Krieg, Gewalt, Flucht: Fünf Jugendliche aus der Ukraine berichten
Dort wo Bomben fallen, hört Kindheit auf. Das machen die Schicksale von fünf Jugendlichen aus der Ukraine deutlich. Sie alle haben die Gewalt des Krieges hautnah erlebt, haben Zufluchtsorte verloren. Im Blog erzählen sie uns ihre Geschichten.
Der Krieg in der Ukraine hält an, nun schon seit fast sechs Monaten. Für die Kinder und Jugendlichen bedeutet dies: Ausnahmezustand. Wohngebiete, Schulen und Krankenhäuser geraten immer wieder unter Beschuss und die Mädchen und Jungen sind gezwungen, in Kellern, unterirdischen Bunkern und U-Bahn-Stationen Schutz zu suchen. Die Kämpfe haben die Lebensgrundlagen vieler Familien komplett zerstört. An vielen Orten fehlt es an Lebensmitteln, Trinkwasser und Möglichkeiten, sich zu waschen. Immer wieder werden auch Kinder verwundet oder getötet und sind durch die Gewalt um sie herum traumatisiert.
Viele Familien sehen keine andere Möglichkeit, als ihre Heimat zu verlassen und vor der Gewalt zu fliehen – entweder innerhalb der Ukraine oder in die Nachbarländer. Beinahe zwei Drittel aller ukrainischen Kinder mussten bereits ihr Zuhause verlassen, haben Freund*innen und persönliche Dinge zurückgelassen, sich schweren Herzens von Familienangehörigen und Haustieren verabschiedet.
Jugendliche aus der Ukraine erzählen uns von ihrer Flucht
Fünf Jugendliche berichten in unserem Blog, was sie im Krieg und bei ihrer Flucht erlebt haben. Die Geschichten der Mädchen und Jungen zeigen gut, welche extreme Belastung, Angst und Verzweiflung der Krieg in der Ukraine für sie bedeutet. Aber auch, wie sie trotz allem hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.
Viktoria (17): „Die Spuren unseres Lebens sind verwischt“
Als die 17-jährige Viktoria mit ihrer Familie aus ihrem Haus in Rubizhne floh, blieb ihr gerade noch genug Zeit, um das Nötigste mitzunehmen. Ihren liebsten Besitz musste sie aber zurücklassen: einen Teddybären, der sie seit ihrem vierten Geburtstag begleitet hat. Als die Familie 2014 bereits zum ersten Mal ihre Heimat verlassen musste, um vor dem Krieg in Luhansk zu fliehen, war es genau dieser Teddy, der Viktoria das Gefühl von Sicherheit gab. Nun muss sie ohne ihn auskommen. Obwohl Viktoria und ihre Familie inzwischen in Lemberg in Sicherheit sind, sehnt sie sich nach ihrem Teddy und dem Gefühl von Zuhause.
Oft denkt sie zurück an ihre Wohnung in Rubizhne, in der sie auch ihre Katze lassen musste: „Die Wohnung steht nun ganz still, die Spuren unseres Lebens dort sind verwischt."
Eigentlich hatte Viktoria für dieses Jahr ganz große Pläne: An der Universität wollte sie anfangen, Tiermedizin zu studieren. Eine Probeprüfung hatte sie bereits mit Bestnote bestanden. Doch jetzt mit der Eskalation des Krieges liegen alle Pläne in Scherben. Trotzdem träumt sie von der Zukunft. Eines Tages, sagt sie, möchte sie ein Tierheim eröffnen, in dem "alle Tiere so glücklich sein werden, wie meine Katze es bei mir war".
Serhii (18): „Mein Instrument musste ich zuerst retten“
In Serhiis Notfalltasche befinden sich drei Dinge: die Kleidung, die er bei der Flucht trug, seine Dokumente und sein Saxophon. Als Serhii am Morgen des 24. Februars vom Lärm der Explosionen geweckt wurde, war sein Saxophon das Erste, woran er dachte. Der 18-jährige Student der Kunsthochschule aus Mariupol liebt sein Instrument so sehr, dass er sich direkt auf den Weg machte, um es in Sicherheit zu bringen. "Es ist mein Instrument, ich musste es zuerst retten", sagt er.
