Nach fünf Jahren Krieg in Syrien: Kein einziger sicherer Ort für Kinder
Den Syrien-Krieg kann niemand gewinnen – es braucht einen Sieg der Menschlichkeit
In den Geschichtsbüchern wird über den Bürgerkrieg voraussichtlich einmal stehen, dass dies ein erstes großes Versagen der internationalen Gemeinschaft im 21. Jahrhundert war.
Aber noch haben die vielen Kriegsherren in diesem Konflikt mit seinen über 50 Fronten nicht an die Historiker übergeben. Noch, noch immer nach fünf furchtbar langen Jahren, sind wir in der Gegenwart dieses Krieges.
44.000 Stunden Krieg – jede Stunde Waffenruhe zählt
Und deshalb ist jede weitere Stunde Feuerpause so wichtig. Schon, weil sie schlicht einigen Kindern, Müttern, Familienvätern mehr eine Chance auf Überleben lässt, nach fast 44.000 Stunden Krieg.
Wir dürfen, so naiv das heute klingen mag, nicht nachlassen, an das Gewissen derjenigen zu appellieren, die am Abzug oder am Zünder oder an den Tischen der Entscheidung sitzen in diesem Krieg, dem nach Schätzungen schon weit über 250.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Die Verhandlungsführer in Genf müssen Erfolg haben. Unbedingt.
Auch wenn Millionen Syrer nicht mehr wissen, worauf genau sie in ihrer verzweifelten Lage eigentlich noch hoffen sollen: Die Hoffnung auf einen Frieden in Syrien war nie größer als in diesen Tagen.
Das gilt vor allem für die Kinder selbst. Kinder, wie ich sie vor einigen Tagen in der Bekaa-Ebene des Libanon, in Tripoli und anderen Orten getroffen habe: Sie träumen von ihren Freunden, von ihren Großeltern, die noch in Syrien sind, von ihrer Schule, ihrem Garten.
3,7 Millionen syrische Kinder unter fünf Jahren kennen nur Krieg
Der Kontrast zwischen den Träumen der Kinder und der Realität dieses Krieges könnte nicht größer sein. Umso wichtiger ist es, zum fünften Jahrestag das jüngste, aktuelle Gesicht des Konfliktes zu zeichnen. Es ist eine Grimasse, die mit jedem Kriegsjahr, mit jedem Tag voller Schüsse, Einschläge, Explosionen mehr zum Schrecken für Kinder geworden ist.
„Kein Ort für Kinder“ heißt deshalb auch der UNICEF-Report, mit dem wir am heutigen Tag über die Auswirkungen von fünf Jahren Krieg auf diese Kinder berichten.
300.000 dieser Kinder sind schon als Flüchtlinge auf die Welt gekommen. Und Za’atari, das große Flüchtlingslager in Jordanien, hat kürzlich das fünftausendste Neugeborene begrüßt – Statistik einer Krise, die vor allem Kinder so unglaublich hart trifft.
Keines dieser Kinder kennt das friedliche Syrien seiner Eltern. Mit dem Moment ihrer Geburt zogen auch schon Mörserattacken, Bombenangriffe, bange Stunden im Keller und die Furcht vor Scharfschützen in ihr Leben ein.
Und die 3,7 Millionen syrischen Kriegskinder unter fünf Jahren sind nur jene, die es bisher geschafft haben.
Allein zwischen 2011 und 2013 ging für mindestens 10.000 Jungen und Mädchen das Leben unter einstürzenden Trümmern, unter gezielten Schüssen gleich welcher Kriegspartei, durch Folter oder Hinrichtung auf furchtbare Art und Weise zu Ende. Von viel zu vielen getöteten Kindern haben wir seither unter der andauernden Gewalt nicht einmal Notiz nehmen können.
Was wir wissen: Immer wieder sterben Kinder ausgerechnet dort, wo sie sich unbedingt geschützt und sicher fühlen müssen, in der Schule. Vierzig Angriffe auf Schulen hat UNICEF allein im vergangenen Jahr verifiziert.
Syrien – der gefährlichste Ort für Kinder
Zwei Mal so viele Menschen wie noch 2013 leben im Zustand der Belagerung oder sind weitgehend von humanitärer Hilfe abgeschnitten, weil Konvois nicht zu ihnen durchdringen können. Darunter sind auch zwei Millionen Kinder. Kinder, über die ein Arzt den UNICEF-Kollegen sagte: „Diese Kinder müssen beinahe wieder lernen, was es heißt, Mensch zu sein. Sie beginnen, sich nicht normal zu verhalten. Sie hören auf zu sprechen […] Es ist, als seien sie ausgeschaltet.“
Unsere UNICEF-Kolleginnen und -Kollegen haben in Syrien die schwere Aufgabe übernommen, die grausamen Übergriffe gegen Kinder zu dokumentieren. Sie sprechen mit Eltern, deren Kinder auf dem Weg durch ihr Stadtviertel von Heckenschützen erschossen wurden, mit Lehrern oder Krankenschwestern.
Allein im vergangenen Jahr haben unsere Teams die schockierende Zahl von 1.500 schweren Menschenrechtsverletzungen an Kindern festgehalten und verifiziert. Das sind vier furchtbare Übergriffe Tag für Tag.
Unglaubliches Panorama der Gewalt
Das Panorama der Gewalt an Kindern reicht von Entführungen, Attacken auf Krankenhäuser und Spielplätze über gezielte Tötungen einzelner Kinder hin zur Rekrutierung für den Kampf.
