100 Tage Ukraine-Krieg: Kinder an der Front
Am Samstag ist es genau 100 Tage her, dass die Gewalt in der Ukraine eskalierte. Der Ukraine-Krieg hat seitdem das Leben von Millionen Kindern und Jugendlichen komplett auf den Kopf gestellt.
Mehrere Hundert Mädchen und Jungen wurden seit dem 24. Februar im Ukraine-Krieg verletzt oder getötet. Tausende verloren durch die Angriffe und Kämpfe geliebte Menschen. Millionen Kinder waren gezwungen, sich zu verstecken oder aus ihren Häusern zu fliehen. Diejenigen, die sich auf die Flucht aus der Ukraine gemacht hatten, wussten meist nicht, wo sie als nächstes landen würden. Sie mussten Freund*innen und Familienangehörige zurücklassen. Direkt vor ihren Augen wurden Schulen, Gebäude in der Nachbarschaft und oft auch ihr eigenes Zuhause zerstört.
Inmitten des Schreckens und der Ungewissheit gab es jedoch auch kleine Momente der Freude: Familien, die nach wochenlanger Trennung wieder vereint waren. Helfende Hände an unerwarteten Orten. Die Wärme eines geliebten Haustieres, das mitgenommen wurde auf die Flucht. Und immer wieder die Hoffnung, dass dieser Krieg eines Tages enden wird.
Wir möchten Ihnen heute einige ukrainische Kinder und Jugendlichen vorstellen, die Dinge gesehen haben, die sie niemals hätten sehen sollen. Kinder, deren Zukunft jetzt auf dem Spiel steht, und die darauf warten, ihr Leben und ihre Träume in die Hand zu nehmen.
Ukraine-Krieg: Plötzlich ist alles anders
Inmitten der Trümmer: Danylo, 12
Bis vor Kurzem war das sein Zuhause: Danylo, 12, steht in Novoselivka mitten in den Ruinen des Hauses, in dem er aufgewachsen ist. Das Haus ist komplett niedergebrannt. Seine Familie war geflohen, als im März 2022 auf ihrer Straße Kämpfe ausbrachen. Danylos Mutter Liudmyla wurde bei dem Angriff schwer verletzt und musste ins Krankenhaus. "Vor dem Krieg kannte ich den Lärm von Kämpfen gar nicht", sagt Danylo. "Aber jetzt kann ich den Unterschied zwischen Raketen und Granaten oder zwischen den auf der ukrainischen Seite abgeschossenen und den aus Russland ankommenden Raketen am Geräusch erkennen."
Danylo kommt immer wieder zu seinem früheren Wohnhaus zurück, um die Trümmer nach Dingen zu durchsuchen, die er vielleicht noch retten kann – und um gute Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. "Mein Lieblingszimmer war das Schlafzimmer meiner Mutter. Da war es immer warm", erinnert er sich.
Eltern zurückgelassen: Oleksii, 15
Als sich der Konflikt in Vrubivka in der Region Luhansk in der Ukraine verschärfte, musste der 15-jährige Oleksii das Dorf und seine Eltern verlassen, um in Khust im Westen des Landes Zuflucht zu suchen. Jeden Tag ruft Oleksii seitdem seine Eltern an, um zu hören, wie es ihnen geht. Er sagt, dass er während der Telefonate im Hintergrund das Einschlagen von Granaten hören kann. Auf die Frage, ob er eine Botschaft an die Welt zum Krieg habe, antwortet er: "Ich habe nur ein Wort zu sagen: Wozu?"
Einen Monat ohne seine Mutter: Mikhailo, 9
Voller Erleichterung nimmt Olena ihren Sohn Mikhailo, 9, vor ihrem beschädigten Haus in Novoselivka ganz fest in die Arme. Kurz nachdem der Ukraine-Krieg ihr Dorf erreicht hatte, hatte sie Mikhailo zu ihren Nachbarn geschickt, wo es sicherer für ihn war als bei ihr. Einen Monat lang ist Mikhailo dort ohne seine Mutter geblieben.
Jetzt, wo sie wieder zusammen sind, sagt Olena, fühle es sich an, als sei "das Leben zu mir zurückgekehrt". Auch Mikhailo ist glücklich, wieder zu Hause und sicher an der Seite seiner Mutter zu sein. Zugleich ist er traurig, den Zustand ihres Hauses zu sehen: "Als ich wegging, war noch nichts kaputt, aber jetzt ist alles bombardiert."
Vor den Überresten seiner Schule: Yaroslav, 14
In Charkiw im Nordosten der Ukraine steht der 14-jährige Yaroslav vor den Überresten seiner Schule. Kurz nach der Eskalation des Ukraine-Kriegs wurde das Gebiet im Februar 2022 von schwerem Beschuss getroffen. Yaroslav war zu Hause, als es passierte. Er erinnert sich noch gut an den heftigen Lärm, den Rauch und den Geruch: "Alles roch nach Ruß. Es war sehr beängstigend."
