Raneem aus Syrien hat drei Wünsche
Finden Sie die Berichte über syrische Jugendliche, die zu radikalen Kämpfern ausgebildet werden, auch so erschütternd? Dann lesen Sie am besten jetzt die Geschichte von Raneem aus Syrien, die das genaue Gegenteil ist. Denn über diese positiven Beispiele hört man eigentlich viel zu wenig:
Raneem (13) wird mir von den Kollegen in Jordanien als ein Mädchen vorgestellt, das absolut „brennt“ für Bildung. Passenderweise treffe ich sie zum ersten Mal in ihrer Schule im Za’atari Camp. Raneem sitzt in der ersten Reihe des Containers, der als Klassenraum dient, und folgt aufmerksam dem Unterricht in ihrem Lieblingsfach: Englisch. Raneem ist tatsächlich sehr ehrgeizig und hat gleich drei Berufswünsche, doch dazu später mehr.
Gerade ist der Unterricht für die Mädchen zu Ende und der trubelige Schichtwechsel beginnt. Aus Platzgründen werden die syrischen Kinder in Za’atari in Schichten unterrichtet, morgens die Mädchen und nachmittags die Jungen. Auf dem staubigen Vorplatz der Schule treffe ich auch Raneems Vater Mohammed, der hier an ein paar Tagen im Monat einen kleinen Job als Reinigungskraft hat.
Zuhause: Ein Container im Flüchtlingscamp
Gastfreundlich lädt mich Mohammed in das Zuhause der Familie ein: Ein Container mit einer Plane als Vorzelt, in dem sie zu sechst wohnen. Raneem ist das älteste von vier Kindern. Der einzige Luxus in dem Container sind ein Ventilator, ein alter Fernseher und ein Wasserfilter, wie mir Mohammed stolz erklärt. Das frühere Zuhause der Familie im syrischen Sheikh Miskin wurde vollständig von Bomben zerstört, erzählt Mohammed. Auch die Kühe der Familie, ihre wichtigste Einkommensquelle, wurden getötet. Das war vor zwei Jahren. „Die Kinder haben danach Alpträume bekommen. Ich hatte Angst um ihr Leben, deshalb sind wir geflohen“, ergänzt Raneems Mutter Afaf.
Raneem: „Ich erinnere mich an alles“
Ich frage Raneem vorsichtig, ob sie sich an diese Zeit erinnert. „Ich erinnere mich an alles“, sagt Raneem. „Ich bin bei Angriffen meistens zum Haus meiner Oma gelaufen und habe mich dort versteckt, ihr Haus war nicht so nah an der Front. Manchmal bin ich bei Bombenangriffen auch in den Keller der Nachbarn gelaufen. Unser Haus hatte keinen Keller.“ Auf der Flucht zusammen mit einer anderen Familie in einem Kleinbus hat sie kaum etwas mitnehmen können, sagt Raneem: „Ich habe nur zwei Kleider für mich, zwei Kleider für meine Schwester und eine Decke getragen. Für mehr war kein Platz.“
Als die Familie im Camp ankam, dachte sie nicht, dass sie lange bleiben würde. „Anfangs war ich froh, weil es hier so still ist“, sagt Raneem. „Es gibt keine Bomben und keine lauten Geräusche. Aber jetzt fällt es mir manchmal schwer, hier zu sein. Ich möchte mein altes Leben zurück.“ Wenn Raneem traurig ist, geht sie am liebsten ins Jugendzentrum und spielt Fußball. „Wenn ich Fußball spiele, vergesse ich alles, es macht mich happy. Dafür lasse ich manchmal sogar meine Hausaufgaben liegen.“
Und das will etwas heißen, denn Raneem ist eine ehrgeizige Schülerin. Ihre Mutter sagt, wenn ihre Tochter einmal nicht die besten Noten hat, ist sie völlig niedergeschlagen. Zwei Mal pro Woche geht Raneem nach dem Unterricht zu speziellen Kursen, damit sie den Schulstoff, den sie in Syrien verpasst hat, aufholen kann. Ich frage Raneem, was sie einmal werden möchte. Ohne zu zögern zählt sie mir ihre drei Berufswünsche auf.
Raneems drei Wünsche
„Erstens möchte ich Englisch-Lehrerin werden. Einfach, weil ich Englisch so gerne mag und gerne Bücher lese. Zweitens möchte ich Landschaftsgärtnerin werden. Wir hatten einen Nachbarn in Syrien, der Landwirt war, und ich bin sehr gerne dort hingegangen. Ich liebe es zu sehen, wie Pflanzen wachsen. Wir haben jetzt auch eine Staude Mais vor unserem Container, die ich jeden Tag gieße. Drittens möchte ich Psychologin werden. Viele Leute hier sind so unglücklich, weil sie ihre Heimat verlassen mussten. Sie hatten Arbeit und ein glückliches Leben, sie hatten eine Wahl – jetzt haben sie gar nichts. Ich möchte ihren Schmerz lindern.“
Ist das nicht großartig, eine 13-Jährige, die trotz ihrer eigenen schwierigen Situation vor allem daran denkt, wie sie anderen helfen kann? „Raneem soll werden, was immer sie glücklich macht“, ergänzt ihre Mutter. Das wünsche ich ihr und den anderen syrischen Kindern auch – von ganzem Herzen.