Zuhause, wann?
Wie Mädchen und Jungen ihre Kindheit in deutschen Unterkünften für geflüchtete Menschen erleben: UNICEF-Geschäftsführer Christian Schneider zur neuen gemeinsamen Studie „Das ist nicht das Leben“ von UNICEF Deutschland und dem Deutschen Institut für Menschenrechte.
Unsere Kindheit hat klare Grenzen. Sie beginnt mit der Geburt und endet mit der Vollendung des 18. Lebensjahres. So sehen die Vereinten Nationen das in ihrer Konvention über die Rechte des Kindes, und auch alle Staaten, die dieses Dokument seit 1989 ratifiziert haben. Wenn diese Zeit vorbei ist, können wir sie keinem Menschen mehr zurückgeben.
Die Frage ist, ob Kindheit, wie wir sie für unsere Töchter und Söhne für selbstverständlich und immens wichtig halten, für geflüchtete Kinder jemals richtig begonnen hat. Bevor sie bald unwiederbringlich endet.
Kindheit zwischen Warten und Wohnen-auf-Zeit
Vor kurzem habe ich in einer Unterkunft für geflüchtete Menschen einen aufgeweckten Jungen kennengelernt, er heißt Hasan. Seit 2012 ist seine Familie – eine sehr nette Familie mit zwei wunderbaren, klugen Eltern und drei ebenso großartigen Kindern – auf der Flucht vor den Schrecken des Krieges in Syrien. Mehr als zehn Jahre des Wartens, des Weiterziehens, des Wohnens-auf-Zeit haben sie hinter sich.
Hasan ist jetzt zehn. Er hat Syrien als Heimat nicht mehr kennengelernt. Aber er hat viel zu viel durchgemacht für diese gute halbe Strecke so genannter Kindheit: Geboren auf der Flucht, Stationen in Deutschland, da war er zwei Jahre alt, zurückgeschickt nach Polen als Einreiseland in die EU, zurück in den Libanon, dann Albanien. Nun wieder Deutschland, wo sich seine Mutter nicht mehr erhofft als „Sicherheit und Schule für meine Kinder“.
In diesen Wochen findet für Hasan das Leben hinter einem Zaun in einem Containerdorf statt, hinter der Kontrolle vom Sicherheitsdienst. Mit seiner Familie wartet er, hofft auf die positive Entscheidung ihres Asylantrags, damit er endlich erfährt, wo sein Zuhause sein kann, für den Rest der Kindheit.
Hasan und seine Eltern sind dankbar. Sie beklagen sich nicht, dass ihr Leben nach all den improvisierten Unterkünften auf den Stationen der Flucht auch in Deutschland im „Camp“ stattfindet, in einem Wohncontainer, den sie sich teilen. Und ja, alle Mitarbeitenden hier sind sehr engagiert und bemüht, für Hunderte Menschen aus sicherlich 30 Nationen, unter ihnen bei unserem Besuch rund 300 Kinder, den Aufenthalt so erträglich wie möglich zu machen.
Doch viele Kinder und Familien leben monate- oder jahrelang in Unterkünften. Kindheit kann nicht warten, nicht für Hasan und nicht für all die anderen geflüchteten Kinder in Deutschland.
Neue Studie lässt geflüchtete Kinder selbst zu Wort kommen
Wir wollten deshalb hören, was für geflüchtete Kinder und Jugendliche, die unter ähnlichen Bedingungen leben wie Hasan, wichtig ist, was ihnen zu schaffen macht, was ihnen fehlt – und was ihnen gefällt. Im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention haben UNICEF Deutschland und das Deutsche Institut für Menschenrechte geflüchtete Kinder und Jugendliche selbst zu Wort kommen lassen.
Denn in der einerseits abstrakt geführten, andererseits emotional aufgeladenen Debatte über Flucht, Asyl und Migration geht es meist um anonyme Gruppen von Menschen. Es wird um die Aufnahmefähigkeit des Landes und die Belastung der Kommunen gestritten und um Finanzierungsfragen, und das ist auch verständlich. Dabei wird jedoch oft vergessen, dass es um einzelne Menschen, darunter sehr viele Kinder geht, die sich aus einer extrem schwierigen, ja sogar lebensgefährlichen Lage auf die Flucht begeben haben und nach mitunter jahrelangem Leben im Ausnahmezustand bei uns eintreffen.
Rund 40 Prozent der über zwei Millionen Asylsuchenden seit 2015 und 32 Prozent der Schutzsuchenden aus der Ukraine seit 2022 sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Im Jahr 2022 waren unter den Asyl- und Schutzsuchenden etwa 430.000 Mädchen und Jungen.
