Fotoreportagen

Saria (8): „Europa ist schön, hier wird nicht geschossen“


von Ninja Charbonneau

Kindheit kann nicht warten, Teil 6

Was müssen Kinder im Krieg durchmachen? Wie erleben sie Vertreibung und Flucht? Wie geht es ihnen, wenn sie in der Fremde leben müssen? Lesen Sie hier den sechsten Teil unserer Blog-Serie: "Kindheit kann nicht warten – Flüchtlingskinder erzählen von ihrem Schicksal".

Saria (8) aus Aleppo, Syrien

Saria ist aus Syrien nach Deutschland geflüchtet.
© UNICEF/DT2015-32854/Annette Etges


Hätte ich Saria (8) auf dem Schulhof meines Sohnes statt in einer Kölner Notunterkunft für Flüchtlinge getroffen, wäre sie mir wahrscheinlich nicht weiter aufgefallen. Denn auf den ersten Blick unterscheidet sie sich kaum von vielen anderen Mädchen in ihrem Alter: Sie zieht sich gerne hübsch an, mag rosa und spielt am liebsten mit Puppen. Aber in ihren traurigen Augen kann man ahnen, dass Saria Dinge gesehen und erlebt hat, die kein Kind erleben sollte.

Sarias Familie kommt aus Aleppo, einer bitter umkämpften Stadt in Syrien. „Wir haben geschlafen und Mama war in ihrem Bett, als unser Haus angegriffen wurde“, erzählt das schüchterne Mädchen sehr leise. „Ich war froh, als wir Syrien verlassen konnten. Europa ist schön, hier wird nicht geschossen", sagt Saria. Sie ist vor kurzem mit ihren Eltern und ihren zwei jüngeren Brüdern Youssef (7) und Ibrahim (15 Monate) aus Syrien nach Deutschland geflohen.

Kinder im UNICEF-Spielzelt in der Notunterkunft in Köln.

Afraa, Issam, Youssef und Saria (v. l. n. r.) im Spielzelt in der Notunterkunft in Köln.

© UNICEF/DT2015-32847/Annette Etges

Wir unterhalten uns im Spielzelt einer von den Johannitern betriebenen Notunterkunft in Köln mit der Familie. Um uns herum spielen Kinder vom Krabbel- bis Teenageralter mit den bereitgestellten Spielsachen. Andere Kinder sind gerade bei einem von Freiwilligen organisierten Tanzkurs.

Die Eltern nennen die Flucht „leicht“ – aber es klingt furchtbar

Vater Issam (43) und Mutter Afraa (35) sind wahnsinnig dankbar, dass sie mit ihren Kindern in Sicherheit sind. Als Ingenieur und Lehrerin ging es ihnen gut in Syrien – vor dem Krieg. Lange haben sie gezögert, ihre Heimat zu verlassen, doch für die Zukunft ihrer Kinder sahen sie schließlich keine andere Möglichkeit. Issam und Afraa sind offenbar nicht nur sehr höfliche, sondern auch von Grund auf positive Menschen, denn sie sagen, ihre Flucht sei „leicht“ gewesen. Für mich klingt es hingegen furchtbar, vor allem wenn ich mir vorstelle, ich hätte mit meinen Kindern eine solche Reise machen müssen.

UNICEF-Mitarbeiterin Ninja Charbonneau und Youssef im Spielzelt.

Während seine Eltern erzählen, zeigt Youssef (2. v. l.) mir Bildkarten, mit denen die Kinder erste deutsche Wörter lernen können.

© UNICEF/DT2015-32845/Annette Etges

Gefährliche Flucht nach Deutschland

Rund zwei Wochen dauerte ihre Flucht über die Türkei, Griechenland und die Balkanländer nach Deutschland. Nur die Überfahrt nach Griechenland in einem kleinen überfüllten Boot mit 35 anderen Menschen sei gefährlich gewesen. „Die Wellen waren so hoch, und wir hatten Angst“, erzählt Afraa. „Sehr viele Leute waren auf einem kleinen Schlauchboot ohne jede Sicherheitsmaßnahmen." Zehn Kilometer mussten sie danach in Griechenland zu Fuß gehen, in der Kälte und ohne Hilfe. „In Serbien gab es viel Stress", sagt Afraa, aber insgesamt sei alles gut gegangen.

Saria und Familie in einer Flüchtlingsunterkunft in Köln.
© UNICEF/DT2015-32856/Annette Etges

Mehrfach betonen die Eltern, wie dankbar sie für die Hilfe in Deutschland sind. Sie sind auch voller Verständnis, dass sie schon seit mehreren Wochen in einer Zeltunterkunft schlafen müssen, in völliger Ungewissheit, wann es weitergeht und wohin sie dann kommen werden. Doch Afraa und Issam beklagen sich mit keinem Wort. Sie finden das Spielzelt toll und freuen sich, dass die Kinder draußen Fahrrad und Roller fahren können.

Obwohl der Alltag in der Notunterkunft für sie nicht ganz leicht ist, wie Afraa zögernd zugibt. Denn die Männer sind von den Frauen getrennt untergebracht, so dass die Mutter alleine mit ihren Kindern und anderen Müttern mit Kindern in einem Zelt schläft. „Mein Mann und ich sind gewohnt, uns gegenseitig zu unterstützen, deshalb wäre ein Familienzimmer besser." In den großen Schlafzelten mit den vielen Kindern ist es auch nachts sehr unruhig. „Wenn ein Kind weint, weckt es alle anderen", sagt Afraa. Aber wie gesagt, die Familie beschwert sich nicht, sie warten geduldig und träumen von einer besseren Zukunft.

Wie sieht die Zukunft aus?

Alles, was Sarias Familie sich wünscht, ist Sicherheit und Normalität. Issam hofft, dass sie in Deutschland bleiben dürfen und ist zuversichtlich, dass er als Ingenieur bald Arbeit finden kann. Dann würden sie gerne in einer ganz normalen Wohnung wohnen und Saria und Youssef könnten endlich – zum ersten Mal – zur Schule gehen. Der 15 Monate alte Ibrahim wird sich hoffentlich nicht mehr daran erinnern können, dass er mitten in einen Krieg geboren wurde.

Issam mit Sohn Ibrahim in einer Notunterkunft für Flüchtlinge in Köln.
© UNICEF/DT2015-32851/Annette Etges

Dieser Beitrag über Saria und ihre Familie ist in Zusammenarbeit mit der freien Journalistin Samar Heinein entstanden. Wir bedanken uns auch bei den Johannitern für die freundliche Unterstützung.

Lesen Sie hier alle Beiträge der Serie "Kindheit kann nicht warten: Flüchtlingskinder erzählen"

Info

Die Kinder unter den Flüchtlingen werden häufig übersehen. Wir möchten ihnen eine Stimme geben und stellen Ihnen im Blog Mädchen und Jungen vor, die auf der Flucht sind. Einige von ihnen haben wir in Deutschland interviewt, andere sind in Syrien aus ihren Häusern vertrieben worden oder sind nach Jordanien oder Libanon geflohen. Egal, wo sie sind – sie sind in erster Linie Kinder.

Erfahren Sie hier mehr darüber, wie UNICEF Kindern in Syrien und seinen Nachbarländern und auf den Fluchtrouten hilft.

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Autor*in Ninja Charbonneau