Ein Monat im Untergrund
Spielen, lernen, leben in der U-Bahn: Wie freiwillige Helfer*innen Kinder unterstützen, die in der ukrainischen Stadt Charkiw unter der Erde Zuflucht vor dem Krieg suchen.
Liudmyla Voloshenko, 41, kämmt die Haare ihrer zehnjährigen Tochter Sonia in einem der Waggons, die in den U-Bahn-Stationen von Charkiw das Zuhause für Tausende Menschen geworden sind.
"Heute sind meine Mutter und ich nach Hause gegangen, um uns die Haare zu waschen und einige Dinge zu holen", erzählt Sonia und lehnt sich zurück in die Arme ihrer Mutter. "Das war beängstigend."
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar sind die U-Bahn-Stationen in Charkiw zu einem der sicheren Orte für Tausende von Menschen geworden, die vor den Kämpfen in den Straßen ihrer Stadt Zuflucht suchen.
Spielen, lernen, leben in der U-Bahn
Überall in der Ukraine zahlen Kinder wie Sonia täglich den hohen Preis für den Krieg – mit ihrer Gesundheit, ihrer Sicherheit, ihrer Bildung. "Es ist sehr hart für uns, mit unseren Kindern hier unten auszuharren", erzählt Lidumyla. "Sie wollen rausgehen, Roller oder Fahrrad fahren. Sie wollen in die Schule gehen und ihre Freunde treffen."
Wegen des Krieges gehen die Kinder in Charkiw nicht zur Schule. Stattdessen haben von UNICEF unterstützte freiwillige Helfer*innen Kinderbereiche in den U-Bahnhöfen eingerichtet, wo Lehrkräfte und Psycholog*innen täglich mit den Kindern zusammenkommen.
Yuliia Kruhla, 41, ist eine der Freiwilligen. Vor dem Krieg war sie von Beruf Floristin und davor hat sie zehn Jahre lang als Lehrerin gearbeitet.
"Durch den Stress schlafen die Kinder schlecht, manche sind aggressiv und haben zum Teil psychische Störungen", berichtet Yuliia. "Um ihren Gefühlszustand ein wenig zu verbessern, machen wir ein paar Sport- und Atemübungen. Wir lenken sie so vom Krieg ab."
Ein Theaterstück, das sie mit den Kindern in den letzten Tagen eingeübt hat, wird endlich aufgeführt. "In dem Stück geht es um zwei Planeten – einen guten und einen bösen", erklärt Sonia, die hier unten zur Regisseurin und Drehbuchautorin geworden ist. "Und der böse Planet greift den guten Planeten an."
UNICEF hilft den Kindern, die in der U-Bahn ausharren
UNICEF hat die Freiwilligen mit Material ausgestattet, unter anderem mit Heften, Schreibwaren, Ton und Farben.
"Es leben derzeit ungefähr 1.500 Kinder in 29 U-Bahnhöfen – von Kleinkindern bis zu 15-jährigen Jugendlichen", berichtet Maryna Ladyzhenska, 48. Sie koordiniert die Aktivitäten für die Kinder in den U-Bahnhöfen. "UNICEF hat das Geld bereitgestellt, um die Spielbereiche für die Kinder auszustatten und Schreibwaren und Spielzeug zu besorgen."
Maryna erzählt, dass einige Kinder die U-Bahnhöfe seit Wochen nicht verlassen haben. Viele haben Angst rauszugehen. "Das Hauptproblem ist der Mangel an sozialen Kontakten und die fehlende Schule", sagt Maryna.
Vadym, 14, erzählt, dass seine Schule von einer Granate getroffen wurde, die alle Fenster zerstörte. Jetzt lebt er mit seiner Mutter in einem U-Bahnhof. "Manchmal ist es kalt hier", sagt er traurig. "Aber insgesamt ist es mehr oder weniger ok."
"Der Unterricht hier ist nicht so wie in der Schule mit 30 Kindern in einer Klasse – damals gab es immer Kinder, die dem Unterricht folgen konnten und andere, die nicht mitkamen. Hier wird uns alles persönlich erklärt und man hat keine Angst, Fragen zu stellen."
Lehrkräfte, Psycholog*innen und Sport- und Tanzlehrer*innen – sie alle bringen ihre persönlichen Erfahrungen mit und teilen diese mit den Kindern.
"All diese Menschen waren schon vorher im formellen oder informellen Bildungssektor tätig – und nun arbeiten sie hier als Freiwillige mit Kindern und Jugendlichen", erzählt Maryna stolz.
Für Kinder wie Sonia machen diese Unterrichtsstunden einen enormen Unterschied. Aber das Wichtigste, was sie verloren haben, können sie natürlich nicht ersetzen – ihr Zuhause.
"Wir haben nun zwei Stunden am Tag – Mathe oder Ukrainisch und Musik", berichtet Sonia. "Ich habe hier viele Freunde gefunden. Aber ich träume davon, dass ich zurück nach Hause gehe und alles wieder in Ordnung ist."
Der Krieg hat verheerende Auswirkungen auf Millionen Menschen in der Ukraine. Insbesondere Kinder und ohnehin schon benachteiligte Gruppen leiden darunter am meisten. Bisher mussten 4,3 Millionen Kinder ihr Zuhause verlassen und Millionen benötigen dringend Sicherheit und Schutz.
Während die Angriffe zunehmen und die Situation sich zuspitzt, stärkt UNICEF die Zivilgesellschaft und Jugendorganisationen vor Ort, um die seelische Situation der Kinder zu verbessern, die vom Krieg betroffen sind.
Bisher haben 4.500 Kinder und Jugendliche an den Aktivitäten in den U-Bahnhöfen von Charkiw teilgenommen. Gemeinsam mit Partnerorganisationen plant UNICEF rund 500 Freiwillige, Erzieher*innen und Psycholog*innen einzustellen, die die Kinder und Jugendlichen auf der Flucht unterstützen.
"Unser Ziel ist es, nicht nur die Grundbedürfnisse wie Wasser, Nahrung und Sanitäranlagen zu stillen, sondern den Kindern Bildungsmöglichkeiten und psychosoziale Unterstützung zu ermöglichen", sagt die UNICEF-Mitarbeiterin Liliya Lyubomudrova. "Es ist besonders für die Kinder und Jugendlichen enorm wichtig, Strategien zu entwickeln, mit den traumatischen Erfahrungen umzugehen. Dies ist ein Marathon und Resilienz ist der Schlüssel zum Überleben während und nach dem Krieg."
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Sie möchten mehr UNICEF-Blogs zur Ukraine lesen? In unseren Blogbeiträgen zur Ukraine schildern wir die aktuelle Situation der Kinder, geben Tipps, wie man mit Kindern über den Krieg sprechen kann, und erklären Ihnen, wie sich der Konflikt über die Jahre entwickelt hat.