Kinder beschreiben Leben in Unterkünften für geflüchtete Menschen
In Containern auf dem Land, auf ehemaligem Militärgelände, in neueren Wohngebäuden und einer Unterkunft in einem Industriegebiet haben die Interviewer*innen des Sinus-Instituts in unserem Auftrag 50 Kinder und Jugendliche befragt. Diese haben beschrieben, mit wie vielen Menschen sie sich eine Toilette und die Dusche teilen, und warum es so nervt, keinerlei Rückzugsmöglichkeit zu haben. Sie berichten von schlechten hygienischen Bedingungen, Erlebnissen von Gewalt und Diskriminierung und ihrem großen Wunsch, zur Schule zu gehen und ein normales Leben zu führen. Sie erzählen auch, was ihnen Spaß macht und wer sich für sie einsetzt.
Die Studie zeichnet ein in die Tiefe gehendes Bild der Lebenssituation dieser jungen Menschen. Viele Fotos der Kinder illustrieren ihre Worte. Die Untersuchung zeigt, wie wichtig es ist, den Kindern selbst zuzuhören. Sie wissen besser als die Erwachsenen – ob es ihre Eltern oder die Teams der Einrichtungen sind – wo ihre Probleme liegen. Sie haben oft die besten, praktischen Ideen, wie sich ihre Situation verbessern ließe. Es ist berührend, dass viele der jungen Menschen sagten, wie froh sie waren, endlich einmal über ihre Situation sprechen zu können – und Gehör zu finden. Dabei ist auch das – gehört und beteiligt werden – schlichtweg ein Recht jeden Kindes.
„Ein Stopp für das Leben“ von geflüchteten Kindern
Auf den rund 100 Seiten der Studie findet sich ein Satz, der alles verdichtet, was das Warten auf ein Zuhause, was Kindheit hinter dem Zaun bedeutet: „Das ist nicht das Leben, das ist sozusagen ein Stopp für das Leben.“ Die Aussage eines 15-jährigen Mädchens fasst zusammen, was viele Kinder zum Ausdruck gebracht haben. Sie leben mit vielen Fremden zusammen, ohne Privatsphäre und kindgerechte Räume, unter teils schlechten hygienischen Bedingungen. Sie sind leider häufig Gewalt ausgesetzt, erleben erschwerten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und sozialen Kontakten außerhalb. So können sie nicht ankommen in Deutschland. Sie empfinden ihre Situation nach allem, was sie hinter sich haben, als ein Leben, bei dem die Stopptaste gedrückt wurde.
Mit großem Engagement durch hauptamtliche Kräfte und Tausende ehrenamtlich Engagierte in den Bundesländern und Kommunen wurde in den vergangenen Jahren daran gearbeitet, die Bedingungen für geflüchtete Menschen zu verbessern. Seit unserer letzten Untersuchung 2020 hat sich allerdings offenbar – auch bedingt durch die Herausforderungen der Corona-Pandemie und die hohe Zahl schutzsuchender Menschen – die Situation für Kinder in Unterkünften eher noch verschärft.
Kinder bewahren Zuversicht und Motivation
Hasan hat wieder neue Freunde gefunden. Aber seine Mutter sagt, er sei ein sehr sensibler Junge. Als sie vor wenigen Wochen aus der Erstaufnahme in diese Einrichtung umzogen, habe er geweint, weil er schon wieder Abschied nehmen musste. In seinem neuen Zuhause auf Zeit findet Hasan es „okay“, obwohl die Gemeinschaftstoiletten oft schmutzig sind und manches schwierig ist. Hasan wünscht sich, in einem eigenen Zuhause zu leben. Vier Sprachen spricht er, hilft anderen in der Unterkunft bei der Übersetzung. Irgendwann, das ist sein Traum, möchte er Ingenieur sein.
Es ist beeindruckend, wie die Kinder unter diesen Umständen ihre Zuversicht bewahren. Viele sind wie Hasan motiviert, zu lernen, dem Leben eine Richtung zu geben – wenn man sie lässt. Gelingt es uns in Deutschland, Bedingungen zu schaffen, unter denen diese jungen Menschen sich ihren Interessen und ihren Talenten entsprechend entfalten können?
Es liegt auf der Hand, was für die Kinder wie für unsere Gesellschaft das Beste ist. Jedes dieser Kinder braucht die Chance, dass nach der Flucht endlich eine Kindheit beginnt, die diesen Namen verdient. Nein: Jedes Kind hat ein Recht darauf. Ein 17-jähriger Junge sagte es ganz bescheiden: "Ich würde gerne endlich mein Leben anfangen".
Sie möchten tiefer eintauchen? Hier finden Sie die Studie "Das ist nicht das Leben" in voller Länge.
Eine Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse gibt es hier.
Erfahren Sie mehr darüber, wie UNICEF Deutschland sich für geflüchtete Kinder und Jugendliche einsetzt.