Kommentar zur Lage in Afghanistan: "Wir müssen den Menschen über den Winter helfen"
Die Lage in Afghanistan ist so dramatisch, dass mit der Hilfe nicht gewartet werden kann, bis man weiß, wie man mit den De-facto-Machthabern umgehen soll. Ein Kommentar von Christian Schneider, Geschäftsführer bei UNICEF Deutschland.
Angesichts der humanitären Katastrophe in Afghanistan muss die humanitäre Hilfe dringend ausgeweitet werden. Die Kinder am Hindukusch können nicht abwarten, bis Lösungen für das diplomatische Dilemma im Umgang mit den De-facto-Machthabern gefunden sind. Entgegen der derzeitigen öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland ist Hilfe möglich.
Es ist eine gefährliche Eiszeit für die Kinder in Afghanistan, buchstäblich und auch im übertragenen Sinne. Die Temperaturen reichen in der Nacht nahe an die eines Tiefkühlschranks. 14, 15 Grad minus sind es in Kabul und in den Provinzen Logar und Paktia südlich der Hauptstadt, die ich gerade mit UNICEF besucht habe.
Die afghanischen Familien haben den jahrzehntelangen Konflikt durchgemacht, den Machtwechsel im vergangenen Sommer, eine der schwersten Dürren seit Jahrzehnten, den Niedergang der Wirtschaft und die unglaublichen Preissteigerungen von Lebensmitteln und allem, was sie zum Leben brauchen. In diesem grausamen Winter haben viele jetzt nur noch die Wahl, von den letzten Afghanis ein paar Scheite Feuerholz für den Ofen zu kaufen, um die Kälte durchzustehen, oder etwas Brot für den knurrenden Magen. Wie würden wir uns entscheiden? Viele Mütter wählen das Brot für ihre Kinder und trinken selbst immer häufiger nur ungezuckerten Tee, anstatt zu essen. Kaum eine der Frauen, die wir sprachen in dieser Woche, hatte zuletzt eine vollständige Mahlzeit.
Schon bald werden wohl fast alle Menschen in Afghanistan einen Alltag in Armut haben, so schnell rast das Land weiter auf den allgemeinen Notstand zu. Diese humanitäre Katastrophe, die man bei aller Zurückhaltung in der Wortwahl jeden Tag lauter so nennen muss, trifft inzwischen 13 Millionen Kinder. Das sind etwa so viele Kinder, wie in Deutschland leben.
Stellen wir uns vor, wir müssten über die nächsten Monate alle Kinder im eigenen Land mit Nahrung versorgen, mit Medikamenten, Trinkwasser, Schulmaterial, sie überdies mit psychologischer Hilfe unterstützen, weil sie die Erfahrungen der Gewalt und der täglichen extremen Not nicht verkraften können. Diese Aufgabe würde unser wohlhabendes Land in einen Ausnahmezustand versetzen. Im Afghanistan des Jahres 2022 bedeutet diese Krise, dass viele Kinder ohne Hilfe die kommenden Wochen nicht überleben werden.
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Hilfe ist möglich! Unterstützen Sie hier den UNICEF-Einsatz in Afghanistan. Jeder Beitrag zählt. Vielen Dank.
Während jede Winternacht die Lage der Kinder weiter verschärft, bleibt ein Großteil der internationalen Gelder, die vor der Machtübernahme etwa 70 Prozent des afghanischen Staatswesens finanzierten, eingefroren. Zeitgleich mit dem Ringen der Diplomaten, im Gegenzug für tiefgekühlte Millionen Zugeständnisse bei den Menschenrechten zu erhalten, kämpfen Kinder wie die fünfjährige Basmeena in den kalten Krankenhäusern um ihr Überleben. Wenn das Gesundheitswesen völlig zusammenbricht, wie wird es den kleinen Patientinnen und Patienten auf den Stationen ergehen, mit ihren defekten Brutkästen und den zerschlissenen Stühlen, auf denen ihre Mütter Tag und Nacht voller Sorge hoffen, dass sie wieder zu Kräften kommen?
Im Krankenhaus von Gardez sind wir überwältigt von der großen Zahl Frauen, Männer und Kinder, die für Medikamente anstehen – und erschüttert vom Zustand der mangelernährten Mädchen und Jungen, die durch eine Lungenentzündung oder andere Infektionen schnell an die Schwelle des Todes gebracht werden. Weil so viele Schwangere und stillende Mütter selbst mangelernährt sind, kommen schon die Jüngsten sehr schwach auf die Welt. Auf einer Station in Kabul, die ich besucht habe, haben im November 30 Neugeborene den Kampf um ihr Überleben verloren. Basmeena, die zu klein und zu leicht ist für eine Fünfjährige, muss immer wieder ins Krankenhaus kommen, weil es zu Hause weder genug zu essen noch sauberes Wasser gibt und sich ihr Zustand wieder verschlechtert.
So wie die tapferen Kräfte in den Gesundheitseinrichtungen stemmen sich UNICEF, die Schwesterorganisationen der Vereinten Nationen und weitere humanitäre Helfer gegen die wachsende Not. Doch selbst wenn wir Hunderttausende Kinder in diesen Wochen mit lebensrettender Zusatznahrung erreichen und wenn unsere Pakete mit Winterkleidung ein wenig durch die eisigen Nächte helfen, wird den Kindern in Afghanistan die Chance auf eine Kindheit gestohlen, wenn die internationale Gemeinschaft nicht in einer Kraftanstrengung auf diese größte humanitäre Krise der Welt antwortet.
Wir haben – entgegen der Wahrnehmung in Deutschland – die Möglichkeit, die Hilfe mit unseren Partnern massiv auszuweiten, und tun dies auch. Wir haben die Wege, Gesundheitspersonal, Lehrerinnen und Lehrer und andere Fachkräfte gezielt zu unterstützen, damit Kinder nach diesem grausamen Winter einen Frühling erleben, in dem das Überleben über den Tag hinaus gesichert ist. Und einen Sommer, in dem die Mädchen, die ich in einer Aufholklasse traf, für ihren Lerneifer mit einem Platz in der Schule belohnt werden. Die Welt darf den Menschen in dieser Notlage nicht den Rücken zukehren. Menschlichkeit muss Vorrang haben, über diese harten Winterwochen hinaus.
*Christian Schneider besuchte Afghanistan vom 24. bis 30. Januar 2022. Dieser Meinungsbeitrag von ihm erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ.