© UNICEF/UN0760655/Bundzylo1 Jahr Ukraine-Krieg: Katia verlor bei einem Raketenangriff ihre Mutter.
Kinder weltweit

Ukraine-Krieg: Katia (13) überlebt einen Raketenangriff – aber verliert ihre Mutter

Seit ein paar Wochen herrschte bereits Krieg in der Ukraine, als die 13-jährige Ukrainerin Katia und ihre Familie am 8. April 2022 eine existenzielle Entscheidung trafen: Sie würden aus ihrer Heimat, dem Donbass, flüchten. Mit dem Evakuierungszug würden sie nach Kramatorsk fahren. Der Zug sollte Katia und ihre Familie endlich in Sicherheit bringen, heraus aus der Gefahrenzone. Doch stattdessen passierte das Gegenteil.


von Susanne Nandelstädt 3

Tragödie am Ankunftsbahnhof

Katia erinnert sich noch genau an den Moment, als sie nach der rund 170 Kilometer weiten Fahrt mit ihrer Schwester, Mutter und Tante am Bahnhof von Kramatorsk ankam: "Eigentlich war alles in Ordnung, aber ich hatte das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren würde", erzählt sie von der unguten Vorahnung bei ihrer Ankunft. Katia und ihre Mutter wollten nur schnell einen Tee kaufen, während ihre Schwester und ihre Tante auf das Gepäck aufpassten.

Ukraine-Krieg: Katia bekam im Krankenhaus oft Besuch von ihrer Tante Olya

Katia und ihre Tante Olya. Ihre Mutter und ihre Tante waren Zwillinge.

© UNICEF/UN0760654/Bundzylo

"Während wir in einer Schlange standen, war ich einige Momente in Gedanken", sagt Katia. "Und dann plötzlich hörte ich die Leute um mich herum schreien: 'Leg dich hin!' Ich habe gar nicht richtig gemerkt, was passierte, und wurde auf den Boden gestoßen."

Innerhalb von Sekunden wurde klar, dass eine Rakete den Bahnhof getroffen hatte. Das große Zelt, in dem eben noch der Tee zubereitet worden war, brach über Katias Kopf zusammen. "Ich schaute auf mein Bein und sah, dass meine Jeans voller Blut war. Ich schaute zu meiner Mutter neben mir. Ich dachte, sie wäre ohnmächtig geworden, und habe sie angestoßen. Aber sie hat nicht reagiert."

Ukraine-Krieg: Viele Kinder wie Katia wurden bei Angriffen verletzt.

Katias Mutter wurde bei einem Angriff getötet. Katia selbst wurde verletzt.

© UNICEF/UN0760652/Bundzylo

Schreckliche Nachricht auf Facebook

Katia rief verzweifelt um Hilfe. Ein Mann kam und half ihr, sich auf eine Bank zu setzen. Sie fragte, was mit ihrer Mutter passiert sei, aber man sagte ihr nur, dass sie zuerst Kinder und dann Erwachsene retten würden. Erst viel später erfuhr sie, dass ihre Mutter bei dem Angriff ums Leben gekommen war. Niemand teilte ihr die schreckliche Nachricht persönlich mit. Katia erfuhr es auf Facebook: "Als ich im Krankenhaus war, habe ich meinen Facebook-Feed durchgeguckt und einen Post über mich entdeckt", sagt sie. "Darin stand, dass Leute Geld für meine Behandlung sammelten. Und dass meine Mutter gestorben ist." Katias Verwandte hatten ihr nichts gesagt – aus Sorge darüber, wie sie reagieren würde.

Durchlöchert von Granatsplittern

Obwohl ihre Beine von Granatsplittern regelrecht durchlöchert waren, hatte Katia direkt nach dem Angriff ihre Verletzungen kaum wahrgenommen. "Ich habe erst im Krankenhaus Schmerzen gespürt", sagt sie. "Vom Krankenhaus in Kramatorsk wurde ich nach Dnipro [250 Kilometer weiter Richtung Westen, Anm. d. Red.] gebracht. Meine Tante und meine Schwester waren dort in der Nähe in einer Kirche untergekommen und kamen mich oft besuchen. In Dnipro blieb ich etwa einen Monat lang. Ich konnte nicht laufen und hatte mehrere Operationen und andere medizinische Eingriffe. Mein Verband wurde immer unter Narkose gewechselt, weil es so schmerzhaft gewesen ist."

Ukraine-Krieg: Katia trainiert auf einem Laufband mit einem Physiotherapeuten

Nach dem Raketenangriff konnte Katia nicht mehr laufen. Jetzt trainiert sie mit einem Therapeuten ihre Beinmuskulatur.

