Mitten im Kriegsland Irak: von Erbil ins Flüchtlingslager Debaga
Im Irak suchen hunderttausende Kinder Zuflucht vor Terror und Gewalt. Im Flüchtlingscamp Camp Debaga und an weiteren Stationen ihrer Irak-Reise hat UNICEF-Botschafterin Eva Padberg viele Kinder kennengelernt und ihre Geschichten gehört.
Meine Reise nach Erbil im Nordirak ist meine erste UNICEF-Reise in ein Kriegsgebiet.
Am Tag unseres Abflugs beginnt der Befreiungskampf um Mossul, und ich bin ehrlich gesagt nicht mehr ganz so sicher, ob es eine gute Idee war, dieser Reise zuzustimmen.
Mossul ist nur eine Stunde von Erbil entfernt. Würde ich nicht regelmäßig die Nachrichten verfolgen oder besorgte SMS aus Deutschland erhalten, könnte man meinen, nichts von alldem, was sich gerade nur 40 Kilometer von hier an der Frontlinie abspielt, sei Realität.
Erbil – die Metropole der Kurdenregion im Irak
Erbil ist eine lebendige Großstadt, das Leben geht seinen normalen Gang, und ich bin erstaunt, wie westlich und fortschrittlich die Stadt wirkt. Noch vor wenigen Jahren war Erbil auf dem besten Wege, ein zweites Dubai zu werden. Den Menschen ging es gut, Hochhäuser schossen aus dem Boden wie Pilze, Hotels und schicke Restaurants wurden eröffnet.
Rein oberflächlich hat sich daran nicht viel verändert, seitdem der Krieg gegen den IS begonnen hat. Doch viele der neuen Häuser wurden nie fertig gebaut und machen nun als leerstehende Rohbauten einen verlassen Eindruck. Die Stadt wird von einem Sicherheitsgürtel umschlossen. Allein auf der ca. 5 Kilometer langen Fahrt vom Flughafen zum Hotel durchfahren wir drei bewaffnete Sicherheitschecks. Also doch keine ganz normale Großstadt.
Tag 1: Debaga – Zeltstadt im Nirgendwo
Unsere erste Station führt uns ins Flüchtlingslager Debaga. Vor knapp 1,5 Jahren ursprünglich für 700 Menschen errichtet, musste es im August des Jahres bereits bis zu 38.000 Menschen Unterschlupf bieten. Aktuell leben rund 30.000 Binnenflüchtlinge in Debaga, berichtet der Camp-Manager Rizgar Obaid. 40 Prozent davon sind Kinder.
Das erste Lager musste um ein zweites erweitert werden, auch ein Fußballstadion und eine Moschee wurden umfunktioniert. Jeden Tag kommen hier ca. 500 Menschen an. Einige von ihnen bleiben, andere werden in andere Camps verlegt. In den nächsten Wochen rechnet UNICEF mit ca. 200.000 Menschen, die wegen der Kämpfe um Mossul nach Schutz suchend in Lagern wie Debaga ankommen werden.
Nach der Ankunft durchlaufen die Männer einen langen Screening-Prozess in einem dem Lager zugehörigen Rezeptionsbereich. Hier wird geprüft, ob sie Waffen tragen oder beim IS waren. Dieser Prozess kann mehrere Tage dauern.
Die Schule ist nur eine Art Zwischenstation
Als erstes besuchen wir das ehemalige Schulgebäude in Debaga 1. Die Gänge und Räume sind bis auf den letzten Platz besetzt. Frauen sitzen mit ihren Kindern auf dem Boden und warten. Einige von ihnen sind gerade erst angekommen, andere warten seit mehreren Tagen auf die Zuteilung einer Unterkunft. Die Schule ist eine Art Zwischenstation.
Auf dem großen Schulhof suchen viele an die Mauern des Hofes gepresst Schutz vor der Sonne. Nachts ist dieser Platz bedeckt mit Matratzen und schlafenden Menschen.
„Wir sind 12 Stunden lang gelaufen“
Ich spreche mit einer Gruppe von Frauen, die vor zwei Tagen hier angekommen sind. Schwestern, Mütter, Großmütter, Cousinen – eine ganze Familie ist gemeinsam auf einen langen Fußmarsch nach Debaga aufgebrochen.
