Meinung

Covid-19: „Die Krise zeigt Probleme und Stärken wie unter dem Brennglas“


von Christine Kahmann Autorin

Die Corona-Pandemie hat das Leben von Kindern und Jugendlichen in Deutschland stark verändert – und das in sehr kurzer Zeit.

Vieles, was sie im Alltag unterstützt und schützt, wie ihr Freundeskreis und das soziale Umfeld der Schule und der Kita sowie die Freizeitangebote der Kinder- und Jugendhilfe, sind unerreichbar. Für Kinder, die beispielsweise Gewalt erfahren, fallen damit gerade die Orte weg, an denen sie Halt finden und Hilfe suchen können.

Was bedeutet dies für sie? Wie können wir sie jetzt schützen? Darüber haben wir mit Kinder- und Jugendpsychiater und UNICEF-Komitee-Mitglied Prof. Dr. med. Jörg Fegert gesprochen.

Portraitbild: UNICEF-Komitee-Mitglied Prof. Dr. med. Jörg Fegert

Prof. Dr. med. Jörg Fegert ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Ulm.

© dpa

Herr Professor Fegert, die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie betreffen Kinder und Jugendliche ganz besonders. Worüber machen Sie sich besonders Sorgen?

Fegert: Ich mache mir vor allem Sorgen darüber, wie Kinder mit Problemen in dieser Situation bestmöglich geschützt werden können, denn viele der in diesem Zusammenhang wichtigen Angebote sind die so genannten ambulanten Hilfen. Das bedeutet, dass Kinder beispielsweise zur Tagesbetreuung gehen können oder dass Familienhelfer zu ihnen nach Hause kommen. Viele dieser Angebote wurden stark eingeschränkt.

Zwar gibt es auch viel Kreativität und vielerorts wird der Kontakt beispielsweise weiterhin per Video-Chat gehalten. Dennoch wissen wir aus verschiedenen Studien und von Berichten aus China, Italien und Frankreich, dass häusliche Gewalt und Gewalt gegen Kinder in solchen Situationen sozialer Isolation ansteigen.

In Deutschland haben wir dazu momentan keine vernünftige Zahlenbasis, die z.B. im Gesundheitswesen Misshandlungen und Missbrauch zuverlässig erfasst. Jedoch verzeichnen wir bei der medizinischen Kinderschutzhotline, einer rund um die Uhr besetzten kollegialen Telefonberatung für Angehörige der Gesundheitsberufe zum Kinderschutz, schon jetzt vermehrt Nachfragen der ärztlichen Kolleginnen und Kollegen und der Psychotherapeuten in Bezug auf Kinderschutzfälle in der Krise.

Italien: Ein abgesperrter Spielplatz aufgrund der Covid-19-Pandemie.

Ein gesperrter Spielplatz in Italien: Die aktuelle Situation durch das Coronavirus kann für Kinder belastend sein.

© UNICEF/UNI312257/Diffidenti

Welche Kinder sind besonders gefährdet?

Fegert: Kinder aus schwierigen Verhältnissen und Kinder, die die Enge kaum aushalten und kaum Möglichkeiten haben, nach draußen zu gehen, sind derzeit besonders gefährdet. Und natürlich auch die Kinder, die wir im Alltag in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandeln, Kinder, die nicht stillsitzen können, Kinder, die eher ausagieren und Kinder, die Sport brauchen. Die derzeitige Situation kann zu maximalem Stress führen.

Fast jede Familie ist derzeit einem gewissen Grad an Stress ausgesetzt. Viele Eltern müssen zwischen Kinderbetreuung und Arbeit jonglieren. Auf einmal findet das ganze Leben im Haushalt statt: das Arbeiten, das Lernen, das Zusammenleben. Darauf sind wir in so einer arbeitsteiligen Gesellschaft, in der jeder einen Großteil des Tages seiner Wege geht, oft nicht mehr eingestellt. Dieses enge Zusammenleben müssen Familien nun neu lernen. Dabei geht es auch darum zu schauen, wie man jedem seinen Platz lassen kann, wie man Zeitraster einhält und wie man sich auch etwas Ruhe gönnt.

USA: Luka (8) spielt mit seiner Mutter Sophia Fußball in einem Waldstück.

Draußen zu spielen tut Kindern gut. Wegen der aktuellen Situation haben manche Kinder jedoch kaum Möglichkeiten, sich an der frischen Luft zu bewegen.

© UNICEF/UNI313407/McIlwaine

Was macht die Krise mit der Psyche der Kinder und Jugendlichen?

