Kinder weltweit

Afghanistan – der gefährlichste Ort der Welt für Kinder


von Jenifer Stolz

Afghanistan gilt nach vierzig Jahren Konflikt und Aufruhr als tödlichstes Kriegsgebiet der Welt. Derzeit führen die afghanische Regierung und die Taliban Friedensgespräche, die den jahrelangen Konflikt in dem Land beenden sollen. Ein Hoffnungszeichen. Denn das Ausmaß der Gewalt, dem Kinder in Afghanistan Tag für Tag ausgesetzt sind, ist schockierend.

Neben den Konflikten leidet die afghanische Bevölkerung unter schweren Naturkatastrophen wie Dürren oder Überschwemmungen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze.

Auf der Suche nach Frieden, Sicherheit und besseren Zukunftsperspektiven verlassen viele Kinder allein oder mit ihren Familien das Land. Afghanistan gehört mit 2,7 Millionen Menschen weltweit zu den drei größten Herkunftsländern von Flüchtlingen.

Wir haben mit Susan Bahman, UNICEF-Kinderschutzexpertin in Afghanistan, darüber gesprochen, vor welchen Herausforderungen Kinder und Jugendliche in Afghanistan stehen, welchen Risiken sie ausgesetzt sind und was geschehen muss, damit sie eine Zukunft im eigenen Land haben.

Frau Bahman, wie können wir uns eine Kindheit in Afghanistan vorstellen?

Bahman: Seit vielen Jahren gilt Afghanistan als das gefährlichste Land der Welt für Kinder. Kinder leiden unter den schrecklichen Folgen des anhaltenden Konflikts. Sie werden häufig Opfer von explosiven Kampfmittelrückständen, improvisierten Sprengkörpern, Luftangriffen oder Angriffen auf Schulen: Zwischen 2009 und 2018 wurden bei bewaffneten Konflikten fast 6.500 Kinder getötet und etwa 15.000 weitere verletzt. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres starben bereits über 540 Kinder bei Angriffen.

Wegen der Unsicherheit waren auch schon vor der Covid-19-Pandemie zahlreiche Schulen des Landes geschlossen, so dass schätzungsweise 3,7 Millionen Kinder zwischen sieben und 17 Jahren nicht zur Schule gehen konnten. Mit der Pandemie hat sich diese Situation noch verschlechtert: Fast 7,5 Millionen afghanische Kinder können derzeit nicht die Schule besuchen. Das ist insofern alarmierend, weil die meisten dieser Kinder somit einem höheren Risiko ausgesetzt sind, Gewalt oder wirtschaftliche oder sexuelle Ausbeutung zu erfahren, früh verheiratet oder rekrutiert zu werden.

Viele Kinder in Afghanistan verlieren ihre Kindheit, weil sie gezwungen werden, schon früh erwachsen zu sein und Verantwortung zu übernehmen, die sie nicht übernehmen sollten.

Afghanistan: Ein Junge im Rollstuhl spielt Basketball.

Bei der Explosion einer Landmine verlor Rahimullah, 15 Jahre, beide Beine. Gemeinsam mit seinem Bruder lebt er in einem Waisenhaus. Ihre Mutter starb bei Kämpfen in ihrem Heimatdorf, der Vater an Krebs.

© UNICEF/UNI230363/Bouvet, VII Photo

Welche Auswirkungen hat die Covid-19-Pandemie auf das Leben von Kinder und ihren Familien in Afghanistan?

Bahman: Die COVID-19-Pandemie hat die Gefährdung von Kindern und ihren Familien noch erhöht. Viele Menschen können durch den Lockdown ihrer Arbeit nicht nachgehen und sind durch den Einkommensverlust gezwungen auf der Straße zu arbeiten – auch Kinder. Seit März kann man in den Straßen von Kabul beobachten, dass immer mehr Kinder betteln oder Plastikmüll sammeln.

Über Schulschließungen habe ich schon gesprochen. Schülerinnen und Schüler haben seit Beginn der Pandemie sechs Monate nicht am Unterricht teilgenommen. Kinder in Afghanistan haben nicht die Möglichkeit, zuhause unterrichtet zu werden.