Das Gebäude, in dem Serhii mit seiner Familie lebte, brannte bis auf die Grundmauern nieder. Daher zogen er und seine Eltern zu seiner Großmutter. Es gab kaum Strom, Wasser oder Gas. Jeden Tag gingen sie hinaus zum Holzsammeln, um Essen zu kochen und zu versuchen, sich warm zu halten. Im März beschloss die Familie, über einen humanitären Korridor von Mariupol im Osten des Landes in die westukrainische Stadt Chust zu fliehen. Doch der Weg nach Chust war dramatisch. Irgendwann ging ihnen der Treibstoff aus und sie gerieten unter Beschuss. Als die Familie Chust schließlich erreichte, war Serhii endlich in Sicherheit.
Vor dem Krieg liebte der 18-Jährige es, mit seinem Saxophon Jazzmelodien zu spielen. Doch seit der Eskalation der Gewalt im Februar hat er kaum noch Musik gemacht. Nun hofft er, möglichst bald etwas von seinen Hochschullehrer*innen zu hören und zurück zur Musik zu finden.
Sasha (21): „Wir fuhren direkt in die Flammen“
Als die 21-jährige Sasha und ihr 14-jähriger Bruder Ivan am Morgen des Kriegsausbruchs durch die Explosionsgeräusche geweckt wurden, war der erste Gedanke der Familie, sofort zu fliehen. Der intensive Beschuss machte es aber unmöglich für die Familie, ihr Zuhause in Brovary, einer Stadt nahe Kiew, zu verlassen. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass dieser Umstand ihr Leben gerettet hat: Denn die Wohnung, in die sie fliehen wollten, wurde durch eine Rakete getroffen und zerstört.
Wenige Tage später entkamen Sasha und ihre Familie erneut nur knapp einer Katastrophe: Mit ihrem Vater fuhr Sasha nach Kiew, um die zurückgelassene Katze eines Freundes zu retten. Auf der Heimfahrt wurde plötzlich alles von einem hellen, orangefarbenen Licht überstrahlt, und eine Explosion schleuderte das Auto über zwei Fahrspuren. Sie überlebten nur, weil es Sashas Vater gelang, das Lenkrad festzuhalten und intuitiv die richtige Entscheidung zu treffen: "Die Straße vor uns stand in Flammen", erzählt Sasha. "Aber wir sind direkt in die Flammen hineingefahren, denn es wäre noch schlimmer gewesen anzuhalten.“ Erschüttert fuhren sie nach Hause, vorbei an brennenden Autos, während Betonblöcke und Trümmer ihre Windschutzscheibe trafen.
Um das Erlebte zu verarbeiten, plant Sasha, aus den Bruchstücken der Rakete, die die Wohnung zerstört hat, Accessoires herzustellen. So hat sie etwas, das die daran erinnert, welcher Zufall ihr und ihrer Familie das Leben gerettet hat.
Dascha (16): „Ich war dankbar, dass wir am Leben waren“
Am 24. Februar wurde die 16-jährige Dascha aus Kiew durch das Heulen der Sirenen und die Schreie ihrer kleinen Schwester geweckt. Ihre Eltern gerieten in Panik - so hatte Dascha sie noch nie gesehen. Am nächsten Tag flohen sie zusammen mit anderen Familien in ihr Sommerhaus außerhalb der Stadt, um sich vor den Angriffen zu schützen. Dascha verlor in den folgenden Wochen an Gewicht, denn es gab nur wenig zu essen und sie wollte den anderen nichts wegnehmen.