Je länger die Kämpfe dauern, desto weniger schrecken die Kriegsherren davor zurück, Minderjährige für ihren Kampf der Erwachsenen zu missbrauchen. Sie werden immer öfter direkt an der Front eingesetzt, um Waffen zu tragen, Verletzte zu versorgen. Aber auch, um selbst als Scharfschützen oder bei Exekutionen auf andere anzulegen – ein weiterer Exzess in diesem Krieg, der offenbar keine Grenzen mehr kennt.
Die Kinder sind immer jünger, manchmal erst sieben Jahre. Viel zu viele haben keine Chance, älter zu werden: 2015 allein wurden über 100 Minderjährige im Kampf verletzt oder getötet, auch das konnte UNICEF verifizieren.
Die Kinder, die den Krieg bisher überlebt haben, tragen dennoch tiefe Verletzungen davon. Die sichtbaren, die Schussverletzungen oder Knochenbrüche, können Ärzte oft heilen. Und die wenigen in Syrien verbliebenen Mediziner versuchen das – in der einstigen Millionenmetropole Aleppo sind zwischen den Trümmern noch zehn Kinderärzte für etwa 140.000 Kinder da.
Doch was ist mit den seelischen Wunden?
Wo der Konflikt besonders heftig tobt, berichten die Eltern, dass 98 Prozent der Kinder Anzeichen tiefer psychologischer und emotionaler Probleme zeigen, also buchstäblich jedes Kind. Sie reichen vom Bettnässen und Alpträumen bei den Jüngeren bis hin zu Frust, Aggression und Depression bei den Jugendlichen. Erst vor wenigen Tagen berichteten mir Eltern in den Notlagern des Libanon ebenfalls von solchen Anzeichen.
Vielen Kindern und Jugendlichen machen neben den direkten Gewalterfahrungen auch die Ohnmacht und Verzweiflung der Eltern zu schaffen, die Ausweglosigkeit ihrer Fluchtsituation, die Probleme in den Familien nach Jahren in Notlagern, die Ablehnung anderer – wo auch immer sie sich auf der Flucht gerade aufhalten.
Fünf lebenswichtige Schritte für die Kinder aus der Region
Ganz gleich, wie lang und schwer der Weg zum Frieden für Syrien noch ist: UNICEF hat in fünf Punkten zusammengefasst, was jetzt, sofort, wichtig ist, damit die Menschenrechtsverletzungen an Kindern endlich aufhören. Damit wir nicht eine ganze Generation verlieren. Damit das Töten unschuldiger Menschen gestoppt wird, die diesen Krieg schon vor fünf Jahren nicht gewollt haben:
1. Schützt die Kinder
UNICEF ruft alle Konfliktparteien dazu auf, die Grundlagen internationaler humanitärer Arbeit und die Menschenrechte zu respektieren und sofort das Töten, die Entführung, die Folter, die Verhaftung, die sexuelle Gewalt gegen und Rekrutierung von Kindern zu beenden.
2. Zugang für humanitäre Hilfe
Der Zugang zu belagerten oder von Hilfe abgeschnittenen Gemeinden darf keine vereinzelte Geste oder ein Zeichen guten Willens sein. Alle Konfliktparteien müssen sofortigen, ungehinderten und dauerhaften Zugang gewährleisten, um direkte Hilfslieferungen zu ermöglichen, aber auch medizinische Versorgung vor Ort, die Evakuierung kranker und verletzter Kinder sowie Untersuchungen der Lage.
3. Investieren, damit die Kinder lernen können
UNICEF und seine Partner in der Initiative „No Lost Generation“ benötigen in diesem Jahr dringend 1,4 Milliarden US-Dollar, um insgesamt etwa vier Millionen Kindern in Syrien und den Nachbarländern Zugang zu Schulen oder außerschulischen Bildungsangeboten zu bieten.
4. Die Würde wiederherstellen
Zu viele Kinder sind ihrer Würde beraubt worden, durch Gewalt, unmenschliche Lebensbedingungen auf der Flucht, Ausbeutung, zunehmende Armut. UNICEF ruft dazu auf, bessere Schutzmechanismen für diese Kinder zu schaffen sowie psychosoziale Angebote, die den Kindern helfen, mit ihren extremen Erfahrungen umzugehen. Das ist auch eine Grundlage für einen dauerhaften Frieden.
5. Finanzielle Versprechen halten
Auch nach der Geberkonferenz in London vor einigen Wochen ist die Hilfe in Syrien längst nicht ausreichend abgesichert. Die Hilfe braucht Verlässlichkeit, muss planbar sein. Aber sie muss auch rasch fließen. UNICEF braucht über eine Milliarde US-Dollar, um 2016 weiter das leisten zu können, was die Kinder und ihre Familien in Syrien und der Region dringend brauchen. Bis Anfang März waren dafür erst 74 Millionen Dollar eingegangen.
Das Undenkbare hoffen: Zurück nach Hause, zurück nach Syrien
Im Libanon traf ich vor ein paar Tagen eine Familie, die aus ihrer Heimatstadt Hama geflohen war. Wie für die meisten der über eine Million Syrer, die jetzt in Tausenden kleinen Lagern, in nicht fertig gestellten Gebäuden und anderen Notunterkünften mehr schlecht als recht überleben, war für Vater und Mutter eins besonders wichtig: Sie möchten in der Nähe ihrer Heimat sein.
Die Eltern sind über WhatsApp mit ihren Verwandten verbunden, die noch immer im Kriegsgebiet ausharren – so lange das Netz funktioniert. Die Familie wünschte sich nach vier Jahren auf der Flucht, was die Mutter mit einem Lächeln der Verzweiflung aussprach: „Wir hoffen auf etwas, das wir eigentlich nicht mehr hoffen dürfen: Zurück nach Hause gehen zu dürfen…“