Fotoreportagen

Sechs Jahre Syrienkrieg: Kinder zwischen Tod, Härte und Hoffnung


von Christian Schneider

Sechs Jahre Syrien-Krieg und noch kein Ende – was bedeutet das für die Kinder?

Gerade hat UNICEF bekannt gegeben, dass die Brutalität gegen Kinder im vergangenen Jahr einen traurigen Höchststand erreicht hat: Mindestens 652 Mädchen und Jungen wurden getötet, mehr als ein Drittel davon in oder in der Nähe ihrer Schule.

Sechs Jahre Syrienkrieg: Syrischer Junge in zerstörter Schule
© UNICEF/UN055730

Sehr wahrscheinlich ist das nur die Spitze eines Eisbergs, weil das nur die Fälle sind, die UNICEF überprüfen konnte. Trotz und gerade weil dieses Wissen schier unerträglich ist, müssen wir weiter hinschauen, mahnen, uns einsetzen, helfen.

Wir müssen uns immer wieder aufs Neue fragen: Was, wenn es unsere Kinder wären?

Christian Schneider

Der Krieg in Syrien ist nicht vorbei. Und selbst wenn er irgendwann hoffentlich beendet sein wird, wird das Leid der Kinder ihn überdauern. An jedem einzelnen Tag werden syrische Kinder getötet oder verletzt, in ihren Schulen angegriffen, vertrieben, traumatisiert, ihrer Grundrechte und ihrer Möglichkeiten beraubt. Sechs Jahre – das sind über 2100 Tage!

Selbst, wenn die Kinder die Bomben, die Schüsse, den Mangel an Wasser, Nahrung, Medikamenten überstehen, heißt das nicht, dass sie unversehrt sind. Sechs Jahre Konflikt haben tiefe Spuren bei Millionen von Mädchen und Jungen hinterlassen, die in dieser Zeit geboren wurden oder ihre prägenden Jahre erlebt haben.

Sechs Jahre Syrienkrieg: Mädchen mit ihrer Schwester im Flüchtlingscamp Nizip/Türkei
© UNICEF/UN048841/Ergen

Syrische Kinder in der Falle

Als ich vor wenigen Tagen in Jordanien war, ist mir noch einmal sehr deutlich bewusst geworden: Selbst, wenn es den syrischen Kindern und ihren Familien gelungen ist, aus dem Bürgerkriegsgebiet zu fliehen, hören ihre Schwierigkeiten damit bei weitem nicht auf.

All diese Kinder sind, ob in Syrien oder in einem der Nachbarländer, in dem einen oder anderen Wortsinn, „trapped“, also in der Falle, „gefangen“.

Sie sind gefangen zwischen den Fronten, gefangen in den Trümmern ihrer zerbombten Nachbarschaften.

Sie sind gefangen in ihrer Angst, die sie nicht mehr schlafen lässt.

Sie sind aber auch gefangen im Stress, in der Härte und Hoffnungslosigkeit des nun schon drei, vier oder fünf Jahre dauernden Lagerlebens in Za’atari oder Azraq in Jordanien oder den vielen kleinen Lagern im Libanon.

Gefangen in der Armut am Rande der Gesellschaft in ihren Gastgemeinden, wo Kinderarbeit auf dem Bau oder dem Feld oder die Verheiratung von Mädchen den Eltern als einziger Ausweg erscheinen.

Sie alle sind Gefangene dieses schon sechs Jahre andauernden Konfliktes. Und unser aller Aufgabe ist es dafür zu sorgen, dass all diese Kinder und Jugendlichen nicht ihre Zukunft, nicht ihr ganzes Leben an diesen Krieg verlieren.

Sechs Jahre Syrienkrieg: Zwei syrische Kinder vor den Häuserruinen in Ost-Aleppo
© UNICEF/UN046894/Al-Issa

Rund fünf Millionen Menschen sind aus Syrien in die Nachbarländer – hauptsächlich Türkei, Libanon, Jordanien und Irak – geflohen. Fünf Millionen Menschen, das sind mehr als alle Einwohner von Berlin und Köln zusammen genommen. Und rund die Hälfte sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.

Flüchtlingskinder in Jordanien: Zwischen Härte und Hoffnung

Ich komme, wie gesagt, gerade von einem Besuch in den beiden großen Flüchtlingslagers Za’atari und Azraq und in Gastgemeinden in Jordanien zurück. Za’atari ist heute das zweitgrößte Flüchtlingslager der Welt mit fast 80.000 Menschen. Seit seiner Eröffnung 2012 habe ich dieses „Flüchtlingsstadt“ immer wieder besucht und musste beobachten, wie sich die anfängliche Hoffnung vieler Menschen auf eine baldige Rückkehr in die nur zehn Kilometer entfernt leidende Heimat in Hoffnungslosigkeit verwandelt.

Lasen Sie mich in zwei Beispielen kurz von Härte und Hoffnung berichten, davon, was sechs Jahre Krieg für eine Kindheit bedeuten, aber auch davon, wie stark die syrischen Kinder dem begegnen.

Ich traf Yaser, 17, aus dem Süden Syriens, seit fünf Jahren in Za’atari. Er musste schon in Syrien die Schule abbrechen. Jetzt hilft er seiner Familie, fährt morgens um vier Uhr los, um auf dem Tomatenfeld zu arbeiten, für etwa sechs oder sieben Euro am Tag. In einem Projekt lernen er und seine Freunde jetzt das Frisörhandwerk, eine Arbeit, die für seinen jungen Körper etwas weniger hart ist.

