Flüchtlingskinder: Die Angst reist immer mit
Eine Szene in diesen Tagen in Deutschland:
Ein erwachsener Flüchtling aus Afghanistan ohne gültige Fahrkarte wird auf rüde Art aus dem Zug Köln-Hamburg bugsiert. Auf dem Bahnsteig Münster ruft der Mann laut und verzweifelt, so wie er sich verständlich machen kann, immer wieder nach seinem Kind. Der Zug fährt an, und die Mitreisenden sehen, dass tatsächlich sein ungefähr sechs Jahre altes Kind allein im Wagen geblieben ist. Stellen wir uns nur einen Moment lang vor, was in einem kleinen Kind vorgeht, das nach Monaten auf der Flucht, voller Angst, plötzlich nicht einmal mehr die sichere Nähe seines Vaters oder seiner Mutter hat. Niemand im Zug spricht die Sprache des völlig aufgelösten Kindes – wir können ihm nur wünschen, dass spätestens in Hamburg die Zusammenführung mit dem Vater gelang.
Nun kann man den Schaffner rücksichtslos schimpfen. Vielleicht war er, wie so viele von uns dieser Tage, schlicht mit der Situation überfordert. Viel wichtiger ist, dass wir angesichts der gewaltigen Aufgabe, so viele Menschen in unserem Land rasch gut unterzubringen und zu versorgen, eines immer wieder vor Augen führen:
Jedes Mädchen, jeder Junge, dem wir nach seiner strapaziösen, gefährlichen Flucht begegnen, ist in erster Linie ein Kind.
Ein Kind mit besonders großen Bedürfnissen. Ein besonders verletzliches Kind, das ein Recht auf eine Kindheit hat. Und ein Recht auf Bildung. Schule ist nicht trotz, sondern gerade wegen der besonderen Situation von Flüchtlingskindern enorm wichtig, sie gibt ihnen Halt, den sie so dringend brauchen.
Die Schulpflicht für Flüchtlingskinder aufzuschieben, wie es vereinzelt aus der Politik in den vergangenen Tagen gefordert wurde, wäre deshalb ein großer Fehler und übrigens auch ein Verstoß gegen die weltweite gültige UN-Kinderrechtskonvention.
Größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg
Die Bilder erschöpfter, verängstigter Menschen auf der Flucht berühren uns sehr, und sie gehen uns alle an. Niemand sollte die Augen davor verschließen, dass wir alle – in Deutschland, in Europa, aber noch mehr in den betroffenen Konfliktregionen wie Syrien und seinen Nachbarländern, im Irak, oder Afghanistan – eine immense Aufgabe zu schultern haben. Wir sprechen über die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg, und diese Krise wird in den kommenden Monaten größer. Und sie wird andauern.
Warum sich so viele Menschen auf dieser verzweifelten Flucht befinden und dabei oft ihr Leben riskieren, verdeutlichen zum Beispiel die schrecklichen Erlebnisse, die mir syrische Kinder immer wieder bei Besuchen in Flüchtlingsunterkünften im Nordirak, im Libanon oder in Jordanien berichten. Mädchen schildern, wie sie auf dem nächtlichen Weg über die Grenze ins Kreuzfeuer gerieten und dabei die Mutter verloren. Andere berichten von Folterungen. Die nächsten sind nicht in der Lage, über das Erlebte zu sprechen.
Fluchtursachen: Kinder erzählen von Fassbomben und Folterungen
Zwischen den verwirrenden, wechselnden Frontlinien innerhalb Syriens gibt es keine Tabus, keine Rücksicht mehr gegenüber Kindern. Scharfschützen nehmen sie ins Visier, Fassbomben fallen auf ihre Schulen. Sie werden Hass gelehrt und zum Kämpfen ausgebildet. All das macht die Realität aus, der diese Kinder entfliehen, mal mit ihrer Familie, oft nur mit einem Elternteil oder Verwandten, allzu häufig ohne Erwachsene, die ihnen Schutz und Fürsorge bieten könnten.
Vergessen wir nicht, dass die meisten vertriebenen und fliehenden Familien noch innerhalb Syriens und in der weiteren Region auf der Suche nach einer sicheren Bleibe sind. Dort sind 14 Millionen Kinder von dem Konflikt betroffen, der sich in immer noch ansteigender Brutalität dreht – zum Vergleich: Das sind mehr als alle Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Deutschland.
In Syrien, im umkämpften Aleppo zum Beispiel, droht in diesen Wochen zusätzlich zu all den Lebensgefahren eine dramatische Wasserknappheit – mit all den bedrohlichen Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder. Wenn nicht Regierungen und private Spender sehr bald in großem Umfang weiter Geld für die Hilfe in Syrien, Jordanien, dem Libanon bereitstellen, wird UNICEF wie auch andere Organisationen dort weniger Menschen mit Wasser versorgen, weniger Kinder in Notschulen oder in betreute Spielangebote an geschützten Orten bringen können.
Mit Hochdruck müssen wir auch die Hilfe auf den Transitrouten verstärken und auch dort besonders die Kinder im Blick haben. Unser UNICEF-Team in Mazedonien unterstützt in Geveglija an der Grenze zu Griechenland einen „kinderfreundlichen Ort“, an dem Flüchtlingskinder für ein paar Stunden in geschützter Umgebung spielen und neue Kraft schöpfen können. Die Kollegen versuchen auch, unter oft chaotischen Bedingungen, in Zügen und auf Bahnhöfen Kinder, die allein unterwegs sind, wieder mit ihren Familien zusammenzubringen.
Für die Arbeit der UNICEF-Helfer vor Ort, brauchen wir dringend Ihre Hilfe! Ihr Beitrag macht einen Unterschied.
Schutz der Kinder muss unser aller Antrieb sein
Viele Flüchtlingskinder haben eine lange, furchtbare und gefährliche Reise hinter sich, wenn sie in Europa ankommen. Ihre teils schrecklichen Erlebnisse zum Beispiel aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan tragen sie als schwere Last mit sich. Sie schleppen die Erinnerung mit in die übervollen Züge durch Griechenland und die Balkanstaaten. Zu der jahrelangen Angst im Kopf kommt die neue Furcht, ertappt, gestoppt, festgenommen und wieder abgeschoben zu werden. Sie hasten durch den Zug, verstecken sich, machen sich immer noch kleiner, um nicht aufzufallen.
Es sind immer neue Etappen der Unsicherheit, des Ungewissen, die diese Kinder vielleicht bis nach Deutschland führen. Am Ende dieses Jahres werden es vielleicht mehrere Hunderttausend sein, wenn die jüngsten Prognosen des Bundesinnenministeriums eintreffen.
Wenn wir all das über das Schicksal dieser Kinder wissen, dann muss die bestmögliche Fürsorge und Betreuung, muss der Schutz dieser Kinder unser aller Antrieb sein. Und dies unabhängig von der Frage, warum sie geflohen sind, wo sie stranden, wie lange und auf welchem Wege sie unterwegs waren, welchen Aufenthaltsstatus sie haben.
Auch Flüchtlingskinder sind in erster Linie Kinder. Wir müssen sie auch so behandeln.