© UNICEF/UN0760650/Bundzylo

"Emotional bin ich immer noch sehr verletzt"

Später wurde Katia erneut verlegt, diesmal in ein Krankenhaus nach Lwiw (Lemberg) im Westen der Ukraine, weit über 1.000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Ihre Tante und ihre Schwester kamen sie auch hier regelmäßig besuchen. Katia konnte ihre Behandlung in Lwiw weiter fortsetzen und wurde dabei sowohl von Psycholog*innen als auch von Ärzt*innen unterstützt. "Sie helfen mir, mich zu erholen und alles zu verarbeiten, was passiert ist“, sagt Katia. "Aber emotional bin ich immer noch sehr verletzt."

Erinnerung an letzte Momente mit ihrer Mutter

Ukraine-Krieg: Katia und ihre Schwester mussten flüchten.

Katias kleine Schwester Yulia (rechts neben ihr) möchte nicht über das Erlebte sprechen.

© UNICEF/UN0760660/Bundzylo

Ihre kleine Schwester Yulia spricht nicht über das, was passiert ist. Die 8-Jährige wechselt jedes Mal das Thema, wenn es um die Tragödie vom Raketenangriff und dem Tod ihrer Mutter geht. Die letzten Momente mit ihrer Mutter wird Katia nie vergessen. In Kramatorsk angekommen, hatte ihre Mutter sie gebeten, ein Foto von den Beiden zu machen. Es war das letzte Foto von ihr.

Der Krieg macht mir Angst. Während der Angriffe hatte ich Angst, stundenlang in einem Keller zu sitzen. Bei jedem Luftalarm habe ich Angst, dass wir getroffen werden könnten. Ich möchte der ganzen Welt sagen, dass der Krieg kein Fake ist.

Ukraine-Krieg: Katia hat bei einem Angriff ihre Mutter verloren.

Katias Weg nach ihrem Verlust

Die 13-Jährige vermisst ihre Freund*innen sehr, aber auch ihr Haus und ihren Hof, in dem sie vor dem Krieg Rad gefahren und geskatet ist. Ihre Großeltern wohnen noch in der umkämpften Region Donezk. Katia sehnt sich danach, bei ihnen zu sein und wieder Himbeerpfannkuchen mit ihnen zu backen, so wie früher. Jeden Tag telefoniert sie mit ihren Großeltern.

Sie zeichnet und malt auch gerne und träumt davon, Model zu werden: "Ich habe mal ein Fotoshooting in Lwiw gemacht", sagt Katia. "Ich mag Kleidung, also könnte ich vielleicht auch Designerin oder Stylistin werden. Außerdem liebe ich TikTok", fügt sie hinzu. Nach der Zeit im Krankenhaus lebt Katia jetzt mit ihrer Schwester zusammen bei ihrer Tante.

UNICEF-Hilfe für Kinder aus der Ukraine

Seit einem Jahr hält der Krieg in der Ukraine an. In dieser Zeit sind weit über 1.000 Kinder bei Angriffen getötet oder verletzt worden. Unsere Hilfe für Kinder aus der Ukraine geht weiter, so lange sie nötig ist.

Blog

Ukraine-Krieg: So können Sie mit UNICEF helfen

In den vergangenen zwölf Monaten haben wir viel erreicht für die vom Krieg betroffenen Familien. Ein paar Beispiele: Seit dem 24. Februar haben wir mehr als fünf Millionen Kinder und Frauen gesundheitlich versorgt. Mehrere Millionen Kinder wurden von unseren Mitarbeiter*innen psychologisch und sozial unterstützt. Rund fünf Millionen Menschen erhielten durch unsere Nothilfe-Arbeit wieder Zugang zu sauberem Trinkwasser. Und mehr als 300.000 bedürftige Haushalte haben von uns kleine Geldbeträge erhalten, so genannte "Cash Assistance", die die Familien flexibel in ihrer Notsituation einsetzen konnten.

InfoUkraine: Alle Blogs auf einen Blick

Sie möchten mehr UNICEF-Blogs zur Ukraine lesen? In unseren Blogbeiträgen zur Ukraine schildern wir die aktuelle Situation der Kinder, geben Tipps, wie man mit Kindern über den Krieg sprechen kann, und erklären Ihnen, wie sich der Konflikt über die Jahre entwickelt hat.

Zu den Ukraine-Blogs

+++ Katias Geschichte erschien im Original auf der englischsprachigen UNICEF-Website. Wir haben den Blogbeitrag für Sie übersetzt und leicht angepasst. +++

UNICEF-Online-Redakteurin Susanne Nandelstädt
Autor*in Susanne Nandelstädt

Susanne Nandelstädt arbeitet als Online-Redakteurin für UNICEF. Im Blog schreibt sie über UNICEF-Projekte weltweit.