Kinder weltweit

Kindheit in Trümmern. Erlebnisbericht aus Syrien


von Ninja Charbonneau

Syrien. Seit Jahren beschäftige ich mich mit dem Land, oder mit dem, was der Krieg aus dem Land macht und was das für Kinder bedeutet. Jetzt bin ich zum ersten Mal selbst da und sehe es mit eigenen Augen – und kann es einfach nicht fassen.

Die Bilder von der Zerstörung in Aleppo im Fernsehen zu sehen ist eben doch etwas ganz anderes, als durch die Straßen der Altstadt zu fahren und minutenlang, Häuserzeile für Häuserzeile, nur Ruinen und Trümmer zu sehen.

Syrien: Diese Häuserfront in Aleppo ist komplett zerstört
Bild 1 von 3 © UNICEF/DT2017-58614/Ninja Charbonneau
Syrien: Ein zertrümmertes Haus in Aleppo
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Syrien: Die Kinder sind mit UNICEF-Rucksäcken, zwischen den Ruinen von Aleppo, unterwegs
Bild 3 von 3 © UNICEF/DT2017-58622/Ninja Charbonneau

Überall klaffen große Löcher in Wohnhäusern, fehlen ganze Hausfassaden, sind ausgebrannte Wohnungen oder Einschusslöcher zu sehen. Wie viel Gewalt hier vor allem zwischen 2012 und Dezember 2016 geherrscht haben muss, um ein solches Maß an Zerstörung hervorzubringen, welchen Horror die Kinder hier wie in anderen Orten Syriens erlebt haben, übersteigt meine Vorstellungskraft. Genauso wie die Frage: Warum?

Über Syrien wird nur noch selten berichtet, aber das heißt nicht, dass der Krieg vorbei ist oder das Leid der Kinder endlich ein Ende hätte. Vor einem Jahr, als der Kampf um Aleppo immer brutaler und erbitterter geführt wurde, gingen Nachrichten aus Aleppo um die Welt. Zwar ist hier momentan relative Ruhe eingekehrt und ein Teil der Bewohner kehrt zurück – und „relative Ruhe“ heißt, dass im September „nur“ 66 Granateneinschläge im von der Regierung kontrollierten Teil der Stadt gezählt wurden – aber zahlreiche Familien haben unendliches Leid erlebt und schlicht kein Zuhause mehr, in das sie zurückkehren könnten.

Kinder in Aleppo erzählen ihre Geschichten

Jedes Kind, mit dem ich gesprochen habe, hat seine eigene herzzerreißende Geschichte zu erzählen. Angriffe. Belagerung. Tod. Zerstörung. Vertreibung. Und diese Geschichten sprudeln aus den Mädchen und Jungen so heraus, dass man merkt, sie sind direkt unter der Oberfläche.

Syrien: Fatima wohnt nun in der Notunterkunft Jibreen außerhalb von Aleppo

Fatima (14) aus Aleppo.

© UNICEF Syria/Al-Issa

Das Bild von Fatima (14) lässt mich nicht mehr los. Sie wohnte mit ihrer Familie im Osten von Aleppo, der monatelang unter heftigem Beschuss war. Sie hatten kaum etwas zu essen und konnten das Haus nicht verlassen – zu gefährlich. Fatima unterhielt sich deshalb von Tür zu Tür mit ihrer Freundin, die gegenüber wohnte. Mitten in der Unterhaltung traf eine Granate das Haus der Freundin. Fatima rannte zu ihr. Das Mädchen war tot. Auch Fatimas Haus ist inzwischen zerstört – sie kann nicht mehr zurück. Sie hat alles verloren und lebt mit ihrer Familie in der Notunterkunft Jibreen außerhalb von Aleppo, einem Rohbau, der einmal eine Baumwollfabrik werden sollte.

Jaddaa (elf) war in einer Moschee, in der er zum ersten Mal etwas sporadischen Unterricht bekam, als die Moschee getroffen wurde. Mehrere seiner Freunde starben vor seinen Augen. Auch Jaddaas Wohnhaus wurde getroffen, glücklicherweise wurde niemand verletzt. Doch als sie kurz darauf die Flucht aus dem Osten Aleppos wagten, starb sein Bruder durch eine Granate. Ein anderer Bruder wird vermisst, von ihm fehlt seit elf Monaten jede Spur. Jaddaa weiß nicht, ob sein Bruder noch lebt. „Mein größter Wunsch ist, dass mein Bruder zurückkommt“, sagt Jaddaa.