Yaroslav erzählt, dass die Schule nach den Angriffen praktisch nicht mehr wiederzuerkennen sei. Von seinen Lehrer*innen weiß er, dass die Schule eine lange Geschichte hat: Im Zweiten Weltkrieg war sie in eine militärische Erste-Hilfe-Station umgewandelt worden. "Den Zweiten Weltkrieg hat sie überlebt, aber nicht diesen", sagt er.
Zuflucht im U-Bahnhof: Polina, 13
Polina, 13, steht in einer U-Bahn-Station in Charkiw, Ukraine. Nachdem die Stadt unter Beschuss und schwere Luftangriffe geraten war, hatte sie hier mit ihrer Familie Zuflucht gesucht. Doch auch unter Tage fühlt sich Polina nicht sicher: "Wir können immer noch die Granaten fallen hören", schildert sie die Situation.
Polina hofft, eines Tages Psychologin zu werden. Sie interessiert sich dafür, wie Menschen auf Dinge reagieren, "in ihrem Kopf und in ihren Handlungen". Ihr Berufswunsch ist seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs noch stärker geworden, denn sie erlebt das Trauma, das der Krieg bei so vielen verursacht, aus erster Hand mit.
"Welche Folgen wird dieser Krieg für die Menschen haben?", fragt sie sich. "Es gibt so viel Angst, Angst in den Augen der Menschen. Sie brauchen psychologische Hilfe."
Körperliche Schmerzen durch den Stress: Davyd, 7
Es war eine lange Reise für Davyd, 7, und seine Familie, um aus der bombardierten Stadt Butscha in der Nähe von Kiew zu entkommen. Sie versteckten sich zunächst im Keller ihres Hauses vor dem Beschuss. Doch die Angriffe ließen nicht nach. Nach einer Woche schafften sie es endlich heraus aus Butscha. Die Szenen, die Davyd während der Flucht im Vorbeifahren sah, haben sich tief in sein Gedächtnis eingeprägt: "Wir haben viele ausgebrannte Autos gesehen. Auf manche Autos, in denen Kinder saßen, wurde geschossen."
Die Erfahrung, unter einer solchen ständigen Bedrohung zu leben, hat Davyd laut seiner Mutter Yevgeniya schwer gezeichnet. "Meinem Sohn war bewusst, dass wir angegriffen wurden", sagt sie. "Die Angriffe haben ihn unter sehr schlimmen Stress gesetzt. Er musste sich übergeben und hatte körperliche Schmerzen. Jedes Mal, wenn in der Nähe Granaten flogen, rannte er sofort in den Keller. Er wusste immer, wann er sich verstecken musste."
Schwer krank im Krieg: Danylo, 9
Danylo, 9, sitzt mit seiner Mutter Inna auf seinem Krankenhausbett im Kinderkrankenhaus von Lwiw. Ursprünglich kommt die Familie aus Charkiw. Doch als dort die Kämpfe eskalierten, verließen sie ihre Heimatstadt und machten sich auf den Weg nach Lwiw. Danylo ist krebskrank und braucht dringend eine Chemotherapie.
Er hat schon Dramatisches hinter sich: Während einem der Angriffe auf Charkiw wurde er gerade an der Lunge operiert und erhielt eine Bluttransfusion – in einem Bunker. Seine Mutter macht sich Sorgen darüber, wie sie Danylos Behandlung während des Kriegs fortsetzen sollen und ob sie sich dafür erneut auf die Flucht begeben müssen. Aber Danylo ist tapfer und behält die Hoffnung: "Ich bin bereit, um mein Leben zu kämpfen, sei es gegen den Krebs oder den Krieg."
Alle Tage gleich: Viktoria, 9
Die 9-jährige Viktoria hat seit dem Ausbruch des Kriegs jedes Zeitgefühl verloren: Sie kann nicht genau sagen, wie lange es her ist, dass sie zusammen mit ihrer Mutter, ihrer Oma und ihren beiden Katzen am Bahnhof in Charkiw angekommen ist. "Alle Tage sind jetzt gleich", erzählt sie von ihrer Zeit nach der Flucht.
Viktoria sagt, dass sie gut geschlafen habe. Aber nachts werde es etwas kalt, erzählt sie, zumal sie in ihrer provisorischen Unterkunft ihre Kleidung nicht vollständig trocknen können. "Ich muss mit meiner Mutter und Oma und den Katzen kuscheln. Die Katzen halten mich am wärmsten. Na ja, sie lassen mich zumindest innerlich warm fühlen."
