"Ein gesundes Mädchen sollte doppelt so viel wiegen"
Sam Mort leitet die Kommunikationsabteilung von UNICEF in Afghanistan. Sie reist häufig durch das Land, um mit Kindern und ihren Familien zu sprechen. Hier erzählt sie von ihren eindrücklichsten Begegnungen.
Vor kurzem reiste ich nach Herat im Westen Afghanistans, um Krankenhäuser zu besuchen. Dort sprach ich mit einer Ernährungsspezialistin, die mangelernährte Kinder behandelt. Sie erzählte mir, dass die Zahl der Fälle von schwerer akuter Mangelernährung in den letzten Monaten um etwa 30 Prozent gestiegen sei. Hinter dieser Prozentzahl verbergen sich afghanische Kinder, die sterben können, wenn sie keine Hilfe erhalten.
Im Büro der Ernährungsspezialistin traf ich ein vierjähriges Mädchen namens Parwana. Ihre Mutter Malika trug sie hinein und setzte sie auf einen Stuhl. Parwana bewegte sich nicht. Sie hielt die ganze Zeit den Kopf gesenkt, sie war einfach zu schwach und zu müde, um zu reagieren. Die Ernährungsspezialistin maß und wog das Mädchen. Parwanas Gewicht betrug nur 9,8 Kilogramm. Ein gesundes vierjähriges Mädchen sollte doppelt so viel wiegen.
"Zu schmerzhaft zu verdauen"
Der Arzt stellte ein Rezept aus, und Malika holte aus der Apotheke 28 Pakete mit Spezialnahrung. Damit setzte sie sich auf den Bürgersteig, riss die Ecke einer Packung der angereicherten Erdnusspaste ab und forderte Parwana auf, zu essen. Parwana lutschte langsam daran, doch schon bald zuckte sie vor Schmerzen zusammen. Es war zu schmerzhaft für sie, die vitamin- und mineralienreiche Paste zu verdauen. Sie versuchte es wieder und wieder. Ich konnte sehen, dass sie es mochte und wollte, aber sie brauchte etwa zwanzig Minuten, um fünf oder sechs Bissen zu schlucken.
Es war herzzerreißend, ihr dabei zuzusehen. Nach einer halben Stunde fiel es ihr dann leichter zu essen. In einer der Pausen, die sie beim Essen häufig machte, sah sie mich schließlich zum ersten Mal an.
Ich nahm ihre Hand und sagte ihr: "Du wirst ein starkes Mädchen sein, wenn ich dich wiedersehe."
Sie begann zu lächeln. Als ich mich verabschiedete, wackelte sie sanft mit den Fingern, ganz subtil. Es war eine so zerbrechliche Geste, aber sie sagte so viel aus.
Im Video fasst Sam Mort ihre Begegnung mit Parwana noch einmal zusammen (in englischer Sprache):
Die Erinnerung an Parwana wird mir noch sehr lange im Gedächtnis bleiben. Sie hat mir vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dringend alle mangelernährten Kinder zu erreichen und zu behandeln. Ich werde Parwana im Januar wieder besuchen; ich möchte sehen, wie sie sich erholt, und ich bin stolz darauf, dass UNICEF seinen Teil dazu beiträgt. Kinder wie Parwana sind der Grund, warum ich in Afghanistan bleibe und für UNICEF arbeite.
Jedes zweite Kind unter fünf Jahren ist mangelernährt
Zurzeit benötigen in Afghanistan mehr als 24 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Rund 14 Millionen Kinder haben nicht genug zu essen. Parwana ist eines von 1,1 Millionen Kindern unter fünf Jahren, die schwer akut mangelernährt sind und dringende Hilfe benötigen. Deshalb verdoppelt UNICEF die Zahl der mobilen Gesundheits- und Ernährungskliniken, damit wir mehr Kinder in ländlichen Gebieten erreichen können. Deshalb verdoppeln wir die Zahl der Ernährungsspezialist*innen, damit sie gefährdete Kinder erkennen und behandeln können, bevor es zu spät ist. Und deshalb liefern wir mehr therapeutische Spezialnahrung, wie die Erdnusspaste. Weil es funktioniert.
Ärzte und Krankenschwestern in ganz Afghanistan, von denen viele seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten haben, kümmern sich weiterhin um die bedürftigsten Familien, auch wenn sie mit ihren eigenen Ängsten und Nöten zu kämpfen haben. Ich bin voller Bewunderung und Dankbarkeit für ihre Selbstlosigkeit. Sie sind die Besten in ihrem Beruf.
