Fotoreportagen

Wenn Gewalt zum Alltag wird


von Christian Schneider

Kinderleben in Krisengebieten

Da bin ich mir sehr sicher: Wenn ich zehn Eltern fragen würde, was sie ihren Kindern um alles in der Welt gern ersparen würden, dann wäre die Antwort zehn Mal ein einziges Wort – Krieg. Wir können uns nichts Schlimmeres vorstellen als das Grauen gnadenloser Gewalt, die Angst durchzitterter Bombennächte, den Horror brutaler Vertreibung und monatelanger Flucht, den Verlust der Familie.

Flüchtlingskind in Palästina

Ein Flüchtlingsjunge in den besetzten palästinensischen Gebieten auf der Suche nach Schutz.

© UNICEF/NYHQ2014-0974/El Baba

Wahrscheinlich war diese Not für uns lange nicht mehr so greifbar wie zum Ende des vergangenen Jahres. Eines Jahres, das für unsere Welt – und auch für unsere Arbeit bei UNICEF - eines der düsteren Rekorde war: Nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg gab es so viele Flüchtlinge, und unter ihnen so viele Kinder. Nie zuvor mussten wir in gleichzeitig so vielen Krisengebieten dringend so große Mengen Hilfsgüter bereitstellen. Nie zuvor seit vielen Jahrzehnten waren Kinder einem solch unvorstellbaren Ausmaß direkter, rücksichtsloser Gewalt ausgesetzt wie in Syrien, Pakistan, Nigeria, dem Südsudan, Zentralafrika, der Ukraine und vielen anderen von Konflikt betroffenen Ländern der Erde – unser Video zeigt einen kleinen Ausschnitt der vielen humanitären Einsätze in dieser Zeit.

Humanitäre Hilfe für jedes Kind

So oft mussten wir also „Nie zuvor“ sagen, und kein einziges Mal „Nie wieder“ – denn fast alle der gegenwärtigen humanitären Krisen sind von einer so komplexen, langfristigen Art, dass sie auch 2015 eher mehr als weniger Kinder in ihren Strudel aus Angst, Not, Gewalt und sogar Tod ziehen werden.

Neue Generation komplexer Krisen

Wenn UNICEF heute seinen Aufruf für die humanitäre Hilfe 2015 vorlegt, dann sprechen unsere UNICEF-Kollegen von einer „neuen Generation humanitärer Krisen“. Es sind die bewaffneten Konflikte, die Familien in den genannten und vielen weiteren Ländern oft über Jahre oder Jahrzehnte die Luft zum (Über-)leben abschnüren. Es sind beispiellose Epidemien wie die Ebolakrise, die eine ganze Region im Griff hält. Und es sind große Naturkatastrophen, deren Zahl auch unter dem Einfluss des Klimawandels weiter zunimmt.

Es ist sicher nicht zu viel gesagt, wenn wir von den dort lebenden oder besser: überlebenden Kindern auch von einer „Generation“ der Kriegs- und Krisenkinder sprechen. Mindestens eines von zehn Kindern der Welt ist buchstäblich „betroffen“, weil es in einem Land oder einer Region zu Hause ist, die von Krieg und Gewalt beherrscht wird. Eins von zehn Kindern, das sind unvorstellbare zweihundertdreißig Millionen einzelne Jungen und Mädchen, fast dreimal so viele wie die gesamte Bevölkerung Deutschlands.

Weder die Seele noch der Körper eines einzigen Kindes ist darauf gefasst, Schüsse, Folterungen, Bomben zu überstehen, die Entbehrungen langer Monate ohne ausreichende Nahrung und sauberes Wasser. Wir beginnen erst zu verstehen, wie verheerend die Auswirkungen dieser Gewalt und dieser Not hinsichtlich nicht nur ihrer akuten Situation, sondern auch ihrer langfristigen Entwicklung sind.

Hilfe für Millionen EINZELNE Kinder

Flüchtlingskind Syrien

Dieses syrische Flüchtlingsmädchen hat mit ihrer Familie Zuflucht im Libanon gefunden.

© UNICEF/NYHQ2014-0295/Haidar

Wenn UNICEF also am heutigen Tag die Weltgemeinschaft um mehr Geld bittet als jemals zuvor in sieben Jahrzehnten humanitärer Arbeit, dann ist jeder einzelne Dollar von insgesamt über drei Milliarden gedacht, um einem einzelnen Kind zu helfen. Wir haben das Ziel (und die Verantwortung), in den kommenden Monaten mehr als 2,7 Millionen EINZELNE schwer mangelernährte Kinder zu versorgen und damit vielen das Leben zu retten. Fast 14 Millionen EINZELNE Kinder in Krisengebieten müssen dringend gegen Masern geimpft werden. Über zwei Millionen möchten wir mit psychosozialer Hilfe erreichen, also Spiel- und Betreuungsangeboten in Flüchtlingslagern, Notunterkünften – wo immer die Kinder gestrandet sind.

Jedes Kind hat eine Chance – verdient

Von Afghanistan bis Zentralafrika – diese Hilfe für diese Kinder ist möglich. Unsere UNICEF-Teams in allen Krisengebieten der Erde, unsere Partnerorganisationen sind angesichts der Anforderungen angespannt, manchmal ausgelaugt und überanstrengt, aber auch immer motiviert, morgen weiterzumachen, um die Kinder zu erreichen. Denn wir dürfen folgendes nicht vergessen:

  • Jedem dieser Kinder werden die grundlegenden Elemente einer Kindheit vorenthalten. Ihnen fehlen nicht nur medizinische Versorgung, sichere Unterkünfte, Bildung, Schutz. Sie laufen Gefahr, Gewalt als „normales“ Element ihres jungen Lebens wahrzunehmen und das Trauma als Dauerzustand zu erleben.
  • Auch wenn viele Kinder nur mit schweren körperlichen Verletzungen und tiefen seelischen Wunden den Krieg überstehen: Jedes dieser Kinder hat, wenn es Hilfe und Unterstützung erfährt, die Chance und auch das Recht, aufzuwachsen und sich nach seinen Möglichkeiten zu entwickeln.
  • Jeder Dollar oder Euro für die Kinder in den Konfliktregionen ist viel mehr als akute humanitäre Hilfe und damit Pflichtprogramm der Humanität. Jeder Beitrag für diese Kinder macht sie auch ein wenig stärker für weitere Krisensituationen, macht sie stärker, um an der Zukunft ihrer Gesellschaft mitzuarbeiten - sei es in ihrer befriedeten Heimat oder in einem Land, das ihnen Schutz auf der Flucht gewährt.

Sie müssen nicht Vater oder Mutter sein, um die Not dieser Kinder nachzuempfinden. Mensch sein, das reicht aus. Denn für jedes einzelne Kind haben wir alle, jede und jeder für sich, die Verantwortung mitzuhelfen, dass sie nicht zu Jungen und Mädchen einer verlorenen Generation werden.

Weitere Informationen, wie UNICEF Kindern in Krisengebieten hilft, finden Sie auf der UNICEF-Themenseite Nothilfe.

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.