"Wo Kinder wieder Kinder sein können"
Gregor von Medeazza koordiniert für UNICEF in der Republik Moldau die Nothilfe für Flüchtlinge aus der Ukraine. Hier erzählt er von seiner Arbeit – und von den ergreifenden Momenten, wenn Kinder wieder in Sicherheit sind.
UNICEF-Mitarbeiter Gregor von Medeazza über die Nothilfe für Ukraine-Geflüchtete in Moldau
Normalerweise arbeite ich in Namibia als stellvertretender UNICEF-Länderdirektor. Gerade bin ich aber als Teil des internationalen Nothilfeteams in der Republik Moldau eingesetzt mit der Aufgabe, die Nothilfe für die ukrainischen Flüchtlinge zu koordinieren. Das ist eine der großen Stärken von UNICEF: dass wir in so einer akuten Notsituation sehr schnell Expert*innen aus aller Welt einfliegen können, um unsere Länderbüros und somit Kinder weltweit zu unterstützen.
UNICEF hat bereits seit über 25 Jahren ein Büro in Moldau. Wir mussten also bei Kriegsausbruch nicht von ganz vorne beginnen, sondern konnten hier auf ein großes Netzwerk aus Partnerorganisationen, Kommunen und Regierungskontakten zurückgreifen, mit denen wir nun innerhalb der letzten Wochen die Hilfe für die geflüchteten Menschen aufgebaut haben.
Zwei Phasen der Flüchtlingssituation
Ich würde unsere Arbeit beziehungsweise die Flüchtlingssituation in der Republik Moldau in zwei Phasen einteilen. In den ersten Tagen des Krieges war die Zahl der Flüchtlinge sehr hoch, teilweise kamen 30.000 Menschen pro Tag ins Land. Da ging es zunächst darum, ganz schnell erste Versorgungsstrukturen aufzubauen. Bereits am zweites Tag des Krieges sind meine Kolleg*innen von UNICEF Moldau direkt an die Grenze gefahren, um die ersten Hilfsgüter zu verteilen, zu erfahren was die Flüchtlinge jetzt genau benötigen und direkt mit dem Aufbau der "Blue Dot"-Anlaufstellen zu beginnen.
Ich kam rund drei Wochen später ins Land, da hatte die Zahl der täglichen Grenzübertritte bereits ein wenig abgenommen – aber war mit rund 5.000 Flüchtlingen täglich immer noch sehr hoch, vor allem wenn man betrachtet, dass die Republik Moldau ein sehr kleines Land mit rund 2,5 Millionen Einwohner*innen ist. Und jetzt, Anfang April, kommen noch rund 1.000 Flüchtlinge täglich ins Land. Je länger der Krieg dauert, desto drastischer werden auch die Folgen für die Menschen in der Ukraine sein. Viele derjenigen Flüchtlinge, die erst sehr spät ihr Land verlassen, haben entweder kein Geld für eine Flucht oder keine Möglichkeit zu fliehen, weil sie vielleicht in einem stark umkämpften Gebiet wohnen.
Vorbereiten auf Flüchtlinge aus Odessa und Mariupol
Aktuell sind wir in der zweiten Phase. Jetzt geht es darum, unsere Hilfe für die Flüchtlinge im Land auszubauen, die Versorgungsstrukturen und Dienstleistungen zu stärken und uns vorzubereiten auf eine mögliche zweite hohe Flüchtlingswelle. Das heißt, wir müssen uns eigentlich immer für das schlimmste Szenario wappnen, wie beispielsweise einen weiteren großen Angriff auf die ukrainische Großstadt Odessa. Von dem Grenzübergang Palanca im Süden von Moldau liegt Odessa nur rund 60 Kilometer entfernt, hier könnten innerhalb weniger Stunden Zehntausende Flüchtlinge ankommen. Auch die Stadt Mariupol, in der die humanitäre Lage katastrophal ist, liegt nicht weit entfernt. Wir bereiten uns darauf vor, dass evakuierte Menschen aus der belagerten Stadt hier in Moldau eintreffen werden.
Das erste, was eine ukrainische Familie, die über die Grenze kommt, sieht, ist eines der "Blue Dot"-Zentren, die wir zusammen mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen aufgebaut haben. "Blue Dots" sind Anlaufstellen, wo die Menschen wichtige Informationen und praktische Hilfe für ihre Weiterreise erhalten. Hier werden sie auch versorgt mit Essen, Trinken und Hygieneartikeln. Kinder, die ohne Eltern unterwegs sind, werden hier registriert und an Kinderschutzstellen übergeben.
Endlich in Sicherheit
Aber ein "Blue Dot" ist mehr als das: Ein "Blue Dot" ist ein Ort, wo die Kinder in Sicherheit sind, nachdem sie teilweise traumatische Erlebnisse und eine oft extrem belastende Flucht erlebt haben. Im "Blue Dot" können sie spielen und sich aufwärmen. Auch wenn der Frühling gerade beginnt, so können die Temperaturen in Palanca bis auf den Gefrierpunkt fallen. Für mich als Vater mit jungen Kindern ist es sehr herzerwärmend und gleichzeitig beeindruckend zu erleben, wie diese Kinder nach oft nur wenigen Minuten im "Blue Dot" wieder Kinder sein können. Wie sie ganz schnell neue Freundschaften knüpfen.