Während des Lockdowns war aber beispielsweise auch der Zugang zu psychosozialer Unterstützung für alle Kinder drastisch eingeschränkt – auch für Kinder, die Opfer von Gewalt und schwerwiegenden Vergehen wurden. Und auch Polio-Impfungen konnten nicht im gleichen Umfang durchgeführt werden. Es ist erschreckend, dass die Zahl der Polio-Fälle in Afghanistan seit dem Ausbruch der Pandemie von 29 auf 54 gestiegen ist. Das entspricht einem Anstieg von 80 Prozent.

Ein Junge nutzt sein Halstuch als Mundschutz

Der Ausbruch des Coronavirus verschlechtert die Situation von Kindern und Familien in Afghanistan noch einmal deutlich.

© UNICEF/UNI325501/Omid Fazel

Welche Kinder gelten in Afghanistan als besonders gefährdet?

Bahman: Der bewaffnete Konflikt ist eine große Gefahr für alle Kinder in Afghanistan. Einige Gruppen sind allerdings besonders gefährdet. Dazu gehören Mädchen, Kinder ohne rechtliche Identität oder Kinder, deren Familien unterhalb der Armutsgrenze leben und die von ihren Familien zur Migration gedrängt werden oder einer gefährlichen Arbeit nachgehen müssen.

Zu nennen sind auch Kinder, die in Einrichtungen wie Waisenhäusern und Haftanstalten leben, Kinder mit Behinderungen, aber auch Kinder, die in Gebieten leben, die von den Taliban und bewaffneten nichtstaatlichen Akteuren kontrolliert werden, und Kinder, die von bewaffneten Gruppen rekrutiert und im Konflikt beispielsweise als menschliche Schutzschilde oder Selbstmordattentäter eingesetzt werden.

Zur größten Gruppe, die in einer sehr schwierigen Situation lebt, gehören intern vertriebene Kinder. Für sie ist es nahezu unmöglich, Zeit mit Freunden zu verbringen, zur Schule zu gehen oder Kompetenzen aufzubauen, die sie für das Leben außerhalb des Lagers bräuchten. Stattdessen werden die Jungs häufig gedrängt, arbeiten zu gehen, und die Mädchen aufgrund sozialer Normen und Erwartungen an den Haushalt gebunden.

Zurückgekehrte Kinder aus dem Iran, Pakistan oder der Türkei sind aus verschiedenen Gründen ebenfalls äußerst gefährdet. Diese Kinder unternehmen nicht nur äußerst gefährliche Reisen, auf denen sie Gewalt, Kriminalität oder Hunger ausgesetzt sind. Auch in den Zielländern begegnen ihnen große Gefahren. Aus der Türkei zurückgekehrte Kinder berichteten zum Beispiel, dass sie in der Türkei bis zu ihrer Rückkehr zusammen mit erwachsenen Straftätern inhaftiert wurden und für ihr Essen, Handyguthaben oder ihren Schutz arbeiten mussten.

Was das mit den Kindern macht, können Sie sich vielleicht vorstellen: Viele Kinder erleben psychische Traumatisierungen, ziehen sich zurück und verlieren ihre kindliche Unbeschwertheit.

Ein afghanisches Mädchen schaut in die Kamera.

Die fünfjährige Maleka lebt in einem Lager für Binnenvertriebene in Herat, einer Provinz im Westen Afghanistans.

© UNICEF/UN0352247/Fazel

Gibt es für Jungen besondere Risiken?

Bahman: In Familien, in denen der Vater fehlt oder es keinen anderen erwachsenen männlichen Haushaltsvorstand gibt, stehen Jungen unter einem besonderen Druck. Um ihre Familie zu unterstützen, brechen sie oft die Schule ab, treten regierungsfreundlichen oder regierungsfeindlichen Streitkräften bei oder suchen sich schon in jungen Jahren eine Arbeit – auch im Ausland.

In Griechenland habe ich mit geflüchteten Kindern aus Afghanistan gearbeitet und viele unbegleitete Kinder getroffen. Dort standen sie unter der Obhut des Staates und konnten somit auf legalem Weg nicht das Geld verdienen, auf das ihre Familien zu Hause warteten. Viele dieser Kinder haben sich daher gezwungen gesehen, Drogen zu verkaufen oder sich zu prostituieren. Häufig führte dies dazu, dass die Kinder anfingen selbst Drogen zu nehmen. Viele der Jungen, kaum 15 Jahre alt, zeigten mir Narben von Verletzungen, die sich selbst zugefügt hatten. Fast alle Kinder, mit denen ich gesprochen habe, bereuten es, nach Europa gekommen zu sein, und wünschten, sie könnten nach Hause zurückkehren.