Als die Kämpfe immer näher kamen, mussten die Familien erneut fliehen. Dabei waren sie gezwungen, einen ihrer Familienhunde zurückzulassen. Er war krank und hätte die schwierige Reise nicht überstanden. Da Daschas Familie kaum noch Geld zur Verfügung hatte, kamen sie erstmal in einem Wohnheim unter. „Es war ekelhaft“, erinnert sich Dascha. „Ein Loch im Boden als Toilette, keine Türen, keine Privatsphäre. Aber ich war dankbar, dass wir am Leben waren.“
Nachdem Dascha in den ersten Wochen kaum vor die Tür ging und oft sehr traurig war, gibt es nun einen kleinen Lichtblick: Über eine App hat sie Masha kennenglernt und in ihr eine Freundin gefunden. „Sie hat mir bei unserem ersten Treffen Blumen mitgebracht", freut sich Dascha. Ihr einziger Wunsch bleibt es jedoch, nach Hause zurückzukehren.
Vsevolod (17): „Es könnte schmerzhaft sein zurückzukehren“
Vsevolod ist 17 Jahre alt und ist in Luhansk und Donezk aufgewachsen. In seinem kurzen Leben musste er bereits zweimal vor dem Krieg fliehen und ist immer wieder umgezogen. Als Pfadfinder ist er es zwar gewohnt, sein Hab und Gut schnell zusammenzupacken, doch er wünscht sich, endlich anzukommen und erstmal an einem Ort zu bleiben. Denn jeder Abschied hat etwas Schmerzliches: "Wir können nicht alles mitnehmen", sagt Vsevolod. "Was wir zurücklassen, bleibt zurück." Zu seinem Großvater in Luhansk verlor er 2014 jeden Kontakt, als sie dringend evakuiert werden mussten.
Vsevolod war seitdem nicht mehr in Luhansk oder Donezk. Er vermisst die beiden Städte und hofft, nach dem Krieg zurückkehren zu können. Sie sind die Orte, an denen er aufgewachsen ist und Freunde gefunden hat. "Aber ich verstehe, dass dort jetzt Menschen mit einer anderen Weltanschauung und Einstellung leben", sagt er. "Zurückzugehen könnte schmerzhaft sein."
Vsevolod studiert derzeit an der Ukrainischen Führungsakademie. Er hofft, dass er eines Tages eine bessere Zukunft für sein Land aufbauen kann.
UNICEF hilft Kindern in der Ukraine und den Nachbarländern
Seit der Krieg im Februar eskaliert ist, brauchen Millionen ukrainische Kinder und Jugendliche unsere Hilfe. UNICEF ist schon seit 25 Jahren in der Ukraine für Kinder im Einsatz. Nach dem Ausbruch des Kriegs haben unsere Mitarbeiter*innen ihre Hilfe stark ausgebaut.
UNICEF ist in der Ukraine und in den Nachbarländern auf vielen Ebenen aktiv: So können wir dank der Spenden aus Deutschland Kinder und Familien mit humanitären Hilfsgütern versorgen, ihnen den Zugang zu Trinkwasser ermöglichen und in Schutzzentren an den Grenzübergängen sichere Orte zur Verfügung stellen und sie psychosozial begleiten.
Danke an jede*n von Ihnen, der unsere Arbeit für die Kinder aus der Ukraine unterstützt!
Als Nothilfe-Pate Ukraine langfristig helfen
Die Kinder aus der Ukraine brauchen langfristige Hilfe. Bleiben Sie als UNICEF Nothilfe-Patin / -Pate an ihrer Seite und helfen Sie u.a., traumatisierte Kinder zu betreuen und die Grundversorgung mit Medikamenten und Trinkwasser in der Ukraine zu sichern. Vielen Dank!
Gleichzeitig bleiben Sie flexibel: Sie können Ihr Engagement jederzeit beenden.
Sie möchten mehr UNICEF-Blogs zur Ukraine lesen? In unseren Blogbeiträgen zur Ukraine schildern wir die aktuelle Situation der Kinder, geben Tipps, wie man mit Kindern über den Krieg sprechen kann, und erklären Ihnen, wie sich der Konflikt über die Jahre entwickelt hat.