„Wir sind 12 Stunden lang aus unserem Heimatort Salahaddin hierher gelaufen, auf der Flucht vor dem IS. Wir haben nur noch die Sachen, die wir am Leib tragen. Wir konnten nichts mitnehmen. Es war so schwierig, denn wir waren alle so müde. Ich bin mit meinen drei Töchtern hier, meine beiden Söhne sind in Salahaddin geblieben“, berichtet uns Nada Ibrahim Taha (50). Ihre Tochter Elaf Ahmed (24) hält ihre erst vier Monate alte Tochter Zaim in den Armen.
Zaim wurde kurz nach der Ankunft im Lager geimpft und ihre dreijährige Cousine medizinisch versorgt, da sie nach dem langen Fußmarsch in der staubigen Luft eine starke Augen- und Ohreninfektion hatte.
Nun warten sie seit zwei Tagen darauf, einen Platz zugewiesen zu bekommen. Bis es soweit ist, schlafen sie mit hunderten anderen Menschen auf dem Schulhof unter freiem Himmel. Es wird nachts sehr kalt, und sie haben keine Decken.
Ob sie nach dem Krieg nach Hause zurückkehren will, fragen wir. „Ich weiß nicht, ob unser Haus noch steht. Aber wer will nicht in seine Heimat zurück?“, sagt Nada.
Ein besonderes Geschenk
Hunderte von Kindern haben in der Zwischenzeit mitbekommen, dass Besucher in der Schule sind, und scharren sich nun neugierig um uns. Sie lachen und tollen herum, stellen Fragen und machen Quatsch. Jeder Besuch ist eine willkommene Abwechslung im Lageralltag.
In dem großen Gewusel vor der Schule zupft ein kleines Mädchen an meiner Hose und steckt mir ihre Hand mit einer Kette darin entgegen, die sie mir schenken möchte. Ich bin so gerührt von dieser herzlichen und selbstlosen Geste, dass ich einen Kloß im Hals herunterschlucken muss.
Die Kette hat sie selbst gemacht. Ihre Mutter ist Schneiderin, von ihr hat sie es gelernt. Den Schmuck bastelt sie im Camp, es macht ihr Spaß, und genau wie viele andere Kinder hier ist auch sie froh über die Beschäftigung.
Kinderfreundliche Zone: basteln, malen, tanzen und spielen
Einige der Kinder im Debaga-Camp haben das Glück, 1,5 Stunden am Tag dem Camp-Alltag entfliehen und eine der kinderfreundlichen Zonen besuchen zu können. Hier können sie basteln, malen, tanzen und spielen. Es gibt ein Zelt, in dem ein informeller Unterricht stattfindet, und sogar ein kleines Kinozelt, in dem Cartoons laufen.
„Wir schätzen, dass die Hälfte der Kinder, die zu uns kommen, traumatisiert sind“, so Anja Smouid von der NGO terre des hommes. 700 bis 800 Kinder kommen täglich in die kinderfreundliche Zone in Debaga I. Fünfzehn Erzieher und Sozialarbeiter beschäftigen sich von morgens um 9 Uhr bis zum Nachmittag mit den Kindern.
Im Moment gibt es in Debaga drei dieser Kinderzonen, und es wird gerade noch eine neue mit Hilfe von UNICEF gebaut. Dort werden auch Zelte für den Schulunterricht eingerichtet.
Es ist so wichtig, dass es diese Orte für Kinder in den Lagern gibt. Die grausamen Dinge, die viele von ihnen erlebt und gesehen haben, der eintönige und hoffnungslose Alltag im Camp, nicht zu wissen, wann und ob sie je wieder nach Hause können…diese Kinder haben, wenn sich niemand um sie kümmert, kaum eine Chance, jemals zu einem gesunden und glücklichen Menschen heranzuwachsen.
Für viele von ihnen ist es aber noch nicht zu spät. Trotz der Schrecken, die sie erlebt haben, können sie wieder lachen und spielen.
Der Besuch in den kinderfreundlichen Zonen gibt ihnen nicht nur die Chance auf ein Leben danach, sondern auch eine Chance auf ihre Kindheit.
Im zweiten Teil des Reiseberichtes lesen Sie die bewegende Geschichte von Abdullah, der mit gerade einmal 11 Jahren beinahe alles verloren hat.
Reisetagebuch Eva Padberg
» Teil 1: Von Erbil ins Lager Debaga
» Teil 2: Abdullahs Geschichte
» Teil 3: Nach Akre in der Provinz Dohuk
» Teil 4: Kinderfreundliche Schule in Erbil