Syrien: UNICEF-Mitarbeiterin Ninja Charbonneau spricht mit dem 11-jährigen Jaddaa

Ninja Charbonneau im Gespräch mit Jaddaa (11).

© UNICEF Syria/Al-Issa

Während Jaddaa erzählt, platzt ein Luftballon, der den kargen zum Klassenraum umfunktionierten Rohbau schmückt. Mehrere Kinder zucken bei dem Knall zusammen, ein Mädchen bricht in Tränen aus. Was mag sie erlebt haben?

Und Saad. Wir treffen den 14-jährigen Jungen in einem von UNICEF unterstützten Kinderzentrum im Ostteil von Aleppo. Was der freundliche Junge erzählt, könnte schrecklicher kaum sein. Sein Wohnhaus wurde getroffen und sein Vater verletzt. Blutüberströmt kam er die Treppe herunter, in Panik eilten sie ins Krankenhaus. Die Verletzung war glücklicherweise nicht schwer, doch bei der Rückkehr stellte die Familie fest, dass das Haus stark beschädigt war. Aber es kam noch viel schlimmer.

Syrien: Der vierzehn-jährige Saad steht lächelnd an einer Häuserwand

Saad (14) in Aleppo.

© UNICEF/DT2017-58597/Ninja Charbonneau

Bei einem Angriff auf seine Schule wurde Saad Zeuge, wie 22 Menschen auf einen Schlag getötet wurden, unter ihnen mehrere Freunde und seine Lieblingslehrerin. Was er gesehen hat, beschreibt Saad in ruhigem Ton in allen grausamen Details, er wird diesen Tag mit Sicherheit nie vergessen. Von dem Tag an ging Saad nicht mehr zur Schule.

Wie kann ein Mensch das aushalten?

Wie kann ein Kind so etwas überstehen? Haben die Kinder, die den Kriegshorror so direkt erlebt haben, überhaupt noch eine Chance, jemals ein halbwegs normales Leben zu führen?

Wenn Sie sich beim Lesen die gleichen Fragen gestellt haben wie ich beim Zuhören, dann lesen Sie bitte unbedingt weiter.

Eines Tages, erzählt Fatima, fand sie auf der Straße ein Buch. Sie konnte es nicht lesen, denn sie war zwar bis zur dritten Klasse in die Schule gegangen, musste wegen des Konflikts dann aber für fast sechs Jahre unterbrechen. Mit dem Buch und der Hilfe ihres großen Bruders versuchte das wissbegierige Mädchen, sich selbst Lesen beizubringen. Sie besucht jetzt seit Anfang des Jahres einen „Curriculum B“-Kurs, der speziell für Kinder entwickelt wurde, die eines oder mehrere Schuljahre verloren haben und den Lernstoff nachholen müssen. Lesen und Schreiben kann Fatima inzwischen gut. „In den Monaten des Beschusses hätte ich mir nie vorstellen können, dass ich überlebe und eines Tages wieder zur Schule gehe.“

Syrien: Ein ehrenamtlicher Betreuer spielt mit Fatima in einem "kinderfreundlichen Ort"

Die achtjährige Mariam ist die kleine Schwester von Fatima. Hier spielt sie mit einem ehrenamtlichen Betreuer des „Kinderfreundlichen Ortes“ in Jibreen bei Aleppo.

© UNICEF/DT2017-58575/Ninja Charbonneau

Auch Jaddaa geht mit elf Jahren in der Notunterkunft Jibreen mit Unterstützung von UNICEF zum ersten Mal in die Schule. „In unserem Haus hingen wir immer zwischen Leben und Tod. Hier sind wir sicher. Ich bin froh, dass ich zur Schule gehen und Lesen und Schreiben lernen kann. Ich möchte einmal Maschinenbauingenieur werden.“

Schule der Hoffnung in Syrien

Die Lehrer und Mitarbeiter nennen die Schule in Jibreen „School of Hope – Schule der Hoffnung“. Doch eigentlich könnte jede Schule und jedes Kinder- oder Jugendzentrum in Syrien diesen Namen tragen. Selbst Saad, für den Schule zu einem Schreckensort geworden war, hat neuen Mut geschöpft. Eine Betreuerin des Kinderzentrums hat mit ihm intensiv gearbeitet und ihn dazu gebracht, wieder zur Schule zu gehen. „Vor dem Vorfall war ich ein sehr guter Schüler – einer der besten. Jetzt strenge ich mich an, denn ich will Arzt werden. Ich weiß, dass das sehr schwer wird. Aber ich weiß auch, dass ich es schaffen kann.“