Die Ernährungskrise umfasst das ganze Land. Sie beschränkt sich nicht nur auf ländliche Gebiete, auch die Städte sind betroffen.
Vor ein paar Wochen reiste ich nach Bamiyan im zentralen Hochland. Ich sprach mit einer Mutter in der Ambulanz des Provinzkrankenhauses. Ihr fünf Jahre alter Sohn Aziz war schwer akut unterernährt, aber er erhielt therapeutische Spezialnahrung und aß sie gierig. Der Arzt sagte ihr, dass sie ihrem Sohn jeden Tag vier Beutel der Spezialnahrung geben müsse. Sie weinte leise und fragte ihn: "Was ist mit meinen anderen Kindern?"
Der Arzt antwortete: "Sie müssen auch mit ihnen zur Behandlung kommen." Sie stützte ihren Kopf in die Hände und weinte: "Ich kann nicht hierher zurück kommen, ich habe kein Geld für die Busfahrt."
Sie war eine so verzweifelte Mutter, wie ich sie noch nie gesehen habe. Sie war eine Frau, die keine Möglichkeiten mehr sah. Sie hatte kein Geld und kein Essen für ihre Kinder; schlimmer noch, sie hatte keine Hoffnung.
Tagelöhner ohne Arbeit
Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren und versuchen irgendwie über die Runden zu kommen. Das ist jeden Morgen in den größeren Städten Afghanistans zu beobachten. Gegen 7 Uhr versammeln sich Tagelöhner an einem zentralen Treffpunkt, wo sie darauf hoffen, dass ihnen Gelegenheitsarbeiten angeboten werden. Ich sehe sie dort stehen, wenn ich morgens mit dem Auto vorbeifahre, denn das ist die Zeit, zu der wir oft zu den UNICEF-Projekten fahren.
Am Anfang stehen die Männer stolz und aufrecht da und unterhalten sich angeregt. Zur Mittagszeit, wenn ich zurückkomme, steht die gleiche Gruppe immer noch da. Aber ihre Körpersprache hat sich verändert. Die Männer sitzen zusammengesunken da, Augen geschlossen, und die kameradschaftliche Stimmung ist der Verzweiflung gewichen. Ihnen wurde keine Arbeit angeboten. Ich stelle mir vor, wie sie darüber nachdenken, dass sie gleich nach Hause zurückzukehren und in erwartungsvolle – und dann enttäuschte – Gesichter blicken werden. Sie wissen, dass es heute Abend kein Holz für ein Feuer geben wird, um ihre Kinder warm zu halten.
Wenn ich auf meinen Reisen die Menschen frage, was sie essen, sagen sie mir allzu oft: "Brot und Tee zum Frühstück und zum Mittagessen; Reis oder Kartoffeln zum Abendessen." Obst, Gemüse, Eier oder Fleisch gelten in Afghanistan derzeit als Luxusgüter. Sie sind für die Menschen, die keine Arbeit haben, einfach zu teuer geworden.
Bitterkalter Winter mit Schnee und Eis
Als ich Bamiyan besuchte, war es bereits ziemlich kalt, etwa 5 °C. Ich konnte Schnee auf den Berggipfeln sehen, und die Wasserfälle und Bäche, an denen wir vorbeifuhren, waren zugefroren. Bald werden der Winter und der Schnee das Leben der Familien noch erschweren.
Die Menschen, mit denen ich in Bamiyan gesprochen habe, erzählten mir, dass sie keine Ersparnisse mehr haben und kein Geld, um Brennholz oder Brennstoff zu kaufen. Sie zeigten mir getrockneten Tiermist, den sie als Brennmaterial nutzen. Das ist weder effizient noch riecht es gut. In den Dörfern sah ich Dächer voll mit Stapeln aus Tiermist, sie sahen aus wie Ziegelsteine. Das ist alles was sie haben, um sich im Winter zu wärmen.
Die Familien brauchen dringend mehr Unterstützung. Sie brauchen Decken, warme Kleidung und Planen. UNICEF stockt seine Winterhilfe auf und stellt unter anderem Brennmaterial zur Verfügung, auch um die Klassenzimmer warm zu halten, und Decken, damit es die Schülerinnen und Schüler beim Lernen angenehm haben.
