Äthiopien: Zwei zwangsverheiratete Mädchen erzählen ihre Geschichten
Unzählige Familien in Äthiopien haben durch die aktuelle, langanhaltende Dürre ihre Lebensgrundlage verloren. Immer mehr Eltern sehen keinen anderen Ausweg, als ihre minderjährigen Töchter möglichst schnell zu verheiraten.
Wovon träumt man als 13-jähriges Mädchen? Vielleicht davon, sich zum ersten Mal zu verlieben. Viel Zeit mit seinen Freundinnen zu verbringen. Herauszufinden, wer man eigentlich ist und wo die eigenen Stärken liegen. Zwangsverheiratet zu werden, ist für Mädchen weltweit das Gegenteil dessen, was sie sich erhoffen und erträumen – und doch ist es für Millionen von ihnen Realität. Auf einen Schlag zerstören Kinderehen ihre Kindheit und nehmen ihnen ihre Rechte. Am Horn von Afrika ist die Zahl der Kinderehen zuletzt sogar rapide angestiegen.
Zwei äthiopische Mädchen und ihre persönlichen Geschichten möchte ich Ihnen hier vorstellen. Der Ausgang ihrer Geschichten ist ganz unterschiedlich.
Enat: Zwangsverheiratung beendet ihre schulischen Träume
Die Jugend von Enat (aus Kinderschutzgründen haben wir ihren Namen geändert) hatte eigentlich gerade erst angefangen. Sie war 13, als sie verheiratet wurde und sich alles für sie änderte.
Doch von vorne erzählt. Enat war eine sehr gute Schülerin, ein junges Mädchen mit einer glänzenden Zukunft – bis ihr Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt wurde. Um ihre von der Dürre betroffene Familie zu ernähren, musste sie einen ihr unbekannten, mehr als 17 Jahre älteren Mann heiraten. Sie musste die Schule abbrechen und ihr Heimatdorf im Dassenech-Distrikt verlassen. In ihrer Heimat in Äthiopien herrscht die schlimmste Dürre seit 40 Jahren. Ihre Ehe soll ihrer Familie helfen, über die Runden zu kommen. So hat Enats Vater es entschieden. Enat selbst durfte nicht mitbestimmen.
"Es ist jetzt zwei Monate her", erinnert sich Enat. "Ich wusste nichts davon. Als ich erfuhr, dass die beiden Familien bereits zugestimmt hatten, protestierte ich. Ich bettelte und weinte, aber ich konnte nichts mehr ändern."
Im äthiopischen Dassenech-Distrikt ist es Tradition, dass beide beteiligten Familien die Bedingungen für die Eheschließungen genau aushandeln. Die Familie des Bräutigams bietet der Familie der Braut einen Beitrag an, normalerweise in Form von Rindern, Ziegen oder Schafen. Ist eine Einigung erzielt, kann die Ehe geschlossen werden. Normalerweise bleibt das Mädchen, wenn es zu jung ist, noch in ihrem Elternhaus, bis es die Pubertät erreicht. Diese Situation wurde jedoch durch die Dürre weiter verschärft – denn die Familien sind meist sofort auf den Ehe-Beitrag angewiesen. Die Mädchen sind also teilweise noch jünger, wenn sie ihr Elternhaus verlassen.
Furchtbare Entscheidung: Letzter Ausweg Kinderehe
Enat ist das älteste von sieben Kindern. Ihr Vater hatte einen großen Viehbestand von mehr als 100 Rindern. Vor der Dürre konnte die Familie davon gut leben, erzählt Enat. "Mein Vater hätte vor der Dürre niemals akzeptiert, mich zu verheiraten", sagt sie. Doch dann wurde das Wasser immer knapper, und es gab kaum noch Weideflächen für das Vieh. Die Tiere starben eines nach dem anderen – die Lebensgrundlage der Familie war vernichtet. Enats Vater musste eine schreckliche Entscheidung treffen und sah keinen anderen Ausweg mehr, als einen Ehemann für Enat zu suchen.
"Meine Eltern hatten nichts mehr, um uns zu ernähren", berichtet Enat. "Mit dem Hochzeitsgeschenk meiner Schwiegereltern, ein paar Rindern, konnten sie Mais und Hirse für meine Brüder und Schwestern kaufen."