In Afghanistan selbst sind Jungs häufig sexueller Gewalt und sexueller Ausbeutung ausgesetzt. Ein Bericht aus dem vergangenen Jahr hat gezeigt, dass Jungen zu 85 Prozent Opfer der bekannten Fälle von Vergewaltigung und sexueller Ausbeutung sind. Es kommt oft vor, dass Jungen entführt werden. Die Täter sind in der Regel Männer in Machtpositionen, die von den Familien häufig nicht angezeigt oder zur Rechenschaft gezogen werden.

Afghanistan: Ein Junge spielt alleine Fußball.

Gemeinsam mit seinem Bruder kam der 15-jährige Jalil aus Afghanistan im Jahr 2017 nach Griechenland. Hier lebten sie in einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

© UNICEF/UN057943/Gilbertson VII Photo

Weltweit leiden Kinder unter Gewalt in der Erziehung. Wie ist die Situation für Kinder in Afghanistan?

Bahman: Gewalt in der Erziehung und häusliche Gewalt sind in Afghanistan generationsübergreifend akzeptiert. In Afghanistan üben viele Eltern, Lehrerinnen und Lehrer und andere Personen, die Kindern nahe stehen, körperliche Gewalt als "Disziplinierungsmaßnahme" aus.

Fast Dreiviertel aller afghanischen Kinder im Alter zwischen zwei und 14 Jahren erlebten mindestens eine Form der psychischen oder physischen Gewalt durch die Mutter, Betreuerinnen und Betreuer oder andere Angehörige. 38 Prozent der Kinder sind einer schweren körperlichen Misshandlung ausgesetzt.

Auch sexuelle Gewalt an Kindern ist im Land weit verbreitet und richtet sich sowohl gegen Mädchen als auch gegen Jungen.

Darüber hinaus werden Kinder Zeugen häuslicher Gewalt. Im Jahr 2015 zeigte eine Umfrage, dass über 50 Prozent der verheirateten Frauen zwischen 15 und 49 Jahren häusliche Gewalt erfahren hatten. Der Täter ist häufig der Ehemann. Wenn Kinder in diesen Familien Zeugen der Gewalt werden und noch dazu das Gefühl haben, dass dies ein akzeptiertes Verhalten ist, besteht die Gefahr, dass sich dieses Muster über Generationen hinweg fortsetzt.

Aufgrund der Unsicherheit im Land und den Gefahren, denen Kinder ausgesetzt sind, verlassen viele Kinder und Jugendliche entweder allein oder zusammen mit ihrer Familie ihre Heimat. Nicht alle Kinder können in den Zielländern bleiben und müssen nach Afghanistan zurückkehren. Wie ist die Situation für diese Kinder bei ihrer Rückkehr? Welche Herausforderungen stellen sich bei ihrer Reintegration?

Bahman: In Afghanistan gibt es kein umfassendes nationales System oder Programm zur Reintegration von Kindern, die aus dem Ausland zurückkehren. Das Sozialsystem ist schwach und es gibt nur begrenzte Möglichkeiten, um auf die individuellen Bedürfnisse von zurückgekehrten Kindern einzugehen. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung, zu Bildung und Kinderschutz ist in vielen Teilen des Landes, die schwer erreichbar sind, sehr beschränkt, vor allem in Provinzen, die unter der Kontrolle der Taliban und anderer regierungsfeindlicher Gruppen stehen. Und so leben viele Kinder nach ihrer Rückkehr auf der Straße. UNICEF, aber auch andere nationale oder internationale NGOs haben leider nur begrenzte Ressourcen und Möglichkeiten, diese Kinder zu unterstützen.

Während meiner Arbeit für das UNICEF-Programm "Children on the move" hatte ich die Gelegenheit, mit vielen Kindern zu sprechen, die aus dem Iran und der Türkei zurückgekehrt sind. Viele der Kinder erzählten mir, dass sie sehr wahrscheinlich wieder in ein anderes Land gehen werden, wenn sich ihre Situation in Afghanistan nicht verbessert und sie keine Möglichkeit haben, um ihre Familien finanziell zu unterstützen.

