Der Horror von Peshawar
132 Kinder werden nie wieder nach Hause kommen
Am Mittwochmittag brach die Horrormeldung über uns herein: 132 Kinder und mehrere Lehrer wurden brutal und gezielt von den Taliban in einer Schule in Peshawar ermordet.
Nach langen Krisensitzungen begebe ich mich spät am Abend auf den Weg nach Hause. Wegen der Terrorgefahr liegt unser Büro in einer Hochsicherheits-Enklave in Islamabad. Eigentlich muss ich ohnehin jeden Abend mehrere Polizeisperren durchfahren. Heute aber liegt eine gespenstische Atmosphäre über der Stadt. Es ist sehr ruhig und es sind kaum andere Menschen unterwegs. Ich blicke in die Läufe von vielen Maschinengewehren. Mein Auto wird mehrmals nach Sprengstoff untersucht. Schwerbewaffnete Anti-Terroreinheiten kontrollieren mich an jeder Straßenecke, ihre blau-roten Lichter blitzen durch die neblige Nacht.
132 Kinder wurden erschossen!? Ich fahre weiter und denke darüber nach, was hinter dieser irrwitzigen Zahl steckt. Wer Eltern kennt, die ein Kind verloren haben, kann erahnen, was für ein Leid sich jetzt hinter jedem einzelnen Ermordeten entfalten wird. 132 Mütter und Väter, die heute Morgen ihren Sohn oder ihre Tochter auf den Schulweg geschickt haben, warten heute Abend vergeblich auf die Rückkehr ihres geliebten Kindes. 132 Stühle bleiben leer am Esstisch, 132 Kinderzimmer bleiben verwaist und still. Ganze Familien müssen ihre Träume und Zukunftspläne begraben. Dazu die Gewissheit, dass die Kleinen in Todesangst schwebten, bevor sie von den Terroristen ermordet wurden. So etwas kann man fast nicht ertragen.
Die Geschäfte sind zu, Trauer und Verzweiflung groß, dazwischen unfassbar viele Kindersärge
Am nächsten Morgen bleibt es ungewöhnlich ruhig. Alles ist geschlossen. Die Regierung hat drei Tage offizieller Trauer verhängt. Aber dies hier ist keine offizielle Trauer, dies ist ehrliche, greifbare, allgegenwärtige Trauer und Verzweiflung. An verschiedenen Orten in der Stadt werden regelrechte Haufen von Blumen abgelegt, wildfremde Menschen versammeln sich, um Kerzen anzuzünden und der Verstorbenen zu gedenken.
Ich komme ins Büro und blicke in die Gesichter der am Boden zerstörten Kollegen. Den meisten geht es so wie mir: Sie haben kaum schlafen können. Es wird viel geweint als wir gemeinsam den Fernseher anschalten. Dem muslimischen Ritus folgend finden bereits die ersten Bestattungen statt. Kindersärge werden durch die Straßen von Peshawar getragen, unfassbar viele Kindersärge; Mütter und Väter brechen in ihrem seelischen Schmerz zusammen. Allen ist klar: Dies hier ist kein ‚gewöhnlicher‘ Terroranschalg, dies hier ist ein Angriff auf die Menschlichkeit.
Das Telefon steht nicht mehr still
Unsere Kollegen in der Zentrale in New York, in den Büros in Genf, Katmandu, Tokyo und Köln müssen über die schrecklichen Ereignisse informiert werden, um mit uns zu überlegen, was man nun am besten für die Kinder in Pakistan tun kann. Dann ein besonderer Anruf, ein Kollege aus Peshawar mit dem ‚Headcount‘: alle UNICEF Mitarbeiter sind in Sicherheit. Zunächst bin ich erleichtert, doch dann kommt die schlimme Meldung: Eine der ermordeten Lehrerinnen und ein Schüler sind Kinder von engen Mitarbeitern unserer lokalen Partnerorganisation im Polioprogramm. Viele Kollegen kennen die Familien gut. Die Bestürzung ist groß.
Leere und Trauer, doch wir geben nie auf, für Bildung und Gewaltfreiheit zu kämpfen
In einem solchen Moment dominiert natürlich auch bei uns Mitarbeitern das Gefühl der Leere, der Trauer, der Machtlosigkeit, ja und auch der Wut. Aber sobald wir wieder einen klaren Kopf haben, möchten wir dieses schreckliche Ereignis auch als eine Chance begreifen, um dauerhaft etwas für die Durchsetzung von Kinderrechten in Pakistan zu tun - insbesondere für das Recht auf Schutz vor körperlicher und physischer Gewalt, für das Recht auf Bildung. Das schulden wir einfach den jungen, unschuldigen Opfern dieses Attentats.
Seit langem wissen wir, dass es in Pakistan Gruppen gibt, die gegen Schulbildung, insbesondere die von Mädchen kämpfen. Wir alle kennen die Geschichte der jungen Nobelpreisträgerin Malala aus dem pakistanischen Swat Tal, die von einem Talibankämpfer in den Kopf geschossen wurde, nur weil sie zur Schule gehen wollte. Wir lassen uns von dieser Barbarei aber nicht entmutigen und setzen uns im Gegenteil deshalb gerade dafür ein, dass auch die 25 Millionen Kinder zwischen fünf und 16 Jahren, die zur Zeit in Pakistan nicht zur Schule gehen, ihr Recht auf Bildung verwirklichen können. Wir wissen, dass die meisten dieser Kinder aus der ärmsten Schicht der pakistanischen Gesellschaft kommen, und dass überproportional viele Mädchen betroffen sind. Bei unserer Bildungsarbeit ist es uns daher besonders wichtig, dass gerade Mädchen und diejenigen Kinder in Pakistan, die sozial unterpriveligiert sind, gefördert werden. Besonders stark benachteiligt sind diejenigen Kinder, die durch bewaffnete Konflikte vertrieben worden sind.
Wir brauchen Ihre Hilfe, um diese Kinder in Notschulen weiter zu unterrichten, und um sie psycho-sozial zu betreuen. Bitte werden Sie ein Teil und spenden Sie jetzt! Vielen Dank.