4 Jahre Syrien-Konflikt: Meilenstein der Unmenschlichkeit
Es gibt im Kalender Jahrestage, die Fortschritte in der Geschichte der Menschheit markieren, oder freudige Ereignisse. Wenn in diesen Tagen der Syrien-Konflikt unaufhaltsam in sein fünftes brutales Jahr marschiert, dann schauen wir auf einen Meilenstein der Unmenschlichkeit. Und auf die größte humanitäre Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.
Wir Erwachsene haben schon größte Mühe, den sich immer schneller drehenden Kreislauf der Gewalt in der Region noch zu verstehen. Wie viel schrecklicher, beängstigender, verstörender ist dieser Krieg aus der Sicht der Kinder?
Kein sicherer Ort für Kinder in Syrien
Etwa 10.000 Jungen und Mädchen aus Syrien, wahrscheinlich sogar viele mehr, werden diese Frage nie mehr beantworten können. Sie sind unter den Trümmern von Homs oder Aleppo begraben, starben durch den Heckenschützen, der gezielt auf sie anlegte. Oder durch die Bomben, die genau in dem Augenblick fielen, als hungernde Menschen um Brot anstanden, wie mir im Norden des Libanon eine Frau erzählte, die das in Damaskus erlebt oder besser: überlebt hat.
Nichts ist mehr sicher für die Kinder in Syrien: Wohnhäuser und Krankenhäuser stehen immer wieder auf der Liste für gnadenlose Angriffe. Allein im Jahr 2014 haben wir 68 Attacken auf Schulen gezählt. Jede fünfte ist zerstört oder schwer beschädigt - was für ein barbarisches Symbol.
14 Millionen Kinder leiden unter dem Syrien-Konflikt
Wenn UNICEF nach vier Jahren dieses monströsen Syrien-Konfliktes die Bilanz aus der Sicht der Kinder zieht, dann sprechen wir von 14 Millionen Jungen und Mädchen, die betroffen sind. Das sind mehr als alle Kinder, die bei uns in Deutschland aufwachsen. Das sind die eingekesselten Kinder in den schwer umkämpften syrischen Städten, die Kinder in den Flüchtlingslagern Jordaniens oder jene in den Zeltsiedlungen der Bekaa-Ebene in Libanon, die ich dieser Tage besucht habe.
Aber wir zählen auch die vielen Kinder aus armen libanesischen Familien, für die das Überleben aufgrund der Syrienkrise noch schwieriger geworden ist. Denn Arbeit und bezahlbarer Platz zum Wohnen war schon vor Ankunft der Flüchtlinge knapp. Sie haben die verzweifelten Syrer willkommen geheißen, doch nun sind es 1,2 Millionen. Jeder vierte Mensch im kleinen Libanon mit so vielen, komplexen Problemen ist ein Flüchtling, kein anderes Land der Erde hat eine Aufgabe solchen Ausmaßes zu schultern.
Amira (7): Mehr Angst und Tod als ein Mensch ertragen kann
Im Gepäck haben diese Menschen Geschichten wie die von Amira. So verletzlich und schüchtern das siebenjährige Mädchen mir in dem kleinen Flüchtlingslager bei Saadnayel begegnete, so sehr steht sie nun für mich für die furchtbare Wucht, mit der dieser Krieg nun schon vier Jahre lang Kinder wie Amira trifft.
Während Amira mit feinem Strich auf einem Blatt Papier Figuren zeichnet, erklärt mir die Psychotherapeutin Dr. Paula Harika, welche Spuren die Gewalt in Amiras Seele hinterlassen hat. Als sie das Mädchen vor gut drei Monaten das erste Mal sah, saß Amira in einem Rollstuhl. Amira hatte den Krieg gesehen. Sie war mit ihrer Mutter, ihrem elfjährigen Bruder und weiteren Familienmitgliedern immer weiter vor den Bomben und den Schüssen in Syrien geflohen, vom umkämpften Homs über Al Koseir schließlich nach Libanon in die Stadt Arsal. Und als auch dort die Gewalt einschlug, retteten sie sich weiter hinein in die Bekaa-Ebene, wo schon so viele andere Syrer Zuflucht gesucht hatten.
"So viele dieser Kinder kennen nur noch Angst und Tod, sie haben keinerlei Vertrauen mehr, wollen nichts an sich heranlassen", sagt die Psychotherapeutin. Und sie sagt mir auch, dass Amira mehr von all dem gesehen hat als ein Mensch ertragen kann. Inmitten des voranschreitenden Syrien-Konfliktes erlebte Amira zunächst den tödlichen Unfall ihrs Vaters aus nächster Nähe mit. Ihr Onkel übernahm für sie die Rolle des Vaters - und starb ein halbes Jahr später unter den Bomben. Amira erlebte es mit. Und nur wenig später musste das Mädchen erleben, wie vor seinen Augen ein weiterer Onkel erschossen wurde. Zu viel Grauen für eine gesunde Seele. Amira magerte ab, konnte sich, tief traumatisiert, nicht mehr auf den Beinen halten.
Paula Harika, die für die von UNICEF geförderte libanesische Organisation "Beyond" arbeitet, trifft auf immer mehr Kinder wie Amira: „40 von 100 syrischen Kindern in den Siedlungen hier sind betroffen vom Trauma des Krieges, etwa acht brauchen strukturierte individuelle Therapie. Das sind viel mehr als man es aus anderen Krisensituationen kennt.“ Der Krieg hat sich in vier Jahren immer tiefer in die Seelen der Kinder gebrannt. Wen wundert es: „Es gibt hier ein Camp, in dem haben von 300 Kindern 100 den Vater durch den Krieg verloren“, sagt Paula Harika.
Dank der UNICEF-Hilfe kann Amira wieder laufen
Etwa 350.000 Kinder hat UNICEF im Libanon mit psychosozialen Angeboten wie betreuten Spielen, Malen, Gruppenaktivitäten und individueller Therapie erreicht. Das sind 350.000 Kinder, die nach dem plötzlichen Verschwinden ihrer Kindheit zumindest ein paar Stunden Zuwendung, Entspannung, Gemeinschaft, vielleicht sogar Glück empfunden haben.
Ich treffe Amira drei Monate und viele Tests, viele Gespräche, viele Umarmungen, viele immer farbenfrohere Bilder später. Sie nimmt mich leicht zitternd an der Hand und führt mich mit vorsichtigen, noch immer etwas wackligen Schritten über den Schotter zu den Schulzelten von "Beyond". Den Rollstuhl braucht sie nicht mehr, die Blockade ist aus ihren Beinen verschwunden. Ihre Gehhilfe bewahrt sie wie ein Souvenir im Zelt der Familie auf.
Zum Abschied schenkt sie mir ihr Bild. Darauf blüht ein Apfelbaum, und wunderschöne Wesen in traumhaften Kleidern scheinen zu tanzen, ganz leichtfüßig. Wie Prinzessinnen. Prinzessin, das bedeutet Amira, ins Deutsche übersetzt.