dafür spenden, fernes Leid zu lindern, so lassen sich das Ferne und das Nahe nicht mehr so trennen. Und das bedeutet: Unsere Arbeit auch in Deutschland ist intensiver geworden. Also das, was wir unter Advocacy fassen: Einflussnahme auf die politisch Handelnden, auf dass sie sich mit Kindern und ihrer Situation befassen, einschließlich der geflüchteten und migrierten Kinder bei uns. Mit deren Wohnsituation, mit deren schulischer Situation, mit deren Integration. Denn Kinder sind Kinder; überall.

Syrischer Junge in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin.

Im Wartezustand: Syrischer Junge in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin.

© UNICEF/UN026343/Ashley Gilbertson/VII Photo

Ändert sich damit unsere ursprüngliche Aufgabe?
Natürlich nicht. Unser Arbeitsfeld ist immer noch hauptsächlich die ganze Welt da draußen; es ist nur etwas hinzugekommen vor unserer Haustür. Während da draußen in der Welt die Probleme leider nicht weniger werden.

Anstieg großer Krisen weltweit

In Nordnigeria sind seit 2013 mehr als tausend Kinder von der Terrorgruppe Boko Haram entführt worden - und werden bei diesen Aktionen immer wieder auch Kinder getötet. Mehr als 1.400 Schulen sind dort schon zerstört worden, fast 2.300 Lehrerinnen und Lehrer sind dort ermordet worden. Ein Arbeitsfeld für UNICEF.

Nigeria

Eine Mutter mit ihren beiden Töchtern, die Grausames erlebt haben: Männer von Boko Haram haben ihr Dorf im Norden Nigerias überfallen und angefangen, alle Männer zu töten. Das Letzte, was sie von ihrer Heimat sahen, war ihr brennendes Haus.

© UNICEF/NYHQ2015-0474/Esiebo

In der Kasai-Region der sogenannten Demokratischen Republik Kongo ist ein Konfikt ausgebrochen, der 2,3 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in die Krise gestürzt hat. 400.000 sind vom Hungertod bedroht. Auch dort sind Schulen zerstört worden. Und auch dort werden Minderjährige als Kindersoldaten zwangsrekrutiert, irren Tausende unbegleitete Kinder umher. Ein Arbeitsfeld für UNICEF.

Kongo: Ein Kind wird auf Mangelernährung untersucht.

Gesundheitshelfer untersuchen die Kinder in der Kasai-Region auf Anzeichen von Mangelernährung. Momentan gehört die humanitäre Katastrophe im Kongo zu einer der am wenigsten beachteten Krisen weltweit.

© UNICEF/UN0157537/Tremeau

Ungezählte Notlagen im Verborgenen

Und hinter solchen Großkatastrophen, die oft spät, aber dann doch immerhin ins Licht der Öffentlichkeit geraten und dann wenigstens Thema von UNO und NGOs werden, gibt es diese ungezählten Notlagen von Jungen und Mädchen, die meist eher im Verborgenen bleiben.

Ich nenne Ihnen nur einmal zwei Beispiele, von denen wir nichts wüssten, wenn wir nicht durch den Wettbewerb "UNICEF-Foto des Jahres" auf sie gestoßen wären.

Wir wüssten nicht, dass Mädchen auf der Insel Sansibar, die zu 98 Prozent muslimisch ist, das Schwimmen verboten ist. Dazu muss man wissen, dass es auf keinem Kontinent mehr Todesopfer durch Ertrinken gibt als in Afrika. Immerhin: Eine kleine Initiative von tapferen Frauen und Mädchen beginnt nun, sich diesem Verbot zu widersetzen.

Sansibar: Vom Mädchenrecht, nicht unterzugehen
© Anna Boyiazis, USA (Freie Fotografin)

Und was wissen wir von der Praxis des „breast ironing“ in Kamerun? Das ist eine auf Dörfern noch weitverbreitete Praxis, bei der besorgte Mütter die wachsenden Brüste ihrer Töchter mit heißen Bandagen umwickeln, um, wie sie glauben, solchermaßen das Fett wegzuschmelzen und die Brüste klein zu halten. Sie tun das, weil sie nicht wollen, dass ihre Töchter allzu früh als geschlechtsreif gelten, womöglich zu Vergewaltigungsopfern werden. Nur: Abgesehen davon, dass diese Prozedur schmerzhaft ist, führt sie auch später zu heftigen Problemen beim Stillen, macht das Stillen oft unmöglich.