Haushaltsarbeit statt Schule
"Das Schlimmste für mich ist, dass ich die Schule abbrechen musste, weil mein Mann mir nicht erlaubte weiterzumachen. Ich bin gerne zur Schule gegangen und möchte Ärztin werden. Aber jetzt bin ich nur noch zu Hause und kümmere mich um den Haushalt: Kochen, Putzen, Wasserholen."
Enat weiß, dass ihre Ehe nicht legal ist. Denn in von UNICEF gegründeten Schulklubs erfahren Mädchen wie sie mehr über ihre Rechte und werden aufgeklärt darüber, dass Zwangsheiraten in Äthiopien verboten sind.
Trotzdem sieht Enat für sich momentan keinen Ausweg, um aus ihrer Situation auszubrechen. "Ich möchte nicht, dass mein Mann ins Gefängnis geht", sagt sie. "Was würde dann mit meiner Familie passieren?" Ihren Mut hat Enat aber nicht komplett verloren: "Ich bleibe optimistisch, was die Zukunft angeht. Ich hoffe, dass Gott oder jemand mir helfen und eine zweite Chance geben kann, wieder zur Schule zu gehen und Ärztin zu werden."
Mit Unterstützung der lokalen Behörden hat UNICEF in Äthiopien Schulklubs für Mädchen gegründet, um aufzuklären und das Bewusstsein für Themen wie Zwangsheirat, Sexualität und Gesundheit zu schärfen. Die Mädchen erfahren dort mehr über ihre Rechte und dass Kinderehen auch in Äthiopien verboten sind. Sie bekommen außerdem Infos über Themen wie etwa Pubertät oder sexuell übertragbare Krankheiten. Zusätzlich zum theoretischen Unterricht erhalten die Mädchen Hygiene-Sets, bestehend aus Seifen und Damenbinden. Die Sets helfen den Mädchen, auch während ihrer Menstruation weiterhin zur Schule zu gehen.
Maldret Tarekgn leitet ein Büro für Frauen- und Kinderangelegenheiten in der Dassenech-Region: "Dank der Schulklubs sensibilisieren wir junge Mädchen für die Kinderehe", sagt sie. "Wir bringen ihnen bei, die Warnzeichen zu erkennen und wen sie alarmieren müssen, wenn sie direkt involviert sind oder einem anderen Mädchen helfen wollen. Wenn wir Hinweise dafür haben, dass eine Ehe mit einer Minderjährigen geplant ist, greifen wir sofort ein und begleiten das Mädchen sehr nah, um sicherzustellen, dass die Ehe nicht geschlossen wird. Das größte Problem haben wir jedoch in abgelegenen Gebieten. Die Mädchen dort gehen nicht zur Schule, sie haben keine Bildung, und die Heirat wird oft im Verborgenen durchgeführt."
UNICEF bietet in Äthiopien und anderen Ländern am Horn von Afrika Programme für Mädchen und junge Frauen an, um diese vor Gewalt, Missbrauch, Kinderheirat und Ausbeutung zu schützen. Unsere Expert*innen haben erkannt, dass der Schutzbedarf von Frauen und Mädchen in dieser Region noch gestiegen ist – daher haben wir diese Programme in der letzten Zeit noch weiter ausgeweitet.
Die Dürre, die derzeit große Teile Äthiopiens und des Horns von Afrika im Griff hat, hat unzählige Familien in extreme Armut gestürzt. "Kinderheirat ist in Äthiopien gesetzlich verboten und wird bestraft. Trotzdem haben wir in den letzten Monaten einen deutlichen Anstieg in der Region gesehen, hauptsächlich aufgrund der Dürre", beobachtet Maldret Tarekgn, Leiterin des Büros für Frauen- und Kinderangelegenheiten in der Dassenech-Region.
UNICEF arbeitet mit dem Büro vor Ort zusammen, um Kinderehen zu verhindern und Opfern zu helfen. "Der finanzielle Druck auf die Familien ist so groß, dass sie sich oft keinen zusätzlichen Mund leisten können, sodass die Tochter das Elternhaus sofort verlässt", erklärt Maldret. "Wir haben festgestellt, dass viele Familien sogar bereit sind, ihre Töchter an Männer aus bescheideneren Verhältnissen zu verheiraten, zum Beispiel Fischer." Die Familien verzichten dann als Mitgift für ihre Töchter auf den Erhalt von Vieh und bekommen stattdessen beispielsweise lediglich eine Lieferung Fisch. "Dies ist eine neue Art zu überleben, um mit der Dürre fertig zu werden. Dies wurde zu einer Situation auf Leben und Tod", sagt Maldret.