Auf der anderen Seite äußerten sich Jungen, die im Rahmen des Programms eine Ausbildung machten oder ein kleines Unternehmen gründeten, positiv über ihre Zukunft, weil sie nun neue Möglichkeiten sahen ihre Familien zu unterstützen. Dabei ging es ihnen nicht nur um die wirtschaftliche Situation der Familien. Viele dieser Jugendlichen hatten den großen Wunsch, ihren jüngeren Geschwistern den Schulbesuch zu ermöglichen.

Ich glaube, das Beste was wir für Kinder tun können, die nach Afghanistan zurückkehren, ist die Ursachen für ihre unsichere Migration anzugehen. Dazu gehören z.B. die Unsicherheit im Land und die Folgen von Naturkatastrophen, die zu Armut führen. Wenn wir diese Herausforderungen nicht bewältigen, werden Familien immer wieder vor der verzweifelten Entscheidung stehen, ihre Kinder zur Arbeit zu drängen, früh zu verheiraten oder auf eine gefährliche Reise ins Ausland zu schicken.

Afghanstan: Ein Junge in einer Schneiderei.

Nach seiner Rückkehr aus dem Iran wird der 17-jährige Mohammad in Afghanistan zum Schneider ausgebildet.

© UNICEF/UNI367257/Fazel

Wie können afghanische Kinder besser geschützt werden? Was brauchen Kinder, um langfristige Perspektiven im eigenen Land zu haben?

Bahman: Kinder in Afghanistan brauchen Frieden. Ich hoffe, dass in dem Abkommen der aktuellen Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung die Bestimmungen zum Schutz von Kindern einfließen und sich dadurch die Situation für Kinder im Land verbessert.

Darüber hinaus müssen weitere finanzielle Mittel bereitgestellt werden, um das Überleben, die Entwicklung und den Schutz afghanischer Kinder zu fördern. Und es muss dafür gesorgt werden, dass es im Falle von Kinderrechtsverletzungen ein System gibt, durch das Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden können, und es müssen Gesetze zum Schutz von Kindern in Kraft treten. Nur so können wir sicherstellen, dass afghanische Kinder in einer sicheren Umgebung groß werden.

Für eine bessere und nachhaltige Zukunft von Kindern in Afghanistan sind die Kinder und Jugendlichen selbst, ihre Meinungen und Ansichten von zentraler Bedeutung. Sie sind die Zukunft des Landes. In einer so entscheidenden Zeit, in der die Friedensverhandlungen andauern, ist es umso wichtiger, sie in alle Prozesse einzubeziehen, die ihr Leben und ihre Zukunft betreffen.

So arbeitet UNICEF in Afghanistan

UNICEF arbeitet seit 1949 in Afghanistan, um die Rechte von Kindern zu verwirklichen und hat maßgeblich dazu beigetragen, das Leben afghanischer Kinder zu verbessern.

  • Eines der wichtigsten Ziele von UNICEF ist es, dass die Kinderrechte in allen Prozessen der afghanischen Politik berücksichtigt und umgesetzt werden.
  • UNICEF fördert den Zugang zu Bildung für Kinder in Afghanistan. Mit dem Projekt Let us learn ermöglicht UNICEF vor allem Mädchen den Zugang zum Schulunterricht, denn in Afghanistan haben sie nach wie vor nicht die gleichen Bildungschancen.
  • UNICEF unterstützt die Regierung bei der Umsetzung der sogenannten "Safe Schools Declaration" und der Strategie zur Verhütung geschlechtsspezifischer Gewalt in Schulen.
  • UNICEF setzt sich für die Stärkung und den Aufbau von Systemen zur Unterstützung von Kindern ein, zum Beispiel durch Sozialleistungen.
  • Im Bereich Ernährung kämpft UNICEF gegen alle Formen von Mangelernährung und führt im ganzen Land Ernährungsprogramme durch, um das Bewusstsein für die Ernährungsbedürfnisse von Kindern und die Auswirkungen unzureichenden Stillens und mangelhafter Ernährung zu schärfen.
  • Afghanistan ist eines von drei Ländern weltweit, in denen es aktuell Fälle von Polio gibt. Ziel von UNICEF ist die Impfung gegen die Krankheit und die Sensibilisierung und Aufklärung der afghanischen Gesellschaft.
Jenifer Stolz UNICEF Deutschland
Autor*in Referentin Politik/Advocacy