Zwei vergleichsweise kleine Themen sind das, natürlich, denken wir nur an die Hunderttausende Rohingya-Kinder in den Lagern am Golf von Bengalen, für die es, wie für ihre Eltern, vermutlich keine Rückkehrperspektive nach Myanmar geben wird. Weil ihre Dörfer in Myanmar, wenn sie nicht ohnehin schon während der Vertreibungsaktion niedergebrannt worden sind, nun restlos plattgemacht werden. Aber jenseits der Schlagzeilen gibt es eben immer noch so viele andere Elendsquellen und immer wieder auch neue – nur darauf will ich hinweisen.

Rohingya-Familie während ihrer Flucht aus Myanmar nach Bangladesch.

Rohingya-Familie während ihrer Flucht aus Myanmar nach Bangladesch.

© K.M. Asad, Bangladesch (Zuma Press)

Wie kann man Menschen bewegen?

Wie kommunizieren wir das alles? Und weshalb sind gerade Sie alle so wichtig in dieser Kommunikation?

Zunächst: Gerade UNICEF Deutschland ist – anders, als das für manch andere Länder gilt – immer eine Art Massenbewegung gewesen. UNICEF Deutschland: Das sind nicht bloß einige Superprofis in der Geschäftsstelle, die Großspender akquirieren. Und UNICEF Deutschland: Das sind nicht bloß ein paar Vorstandsmitglieder, die am Ende ihrer aktiven Berufszeit noch viel Gutes tun wollen. Ganz entscheidend lebt UNICEF Deutschland von seiner Verankerung in vielen Städten und Arbeitsgruppen. Sie, die Ehrenamtlichen, sind das Gesicht von UNICEF. Sie sind die street workers. Sie sind unsere Stimme vor Ort.

Gruppe ehrenamtlich engagierter UNICEF-Unterstützer
© UNICEF/DT2017-56364/Marcel Wogram

Und besonders Sie in den Hochschulgruppen sind dabei schon heute relevant und werden perspektivisch immer wichtiger. Was wiederum viele Gründe hat. Wir brauchen eine Generationendurchmischung, um jeder Gefahr zu begegnen, als Häkelkränzchen von Gutmenschen daherzukommen – was ich mit wirklich allem Respekt vor den Älteren sage (zu denen ich ja selber gehöre). Wir brauchen zur Erfahrung der langjährig Engagierten die gedankliche und kreative Frische von Ihnen! Wir brauchen die Überzeugungskraft, die Sie in Ihrer Generation haben können.

Und wir brauchen ganz besonders Ihre Bewegungskraft, Ihr Bewandertsein in den Social Media. Wir brauchen Sie als Influencer. Wir brauchen Ihre Sprache, Ihre Reaktionsgeschwindigkeit, Ihre Postings, Ihre Bewegbilder von Aktionen, Ihre Präsenz, Ihre Argumente, Ihre Emotion.

Freiburg: Am Weltkindertag hat die UNICEF-Arbeitsgruppe ein paar Aktionen vorbereitet.

Bild 1 von 5 | Am Weltkindertag findet im Freiburger Seeparkgelände ein Kinder- und Familienfest statt, bei dem die UNICEF-Arbeitsgruppe aus Freiburg vertreten ist und Mitmach-Aktionen anbietet.

© UNICEF/AG Freiburg/2017/Blencke-Illmann
Jena: Bei der Kinderuni hält die UNICEF-Arbeitsgruppe einen Vortrag.

Bild 2 von 5 | Bei der Kinderuni in Jena hält die lokale UNICEF-Hochschulgruppe einen Vortrag über die Arbeit von UNICEF vor Schülerinnen und Schülern.