Welchen Wert Schule, welchen Wert die Kinderzentren mit den strukturierten Angeboten und Spielmöglichkeiten für diese und all die anderen Kinder in Syrien haben, kann glaube ich nicht hoch genug eingeschätzt werden. Besonders deutlich wird uns das vor Augen geführt an der Ammar Ben Yasser Schule im Osten von Aleppo. Das ganze Viertel um die Schule herum liegt zu großen Teilen in Trümmern, auch das Schulgebäude selbst wurde stark beschädigt.

Syrien: Ein Blick auf die Trümmer und das UNICEF-Logo im Hof der Ben Yasser Schule

Blick aus dem Hof der Ammar Ben Yasser Schule in Aleppo. Das UNICEF-Logo dient auch zum Schutz der Schule.

© UNICEF/DT2017-58604/Ninja Charbonneau

Damit die Schule schon im Januar, nur wenige Wochen nach dem Ende der heftigen Kämpfe in diesem Teil von Aleppo, aufmachen konnte, hat UNICEF Container als Klassenräume aufgestellt. Die Kinder haben bereits so viel Zeit ihrer Kindheit verloren, sie sollten nicht noch mehr verlieren und so schnell wie möglich wieder in einen strukturierten Alltag zurückkehren, der ihnen Halt gibt. Rund 500 Mädchen und Jungen können in den Containerräumen in zwei Schichten lernen, während der Hof und das zerstörte Foyer für Sport und Spiele genutzt werden.

Unter den Kindern ist Wahida, elf Jahre. Der Krieg hat sie zur Waisen gemacht, ihre beiden Eltern starben bei den Angriffen. Seit einem Jahr leben Wahida und ihre beiden Geschwister bei einem Onkel. Die Schule gibt ihr die Kraft, nach vorne zu sehen. Wahida möchte Arabisch-Lehrerin werden. „Ich wünschte mir, dass Aleppo wieder so wird, wie es vor der Krise war“, sagt Wahida. „Und ich wünsche mir, dass alle Kinder in Sicherheit sind.“

Syrien: Wahida steht vor ihrer Schule und wünscht sich, dass alle Kinder in Sicherheit sind

Wahida (11) in ihrer Schule in Aleppo.

© UNICEF/DT2017-58584/Ninja Charbonneau

Fatima, Jaddaa, Saad, Wahida – vier Kinder von fast sechs Millionen Mädchen und Jungen, die in Syrien unsere Hilfe brauchen und sich nichts sehnlicher wünschen als ein Ende des Krieges. Vier Kinder, deren Schicksal mich tief berührt hat und die ich deshalb hier stellvertretend für alle Kinder aus Syrien vorstelle.

Wir haben viele andere Kinder und Jugendlichen getroffen und alle gefragt, was sie einmal werden wollen. Architektin, Lehrer, Chirurg, Mathematikprofessorin waren einige Antworten. Trotz allem, was sie erlebt und durchgemacht haben, hat der Krieg nicht ihre Hoffnungen, Träume und Ziele zerstören können. Unsere großartigen Kolleginnen und Kollegen von UNICEF Syrien, darunter rund 20 Leute in Aleppo, stehen den Kindern zusammen mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Partnerorganisationen Tag für Tag bei und sorgen dafür, dass diese Ziele erreichbar bleiben. Sie können diese Hilfe mit einer Spende unterstützen!

Ich war nur wenige Tage in Syrien und fühle mich den Menschen noch mehr verbunden als vorher. Vor meinem inneren Auge sehe ich immer noch diese massive Zerstörung vor mir, und ich denke oft an die Kinder, für die diese Trümmer Heimat sind.

Noch gibt es kein Happy End für diese Kinder. Aber es gibt Hoffnung.

Info

Ein Jahr nach dem Ende der schwersten Kämpfe im syrischen Aleppo liegen große Teile der Stadt in Trümmern. In den Ruinen ihrer Häuser und in notdürftigen Unterkünften versuchen Familien zu überleben. Jetzt ist ihre akute Sorge: Wie sollen die Kinder den Winter überstehen?

» Lesen Sie hier den zweiten Erlebnisbericht aus Syrien

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Autor*in Ninja Charbonneau