Fegert: Die Krise macht zurzeit vielen Angst. Teilweise führt sie auch zu Wut und zu Unverständnis: Warum soll ich jetzt zuhause bleiben? Warum kann ich nicht zur Schule?
Die Kinder haben aber Angst, denn sie nehmen die Sorgen ihrer Eltern wahr, auch die ökonomischen Sorgen, und sie fragen sich, wie es jetzt weitergehen soll. Wenn die Fallzahlen steigen und wir den Höhepunkt der Infektionen erreichen, werden zunehmend auch Kinder erleben, dass Personen, die ihnen nahestehen, erkranken oder sogar sterben. Wir werden es somit mit einer Phase zu tun haben, in der Kinder potentiell traumatisierende Situationen erleben, auf jeden Fall Situationen der Trauer oder des Verlusts. In dieser Situation brauchen sie besondere Nähe und Unterstützung. Doch gerade die Unterstützung durch Gleichaltrige und durch aufmerksame Lehrer und andere Personen fällt momentan weg.

Für die sehr lange Phase danach, wenn wir nur allmählich Normalität übergehen, befürchten wir zudem, dass die Schere zwischen den Kindern, die Zuhause weiter gut gefördert wurden und die auch bei den Lehrangeboten von den Schulen und ihren Eltern unterstützt wurden und den Kindern, die Zuhause kaum weiter gefördert werden konnten, weiter auseinandergeht. Dies wiederum kann zu neuen Belastungen führen.

Ukraine: Zlata (7) sitzt vor ihrem Computer und lernt für die Schule.

Zlata, 7, aus der Ukraine lernt von zu Hause für die Schule.

© UNICEF/UNI321764/Filippov

Die derzeitige Situation kann zu massivem Stress und mehr Gewalt in den Familien führen. Welche Folgen hat dies für Kinder und Jugendliche?

Fegert: Hier gilt es zu unterscheiden: insgesamt sind Menschen psychisch relativ robust. Ein oder zwei belastende Lebensereignisse können die meisten Menschen relativ gut verarbeiten. Wir wachsen oft sogar in herausfordernden Situationen über uns hinaus. Wenn aber Kinder, die ohnehin schon Schwierigkeiten haben oder die vielleicht vernachlässigt worden sind, jetzt in einer besonderen Stresssituation quasi ihren Peinigern alleine ausgeliefert sind, wenn es keine Chance gibt, irgendwo bei Freunden Hilfe zu suchen oder sich der Lehrerin anzuvertrauen, wenn Unterstützung von außen, wie beispielsweise Familienhelfer, wegfallen, dann kann das zu Hilflosigkeit, erlebter Ohnmacht bis hin zur schweren Depression führen. Studien zu Quarantänesituationen belegen: Je länger sie andauern, desto schwieriger ist es, den Stress zu regulieren.

Deshalb ist es so wichtig, dass gewaltfreies Aufwachsen als Prinzip generell betont und gepflegt wird, denn Kinder, die bislang geschützt aufgewachsen sind, haben auch in solchen Situationen stärkere Ressourcen, mit den Belastungen klarzukommen.

Was ist in der aktuellen Situation Ihre Botschaft an die Kinder und Jugendlichen?

Fegert: Zuerst einmal: lasst den Kopf nicht hängen, habt Geduld und nehmt Euch jeden Tag etwas vor was Euch oder der ganzen Familie Spaß macht. Diese Situation wird noch einige Zeit dauern. Schaut, was Euch guttut, wo ihr Euch zurückziehen könnt, wo ihr auch mal mit einem Freund oder einer Freundin telefonieren oder chatten könnt, ohne dass andere dabei sind.

Wenn es Euch schlecht geht, teilt euch mit, sucht Hilfe. Institutionen wie zum Beispiel die Jugendämter, die ja Hilfe geben, haben an vielen Orten viele kreative Nothilfemöglichkeiten geschaffen. Die Notfalltelefone arbeiten weiter. Wenn es Euch schlecht geht, dann meldet Euch und sucht Hilfe. Die Jugendhilfe und die Hilfe der psychologischen und psychiatrischen Dienste sind weiter für euch da.

USA: Margot (4) sitzt auf dem Boden und malt ein Bild.

Margot, 4, aus den USA malt ein Bild. Es ist wichtig, sich etwas für den Tag vorzunehmen, was einem Spaß macht.

© UNICEF/UNI316258/Bajornas

Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen für das System der Kinder- und Jugendhilfe und darüber hinaus?