Studium online fortsetzen: Karina, 17
Karina, 17, hatte in ihrer ukrainischen Heimatstadt gerade erst ein Studium der Finanzwissenschaften begonnen. Doch nach dem Ausbruch des Kriegs musste auch sie fliehen. Sie ging ins Nachbarland Rumänien und lebt dort nun in der Kleinstadt Husi. Obwohl das Studium online stattfindet, hat Karina Mühe, beim Lernstoff mitzukommen. Denn in ihrer vorübergehenden Bleibe hat sie weder einen Computer noch Zugang zum Internet. "Es ist nicht so einfach wie vorher, meine Aufgaben für das Studium zu bearbeiten", sagt sie.
Den Krieg aus nächster Nähe zu sehen, habe ihr die Augen geöffnet, erzählt Karina. Vor allem deshalb, weil sie die Not der anderen Ukrainer*innen, die wie sie unter dem Krieg leiden, jetzt viel mehr nachempfinden könne. "Es ist schwer, etwas zu verstehen, was du nicht selbst durchlebt hast." Karina versucht jetzt, auch für andere Menschen dazusein, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie sie.
Durchatmen hinter der Grenze: Leona, 9
Auch Leona hat zusammen mit ihrer Mutter Olga ihre Heimat verlassen und ist geflüchtet. Aus ihrem Zuhause in Kiew konnte sie außer ihrer Katze Villi nicht viel mitnehmen. Unmittelbar hinter einem rumänischen Grenzübergang in Sighetu Marmatiei tanken sie jetzt Kraft in einem "Blue Dot Center", einer der sicheren Anlaufstellen von UNICEF.
Ein Freund hatte sie bis an die Grenze gefahren. Das Erste, was Olga bei der Überfahrt aufgefallen ist? Die Stille. "Hier ist es sehr ruhig. Das ist gut", zeigt sich Olga nach ihrer Flucht erleichtert.
Obwohl sie jetzt in Sicherheit sind, macht sich Olga Sorgen um Leonas Zukunft – und speziell um ihre Bildung. Sie ist selbst Lehrerin und weiß, wie wichtig es für Kinder ist zu lernen. Sie denkt auch oft an ihre ehemaligen Schüler*innen, die alle aus Kiew evakuiert sind. "Es ist wie im Film – aber das ist kein Film. Das ist die Realität. Das ist unser Leben."
Bei Freunden: Milana, 3
Sivlana spielt mit ihrer dreijährigen Tochter Milana im Haus eines Freundes in Chisinau in der Republik Moldau. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, hatten ihre Freunde Sivlana gedrängt, ihr Dorf in der Nähe von Odessa in der Ukraine zu verlassen und mit ihrer Familie zu ihnen zu kommen. Anfangs wollte Sivlana nicht. Doch als die Explosionen rund um die Hafenstadt Odessa immer näher kamen, hatte sie keine andere Wahl und nahm die Einladung ihrer Freunde an.
"Wir haben Glück, dass wir so gute Freunde haben, die uns bei sich zuhause aufgenommen haben und uns so viel Gastfreundschaft entgegenbringen", sagt sie. "Viele Ukrainer*innen, die aus unserem Land geflohen sind, haben nicht so viel Glück."
UNICEF hilft Kindern in der Ukraine und den Nachbarländern
Seit der Krieg eskalierte, brauchen Millionen ukrainische Mädchen und Jungen unsere Hilfe. UNICEF ist schon seit Jahren in der Ukraine für Kinder aktiv. Nach dem Ausbruch des Kriegs haben unsere Mitarbeiter*innen ihre Hilfe stark ausgebaut.
UNICEF ist in der Ukraine und in den Nachbarländern auf vielen Ebenen im Einsatz: So können wir dank der Spenden aus Deutschland Kinder und Familien mit humanitären Hilfsgütern versorgen, ihnen in Schutzzentren an den Grenzübergängen sichere Orte zur Verfügung stellen und Hunderttausende Kinder psychosozial begleiten.
Danke an jede*n von Ihnen, der unsere Arbeit für die Kinder aus der Ukraine unterstützt!
Als Nothilfe-Pate Ukraine langfristig helfen
Die Kinder aus der Ukraine brauchen langfristige Hilfe. Bleiben Sie als UNICEF Nothilfe-Patin / -Pate an ihrer Seite und helfen Sie u.a., traumatisierte Kinder zu betreuen und die Grundversorgung mit Medikamenten und Trinkwasser in der Ukraine zu sichern. Vielen Dank!
Gleichzeitig bleiben Sie flexibel: Sie können Ihr Engagement jederzeit beenden.
Sie möchten mehr UNICEF-Blogs zur Ukraine lesen? In unseren Blogbeiträgen zur Ukraine schildern wir die aktuelle Situation der Kinder, geben Tipps, wie man mit Kindern über den Krieg sprechen kann, und erklären Ihnen, wie sich der Konflikt über die Jahre entwickelt hat.
** Dieser Blog ist ein Beitrag von UNICEF International. Wir haben ihn für Sie übersetzt und leicht angepasst. **