© UNICEF/DT2018-59962/Uni Jena/C
Dein Pfand rettet Leben: Das Pfand wird aus den Tonnen genommen

Bild 3 von 5 | Für die Aktion "Dein Pfand rettet Leben" sammelt die Hochschulgruppe Ulm während eines Festivals leere Pfandflaschen und Dosen ein. Dabei kommen 3.900 Euro für UNICEF zusammen.

© UNICEF/DT2017-55759/Maurice Ressel
Freiburg: Bei der Begrüßung zum Hochschulgruppenworkshop wurden Polaroids an eine Karte gepinnt.

Bild 4 von 5 | Bei Hochschulgruppenworkshops treffen sich die engagierten Vertreter der Hochschulgruppen aus ganz Deutschland, um sich zu vernetzen, auszutauschen und gemeinsam neue Aktionen zu planen.

© UNICEF/DT2018-60267/Lisa Wegst
Freiburg: Die Studierenden freuen sich auf das Hochschulgruppenworkshop.

Bild 5 von 5 | Hoch motivierte Studenten haben sich bundesweit in Hochschulgruppen organisiert. Für die ehrenamtliche Arbeit spielen sie eine wichtige Rolle. Vielen Dank an alle, die sich für Kinder weltweit einsetzen!

© UNICEF/DT2018-60261/Lisa Wegst


Anfassbarer werden und Empathie wecken

Emotion: Auch sie wird wichtiger. Selbstverständlich müssen wir vernunftbegabt handeln. Zugleich aber sollten wir, glaube ich, noch „anfassbarer“ werden. Wir müssen aufpassen, dass UNICEF nicht als irgendwie halbstaatlicher Apparat wahrgenommen wird. Denn solchen Apparaten, also „denen da oben“, begegnet ja immer mehr Misstrauen. Prominente helfen uns mit ihrer Bekanntheit. Aber unsere Glaubwürdigkeit kommt ganz besonders auch von den „no names“, zum Beispiel den Helfern in den Krisengebieten, den hidden heroes, von denen gerade UNICEF so viele hat.

Und auch die Kommunikation ist ja längst keine Komfortzone mehr: Wir begegnen, wenn wir uns für die Rechte von geflüchteten Kindern stark machen, mitunter schon offener Aggression. Das kann uns betrüben, sollte aber nicht zur Verzagtheit führen. Denn wir wissen ja glücklicherweise: Es gibt auch die ganz anderen Menschen. Menschen, die zu Empathie fähig sind. Menschen, die teilen möchten. Wir müssen sie nur finden, mit Informationen und, ja auch, mit Ermunterung versorgen, sie einbinden, sie auf unsere Seite ziehen, sie aktivieren und ihre Hilfe möglichst verstetigen.

Und Sie als aktive Mitglieder der UNICEF-Hochschulgruppen spielen eine gute Rolle dabei. Sie werden gebraucht bei der Kampagne #kindheitbrauchtfrieden. Das ist eine sehr umfassende Kampagne, die Schutz und Bildungschancen für Kinder sowohl in Krisenzonen wie auch auf der Flucht umfasst, also auch an der Endstation Sehnsucht bei uns.

Wahrscheinlich muss ich Ihnen nicht sagen, dass ungemein viel auf dem Spiel steht. Und wie sehr wir angewiesen sind auf Ihre Mitarbeit. Ich möchte nur betonen: Dass es Sie gibt, macht uns Mut! Es freut uns. Es gibt uns die Gewissheit, dass wir einzeln zwar irgendwann rein biologisch zu den Auslaufmodellen gehören werden, nicht aber die Idee, das Anliegen und der Erfolg von UNICEF damit am Ende sein werden.

Und das ist gut so. Auch für Husam, von dem ich Ihnen am Anfang erzählte. Husam weiß gar nichts von Ihnen. Aber er wird Sie brauchen. Und wenn nicht er, dann Millionen seiner Schwestern und Brüder."

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Autor*in Peter-Matthias Gaede

Peter-Matthias Gaede, langjähriger Chefredakteur des Magazins GEO, ist ehrenamtliches Mitglied im UNICEF-Vorstand.