Fegert: Als erstes müssen die Menschen verstehen, dass die Jugendhilfe systemkritisch ist, ebenso systemrelevant wie die Feuerwehr und die Kliniken. Im Text der Covid-19 Verordnung von Baden-Württemberg, wo ich lebe, werden die Beratungsstellen gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch und die Schutzzentren, trotz der vielen Gespräche, die es dazu gab, nicht als systemrelevant erwähnt. Auch die Jugendämter, die Kinder bei Kindeswohlgefährdung in Obhut nehmen können, werden nicht als systemrelevant eingestuft. Das ist für mich schwer nachvollziehbar. Gerade in schwierigen Zeiten brauchen wir die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe.

Das Bundesfamilienministerium hat Maßnahmen wie das Sozialschutz-Paket und den Ausbau von Online-Beratungsangeboten angestoßen - reicht das aus oder was muss noch passieren, um Kinder besser zu schützen?

Fegert: Das sind erste Schritte. Letztendlich müssen wir uns aber auf die Langstrecke einstellen. Das heißt der lange Weg zu einer gewissen Normalität muss auch dazu führen, dass Kinder, die jetzt Nachteile erlitten haben, weil sie zu wenig gefördert wurden, weil sie schulisch ins Abseits geraten sind oder weil neue Schwierigkeiten entstanden sind, einen Weg in ihr normales Leben zurückfinden und auch ihren Platz in ihren bisherigen Gruppen haben, beispielsweise in ihrer Schule. Das wird sehr viele individuelle Lösungen und Unterstützung brauchen.

Neben der akuten Hilfe benötigen wir Programme, die auch langfristig auf Chancengleichheit abzielen. Das wird einen langen Atem brauchen. Hier brauchen wir große – auch finanzielle – Lösungen, die dafür sorgen, dass der Motor nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im ganzen sozialen Unterstützungs- und Hilfesystem wieder anläuft, denn dann beginnt die langfristige Arbeit.

Noch mehr also sonst kann Gewalt nun im Verborgenen und unbemerkt vom sozialen Umfeld stattfinden. Was kann jeder Einzelne dazu beitragen, dass die Not von Kindern nicht aus dem Blick gerät?

Fegert: Wir müssen jetzt besonders aufmerksam sein. Das ist die Aufgabe unserer gesamten Gesellschaft. Gerade in einer solchen Situation bekommt man relativ viel mit als Nachbarn, da sind Achtsamkeit, Freundlichkeit und Unterstützung meines Erachtens sehr wichtig.

Wir alle können uns Gedanken machen, wie wir Kinder jetzt unterstützen können. Man kann Kindern beispielsweise einen Brief schreiben, man kann zeigen, dass man da ist, man kann sie anrufen. Ich glaube, es gibt viele kreative Wege, um sozial Kontakt zu halten. Es geht nicht um die soziale Distanzierung, sondern um physische Distanzierung, um Ansteckungen zu vermeiden. Aber wir sind soziale Wesen und wir sollten natürlich auch den sozialen Zusammenhalt aufrechterhalten, zum Wohl der Kinder.

Hilfreiche Links für ElternLinks und Tipps

Wenn Sie als Eltern Unterstützung brauchen, finden Sie Hilfsangebote unter folgenden Links:

Hier gibt es eine Übersicht über all unsere Corona Ratgeber für Familien.

Übersicht über aktuelle Informationen zu Hilfs- und Unterstützungsangebote des Bundesministeriums für Familie

Die "Nummer gegen Kummer" bietet Telefonberatung für Kinder, Jugendliche und Eltern.

Das Elterntelefon richtet sich an Mütter und Väter, die sich unkompliziert und anonym konkrete Ratschläge holen möchten.

Hier finden Sie eine Übersicht zu Beratungsstellen zum Schutz von Kindern vor Gewalt.

Wie können Sie gut mit Ihrem Kind über COVID-19 und die aktuelle Situation sprechen? Das lesen Sie hier.

Hier finden Sie Bastel-, Mal- und Spieletipps gegen Langeweile zuhause.

Die Initiative #keinKindalleinlassen gibt eine Übersicht über Tipps und Strategien, die helfen könnten, wenn Sie sich Sorgen um ein Kind und seine Familie machen.

Prof. Dr. med. Jörg Fegert ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Ulm. Er ist Mitglied im Deutschen Komitee für UNICEF.

Gemeinsam gegen das Coronavirus

Um das Coronavirus zu stoppen, müssen wir alle zusammenarbeiten. Das gilt nicht nur hier in Deutschland, es gilt weltweit.

Wir von UNICEF tun in unseren Programmländern alles, um vor allem Kinder und Familien vor einer Ansteckung zu schützen. Dabei brauchen wir Ihre Unterstützung. Jeder Beitrag hilft.

Mitarbeiterfoto: Christine Kahmann, UNICEF Deutschland
Autor*in Christine Kahmann

Christine Kahmann berichtet aus der Pressestelle über aktuelle UNICEF-Themen.