Sechs Jahre Syrienkrieg: Yaser beim Haareschneiden
© UNICEF/DT2017-53502/Schneider

80 Prozent der Jungen wie Yaser, die diese Kurse besuchen, finden hinterher eine Anstellung oder machen ein eigenes Geschäft auf. Das sind gute Nachrichten, die diese Jugendlichen und diese Region brauchen. Jeder zehnte geht später wieder in die reguläre Schule – ein zurückgewonnener Traum.

Saja (16): „Jeder kann etwas Positives schaffen“

Sechs Jahre Syrienkrieg: Saja mit UNICEF-Geschäftsführer Christian Schneider
© UNICEF/DT2017-53504/Schneider

Die zweite Mut machende Begegnung war mit Saja, 16 Jahre, die ich im Lager Azraq traf - mitten in dieser Steinwüste, in der fast 40.000 Flüchtlinge im Nirgendwo langsam ihre Zukunft verlieren. Saja sagte zu mir: „Jeder Mensch kann etwas Positives im Leben schaffen. Diese Seite müssen wir kennen, damit wir weitergehen können.“

Sie will Lehrerin werden. Aber hier im Lager ist sie Erfinderin zusammen mit ihren Freundinnen und Freunden. Sie haben einen Wasserfilter entworfen, eine Klimaanlage, ein Minikino für das Handy. Was für eine Begabung, was für ein Potenzial! UNICEF kann auch dieses Social Innovation Center mit Mitteln der Bundesregierung fördern. Eine Chance im Nirgendwo, unbezahlbar!

Sechs Jahre Syrienkrieg: Saja und ihre Freunde präsentieren den Wasserfilter
© UNICEF DT/Christian Schneider

In Syrien, in Jordanien, auch im Libanon, im Irak in der Türkei und in Ägypten leisten UNICEF und seine Partner weiter einen massiven Hilfseinsatz – es ist der größte humanitäre Einsatz in der 70-jährigen UNICEF-Geschichte. Die Art der Programme ist je nach den lokalen Gegebenheiten etwas unterschiedlich, aber es geht immer um die gleichen zentralen Themen: Wasser und Gesundheit, Kinderschutz, Bildung.

Kindheit retten – Zukunft schützen

UNICEF und seine Partner in der Region können den Krieg nicht stoppen. Aber wir müssen – und wir können – für die Millionen syrischen Kinder, die noch in den belagerten, umkämpften Städten ausharren, genau so wie für jene auf den Etappen der Flucht – die Chance ergreifen, etwas von ihrer Kindheit zu retten.
Das gilt für lebensrettende Hilfe, indem wir täglich und verlässlich weiter für Millionen Liter sauberes Trinkwasser sorgen, für Medikamente.

Doch die Mädchen und Jungen aus Syrien wollen mehr und sie haben ein Recht auf mehr: Sie wollen ihr Leben gestalten, sie wollen „jemand sein“, wie mir eine Gruppe von Mädchen in Jordanien sagte. Ich habe in den zurückliegenden Tagen zu viele Kinder gesehen, denen zu viele Schuljahre entrissen wurden, um in ihrem Leben das sein können, was sie sich einmal erträumt haben – Ärztin, Anwalt, oder Ingenieurin, oder Fußballerin.

Sechs Jahre Syrienkrieg: Saja aus Aleppo spielt auch mit einem Bein noch Fußball
© UNICEF/UN055883/Al-Issa

Umso mehr müssen wir dafür sorgen, dass diese Kinder, dass nicht ein Kind seine Hoffnung verliert, dass es gebrochen wird.

Wie mir ein UNICEF-Kollege in Za’atari sagte: Wenn die Kinder gebrochen werden, wenn sie ihre letzte Hoffnung verlieren, dann haben wir sie verloren. Und dann droht auch diese gesamte Region ihre Zukunft zu verlieren.

Syrien geht uns alle an

Diese große Aufgabe geht uns alle an: Das Überleben und die Zukunft der syrischen Kinder zu schützen, in Syrien und in den Nachbarländern.

Ich bin froh und dankbar, dass Deutschland sowohl mit der Unterstützung der Bundesregierung als auch durch Tausende private Spender eine Schlüsselrolle spielt. Und diese Rolle wird, sollte ein weiteres, siebtes Kriegsjahr vor den Menschen in Syrien liegen, immer noch wichtiger.

Wir möchten, wir müssen, den Jahrestag nutzen, um den Blick zu schärfen für die Situation der Kinder.

Wir müssen den Druck aufrecht erhalten für eine politische Lösung des Konflikts und für den sicheren, freien Zugang der Helfer für alle Kinder in Not.

Wir müssen die Hilfe fortsetzen und ausweiten.

Die syrischen Kinder brauchen uns sechs Jahre nach Beginn des Konflikts dringender denn je.

Ein lebenskluger Vater von sechs Töchtern, dessen Frau vor nun vier Jahren hochschwanger aus ihrer zerbombten Stadt fliehen musste, sagte in Za’atari: „Für uns Ältere ist das Leben vorbei. Wir können damit umgehen, Flüchtlinge zu sein, wenig Geld zu haben. Aber unsere Kinder, sie müssen die Chance auf eine Zukunft haben!“

Es geht buchstäblich – so der Titel unserer UNICEF-Kampagne – um ihre „Letzte Chance für eine Kindheit.“

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.