In einem "Blue Dot" traf ich zwei ukrainische Mädchen. Sie hatten sich gerade erst kennen gelernt, kamen aus verschiedenen Städten und waren an diesem Tag Freunde geworden. Man merkte ihnen an, dass sie viel durchgemacht hatten, aber hier hatten sie einen Raum, in dem sie sich entspannen und spielen konnten. Für mich als Vater ist das all die Anstrengungen wert, die die Nothilfe-Arbeit für UNICEF oft mit sich bringt. Es sind diese kostbaren Momente der Erleichterung für ein Kind, das so viel durchgemacht hat, und die Möglichkeit, wieder ein Kind zu sein, inmitten all des Chaos, des Verlustes und der Trauer.
Seit einiger Zeit haben wir auch Kinderschutzexpert*innen an den Grenzübergängen eingesetzt. Sie arbeiten mit den Grenzschutzbeamten zusammen und prüfen die Ausweisdokumente, um zu erkennen, ob Kinder alleine oder ohne Eltern über die Grenze kommen. Dann ist es enorm wichtig, diese Kinder besonders zu schützen in Koordination mit den Behörden auf beiden Seiten der Grenze. Wir sehen viele Kinder, die mit den Großeltern oder mit Tante oder Nachbarn flüchten. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Kinder geschützt werden, auch vor Menschenhändlern.
Mobil und digital: die neuen "Blue Dots"
Während sich derzeit rund 100.000 ukrainische Flüchtlinge in der Republik Moldau aufhalten, sind rund 400.000 Menschen, die hier angekommen sind, in Richtung Europäische Union weitergereist. Für die Menschen auf der Durchreise planen wir gerade den Ausbau der "Blue Dot"-Anlaufstellen in verschiedenen Formaten.
Zum einen bauen wir mobile "Blue Dots" zusammen mit unserem UNICEF-Team in Rumänien aus. Für Kinder und Familien, die ohne eigenes Auto unterwegs sind, gibt es einen Shuttlebus zur europäischen Grenze nach Rumänien. Hier werden wir sie direkt im Bus mit Informationen zum Grenzübertritt in die EU versorgen und bei Bedarf auch erste psychosoziale Hilfe leisten. Das heißt, die Familien können schneller weiterfahren und verlieren weniger Zeit an den Grenzen.
Zusätzlich erstellen wir auch ein digitales "Blue Dot". Flüchtlinge, die über die Grenze kommen, erhalten dann einen QR-Code, unter dem sie alle relevanten Informationen, Kontakte und Erklärungen zur Weiterreise erhalten. Gleichzeitig arbeiten wir auch mit dem UNICEF-Team in Rumänien zusammen, um "Blue Dots" an beiden Seiten der rumänischen-moldawischen Grenze zu errichten.
Niemanden zurücklassen
Information und Auskunft geben ist also eine wichtige Säule unserer Hilfe. Mehrmals schon besuchte ich die größte Flüchtlingsunterkunft in Moldau, MoldEXPO. Dort traf ich eine Roma-Familie mit fünf Kindern unter zwölf Jahren. Ich merkte im Gespräch, dass sie etwas beunruhigte; es war klar, dass sie sich nicht wohl fühlten und unsicher waren. Nach ein paar Minuten erzählte Ezmeralda, die Mutter, dass sie mit rechtlichen Problemen zu kämpfen hatte. Sie hatte nicht die richtigen Papiere, die für den Grenzübertritt in die EU erforderlich waren, und so versuchte die Familie herauszufinden, was zu tun sei. Sie waren Hunderte von Kilometern gelaufen und getrampt, um von der zerstörten Stadt Mariupol aus nach Moldau zu gelangen. Jetzt stecken sie in dieser Schwebe fest und wussten nicht, welche Möglichkeiten sie haben.
Das zeigte mir nochmal, wie wichtig es ist, dass wir eine ganze Reihe von Dienstleistungen auf ganzheitliche Weise anbieten: vom Kinderschutz über Ernährung, Sozialschutz, Bildung, Wasser und Hygiene bis hin zur Unterstützung bei rechtlichen Fragen. Einige der Flüchtlinge, rund neun Prozent, sind keine Ukrainer*innen, sondern gehören anderen Nationalitäten an. Neben der akuten Notversorgung mit Hilfsgütern und Informationen geht es nun auch darum, den Menschen zu zeigen, welche Rechte sie haben. Wir dürfen niemanden zurücklassen.
Ein kleines Land, eine enorme Solidarität
Der Krieg in der Ukraine ist eine unerträgliche Katastrophe für die Kinder. Die Republik Moldau ist das ärmste Land in Europa und hat mittlerweile die höchste Pro-Kopf-Quote an Flüchtlingen. Es ist beeindruckend zu sehen, mit welcher enormen Unterstützung und Solidarität das Land und seine Bewohner*innen die Flüchtlinge aufnehmen. Wir arbeiten nun daran, die geflüchteten Kinder zu integrieren, ihnen den Schulbesuch zu ermöglichen, sie an das staatliche Gesundheits- und Sozialsystem anzubinden und mit finanzieller Hilfe zu unterstützen. Ich bin sehr inspiriert von dem Mut und der Würde der Mütter und Kinder, die aus der Ukraine geflohen sind.
Ich werde noch ein paar Wochen hier mit einem tollen Team arbeiten. Und ich hoffe mit jedem Tag, dass endlich Frieden in der Ukraine einkehrt. Kein Kind darf im Krieg aufwachsen!
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Sie möchten mehr UNICEF-Blogs zur Ukraine lesen? In unseren Blogbeiträgen zur Ukraine schildern wir die aktuelle Situation der Kinder, geben Tipps, wie man mit Kindern über den Krieg sprechen kann, und erklären Ihnen, wie sich der Konflikt über die Jahre entwickelt hat.