"Bitte UNICEF, sorge für Frieden in Afghanistan, damit wir zur Schule gehen können"
Vor zwanzig Jahren gingen eine Million Kinder zur Schule, die meisten von ihnen waren Jungen. Heute gehen zehn Millionen Kinder zur Schule, 40 Prozent von ihnen sind Mädchen. Wir müssen diese Errungenschaften bewahren.
Als ich kürzlich eine von UNICEF unterstützte Gemeindeschule in Tangi im zentralen Hochland besuchte, fragte ich die Mädchen, ob sie der Welt eine Botschaft mitteilen möchten. Eine Siebenjährige hob die Hand und fragte mit der ganzen Unschuld und Ernsthaftigkeit der Kindheit: "Kann UNICEF bitte den Frieden in Afghanistan erhalten, damit wir weiter zur Schule gehen können?"
Bei dieser Bemerkung standen mehreren Kindern die Tränen in den Augen.
Im Video berichtet Sam Mort direkt aus der Mädchenschule in Herat (in englischer Sprache):
Wie könnten wir nicht alles dafür tun, um ein Fundament für solche Träume zu schaffen? Es ist zwar nicht die Aufgabe von UNICEF, Frieden zu verhandeln – aber es ist unsere Aufgabe, Bildung zu unterstützen. Und wir wissen, dass es nichts Wirksameres für den Aufbau und die Erhaltung des Friedens gibt als die Bildung aller Kinder, damit sie zu einem wohlhabenderen Afghanistan beitragen können.
"Ein 'perfekter Sturm' über Afghanistan"
Im Englischen würden wir sagen, dass ein 'perfekter Sturm' über Afghanistan zieht. Während lebenswichtige Dienste zusammenbrechen und der Winter die Bevölkerung in Atem hält, breiten sich Krankheiten und Hunger rasch aus. In Afghanistan herrscht eine der größten humanitären Krisen, mit denen die Welt konfrontiert ist.
UNICEF verstärkt daher seine Arbeit im ganzen Land: Wir schaffen Hilfsgüter in Regionen, die bald durch den Winter isoliert sein werden. Wir verdoppeln die Zahl der mobilen Gesundheits- und Ernährungskliniken sowie die Zahl der Ernährungsspezialist*innen, um die am stärksten mangelernährten Kinder zu behandeln. Wir impfen Kinder gegen vermeidbare Kinderkrankheiten, darunter Masern und Polio, und wir weiten unsere Bargeldhilfe für Familien aus, damit sie sich das kaufen können, was sie am dringendsten brauchen, sei es Winterkleidung, Lebensmittel oder sicheres Wasser – und das in Würde.
Ich bin stolz darauf, dass UNICEF nach rund 70 Jahren ungebrochener Erfolgsgeschichte in Afghanistan geblieben ist, während die Führung des Landes wechselte. Im August und September, als die Lage unsicher war und wir zu unseren Einsätzen fuhren, sahen die Menschen unsere Autos und sagten zu uns: "Ihr seid geblieben! Wenn UNICEF hier ist, dann wird alles gut."
Wie kann man Kindern in Afghanistan helfen?
Wir von UNICEF bleiben trotz aller Unsicherheit an der Seite der Mädchen und Jungen in Afghanistan. Sie brauchen uns in der aktuellen Lage mehr denn je.
Jetzt angesichts des Winters und der sich verschärfenden Hungerkrise müssen wir den Einsatz ausweiten. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Helfen Sie den Kindern mit Ihrer Spende zum Beispiel für eines der Hilfsgüter, die aktuell besonders benötigt werden. Jeder Beitrag hilft. Vielen Dank!
Diese Hilfsgüter werden jetzt in Afghanistan gebraucht
Als Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen sind wir unabhängig und politisch neutral. Wir ergreifen in jedem Land der Welt ausschließlich Partei für Kinder – so auch in der aktuellen Afghanistankrise. Wenn Sie für unsere Nothilfe-Arbeit in Afghanistan spenden, dann fließt das Geld direkt in unsere Hilfsprojekte vor Ort oder an unsere Partner, mit denen wir uns gemeinsam für die Kinderrechte in Afghanistan einsetzen. UNICEF ist seit über 70 Jahren ununterbrochen in Afghanistan für Kinder aktiv.
* Sam Mort hat uns diese Eindrücke und Begegnungen in einem Videocall in englischer Sprache geschildert. Wir haben sie für diesen Blogbeitrag für Sie übersetzt.