Kinderehen nehmen in Dürrezeiten oft zu, da Familien beim Verheiraten eines Kindes eine Mitgift erhalten. Die Eltern hoffen zudem auch, dass ihre Kinder von wohlhabenderen Familien ernährt werden und es ihnen dort besser geht und sie genug zu essen haben. Die Zahl der Kinderehen in den am stärksten betroffenen Regionen Äthiopiens hat sich innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt. In den anderen Ländern am Horn von Afrika (zum Beispiel Kenia und Somalia) ist die Entwicklung in den Dürregebieten dieselbe.
Enat scheint wie gefangen in ihrer Ehe. Nur die vage Hoffnung, dass sich die Dinge für sie ändern und sie wieder anknüpfen kann an ihr früheres Leben, hat sie sich bewahrt.
Fiinxee ist ein anderes äthiopisches Mädchen, das ebenfalls zwangsverheiratet wurde. Doch ihre Geschichte ging ganz anders weiter als die von Enat.
Fiinxee: Verkauft für die Mitgift
Fiinxee ist heute 17 Jahre alt. Auch sie war 13, als sie verheiratet wurde. Wie alt ihr Mann bei der Hochzeit war? Fiinxee weiß es nicht. Der Grund für Fiinxees Zwangsheirat war derselbe wie bei Enat: die Dürre in Äthiopien. Diese führte dazu, dass ihre Eltern kein Einkommen mehr hatten. "Meine Familie brauchte die Mitgift, also haben sie mich verkauft", erzählt Fiinxee. Sie kommt aus der Region Omario, in der es immer wieder zu extremen Dürren kommt. Aktuell herrscht – verstärkt durch den Klimawandel – die schlimmste Dürre seit 40 Jahren. Der Krieg in der Ukraine mit all seinen Folgen hat den Hunger in vielen Regionen Afrikas noch zusätzlich verschärft.
"Am Tag der Hochzeit hatte ich große Angst", sagt Fiinxee. "Und sobald ich verheiratet war, fühlte ich mich überfordert. Ich habe es im Haus nicht ausgehalten und konnte nicht einmal die grundlegenden Aufgaben im Haushalt erledigen."
Ehe annulliert: Chance zum Neustart
Aber dann hatte Fiinxee Glück: Nachdem sie acht Monate verheiratet war, erfuhr sie von Nachbar*innen, dass sie Hilfe bekommen und sich aus ihrer Ehe befreien könnte. Sie wandte sich daraufhin an die örtlichen Behörden – die ihr prompt halfen. Schon wenige Wochen später wurde ihre Ehe rechtskräftig vor Gericht annulliert. Das Gericht entschied, dass die Mitgift für Fiinxee nicht zurückgegeben werden musste. Ihre Eltern bereuten den Schritt, dass sie ihre Tochter zwangsverheiratet hatten. Fiinxee kehrte zurück zu ihrer Familie und geht seitdem wieder zur Schule. "Und noch dazu setze ich mich jetzt auch für die Abschaffung der Kinderheirat ein", erzählt sie stolz.
Schulkomitee für mehr Bewusstsein
Fiinxee ist jetzt Mitglied in einem von UNICEF unterstützten Schulkomitee. Das Ziel dieses Komitees: Bei Mädchen das Bewusstsein für die Gefahren der Kinderehe zu schaffen – und umgekehrt ihre Rechte und die Wichtigkeit des Schulbesuchs zu betonen. Gefährdete Mädchen, die zur Kinderehe gezwungen werden sollen oder bereits verheiratet wurden, leitet Fiinxee an die örtlichen Behörden weiter, damit diese eingreifen können. "Ich werde nie aufhören, mich für die Beendigung der Kinderheirat einzusetzen. Das ist meine Leidenschaft, meine Berufung", sagt Fiinxee lächelnd.
UNICEF arbeitet eng mit der äthiopischen Regierung zusammen und setzt sich seit Jahren für die Beendigung der Kinderehen weltweit ein.
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