Eine Kindheit für die Kinder in Afghanistan
Die Kinder in Afghanistan erleben unvorstellbare Not. Sie dürfen nicht im Stich gelassen werden. Ein Kommentar von Christian Schneider, Geschäftsführer bei UNICEF Deutschland, anlässlich des ersten Jahrestags des Machtwechsels in Afghanistan.
365 Tage nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan muss der Jahrestag den Blick auf die große Not der Afghaninnen und Afghanen lenken. Dekaden voller Krieg und Gewalt, die härteste Dürre in vier Jahrzehnten und der Kollaps von Wirtschaft und Staatswesen haben das Leben der Menschen zum reinen Überleben werden lassen. In dieser humanitären Krise nimmt die de-facto-Regierung in Kabul den Mädchen auch noch die Chance auf Bildung. Trotzdem darf die internationale Gemeinschaft die 20 Millionen afghanischen Kinder nicht im Stich lassen. Der Preis für Nichtstun wäre unermesslich.
In seinem Roman "Drachenläufer" schrieb Khaled Hosseini vor fast 20 Jahren: "Es gibt viele Kinder in Afghanistan, aber wenig Kindheit." Eine Generation später ist Afghanistan ein Land in der tiefsten vorstellbaren Krise. Von einer Kindheit können die Kinder am Hindukusch noch immer nur träumen. Wenn ihnen der Hunger Träume gestattet.
Während wir die dramatischen Szenen am Flughafen von Kabul im letzten Sommer wieder vor Augen haben, blicken Millionen afghanische Kinder ihre Mütter fragend an, weil es kein Brot gibt, vielleicht nicht einmal Tee. Das World Food Programme spricht von nur noch sieben Prozent der Bevölkerung, die sich ausreichend ernähren können. Über eine Million Kinder sind lebensgefährlich mangelernährt und brauchen dringend Hilfe. Acht von zehn Menschen werden auch heute verschmutztes Wasser trinken.
Die Kinder zahlen den höchsten Preis in dieser nicht endenden humanitären Katastrophe. Vielen Mädchen fehlt inzwischen auch noch die Hoffnung auf eine Zukunft. Die meisten Mädchen aus den Klassen 7 bis 12 sind seit August 2021 nicht mehr zur Schule gegangen. Sie erleben mit, dass die Rechte der Frauen immer weiter eingeschränkt werden, die Verschleierung mehr als nur erwünscht ist, der Platz der Frauen und Mädchen bis auf Ausnahmen zu Hause ist.
Wie ihre Eltern hatten sie so gehofft, dass die de-facto-Regierung im Frühjahr die weiterführenden Schulen für sie öffnen würde. Doch der 23. März wurde zum schwärzesten Tag für die Mädchen im Land, mehr als eine Million müssen seitdem zu Hause bleiben.
Bei meinem Besuch in Afghanistan Ende Januar habe ich gesehen, wie groß der Hunger der Mädchen in den Dörfern nach Bildung ist – und wie sehr viele Eltern sie unterstützen. In der Provinz Wardak traf ich in einem von UNICEF geförderten Klassenraum in einer winzigen Moschee auf Mädchen wie Bibi Asma. In meiner Jugend hätte ich sie und ihre Freundinnen, die mir in der ersten Reihe mit leuchtenden Augen gegenübersaßen, sicher Streberinnen genannt. Stolz lasen sie aus dem Buch vor, gaben als liebste Freizeitbeschäftigung die Hausaufgaben an – begeisterte Schülerinnen mit großen Plänen.
Genauso wichtig wie Bibi Asmas eigener Lerneifer ist, dass die Eltern sie darin bestärken. Sie möchten, dass die Tochter lernt, dass sie etwas erreichen kann, sagten mir Bibi Asmas Mutter und Vater ernst. Überall, auch in den entlegensten, jahrzehntelang unerreichbaren Dörfern, ermöglicht UNICEF den Unterricht in Moscheen, Wohnhäusern oder wo auch immer die Kinder im Grundschulalter Platz finden. 10.000 Klassen gibt es schon. Bis zum Jahresende will unser Team 17.000 unterstützen, stellt Bücher bereit, über eine Million Schulrucksäcke, bildet Lehrkräfte aus. Und nutzt jede Gelegenheit, um gegenüber der de-facto-Regierung auf eine rasche Öffnung der Schulen für die Mädchen hinzuwirken.
In Aufholklassen habe ich auch ältere Mädchen getroffen, die trotz all der Not zu Hause zum Unterricht kamen. Nur so kann die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wach bleiben in dieser jungen afghanischen Generation – in einem Land, in dem ein Drittel der Mädchen vor dem 18. Geburtstag verheiratet und damit vom Lernen, von den Freundinnen, vom Leben außerhalb des Haushalts abgeschnitten wird.
Die Kinder haben viele, lebenswichtige Bedürfnisse ein Jahr nach dem von der Welt mit großer Sorge beobachteten Machtwechsel. Wenn der Alltag so unbarmherzig ist wie an diesem Jahrestag, dann ist das Recht auf Bildung besonders wichtig. Die internationale Gemeinschaft hat die Verantwortung, jede Möglichkeit zu nutzen, um die jungen Afghaninnen und Afghanen in diesem so kritischen Moment zu unterstützen. Entgegen der Wahrnehmung in Deutschland kann UNICEF heute deutlich mehr Hilfe in allen Teilen des Landes leisten. Allerdings: Es ist August und nur ein Drittel der in diesem Jahr allein von UNICEF benötigten Mittel sind bisher finanziert.
Während die Welt zu recht erneut nach Afghanistan schaut, müssen die Regierungen das Datum zum Anlass nehmen, die Hilfe endlich auszuweiten. Die Möglichkeit ist da. Es gibt viele Kinder in Afghanistan, schrieb Hosseini im "Drachenläufer". Sie alle sollten eine Kindheit haben, die diesen Namen verdient.
*Dieser Meinungsbeitrag von Christian Schneider erschien zuerst im Kölner Stadtanzeiger.