Kinderpsychiaterin zu COVID-19: Tipps für den neuen Alltag zuhause
Das Coronavirus hat unseren Alltag auf den Kopf gestellt. Das gilt vor allem auch für Kinder und Familien: Statt in der Schule, der Kita oder beim Spielen mit Freunden verbringen sie jetzt viel Zeit mit ihren Eltern, die im Homeoffice sind.
Viele Familien empfinden diese Situation als Herausforderung. Woran liegt das? Wie kann man Spannungssituationen vermeiden? Und wie sollten Eltern reagieren, wenn ihr Kind Angst vor dem Coronavirus hat? Kinderpsychiaterin und UNICEF-Komitee-Mitglied Dr. Schlüter-Müller gibt Tipps.
Liebe Frau Schlüter-Müller, Schulen und Kitas sind geschlossen, Spielplätze gesperrt. Wie wirkt es sich auf Kinder aus, wenn sie nicht mehr im üblichen Maße nach draußen dürfen?
Schlüter-Müller: Das kommt natürlich sehr stark darauf an, wie sich in dieser Zeit um die Kinder gekümmert wird, wie viel Platz in der Wohnung ist, ob es einen Garten hinterm Haus gibt und so weiter.
Meiner Erfahrung nach ist es momentan so, dass die Kinder, die ja heute sehr viel unterwegs sind, von Fremden betreut werden und oft auch viel Stress erleben, es gerade sehr genießen, dass sie mehr zuhause sein dürfen. Umso mehr, wenn die Eltern die Zeit und Möglichkeiten haben, ihre Kinder etwa beim Basteln anzuleiten, ihnen vorzulesen, mit ihnen zu spielen oder sie in die Aufgaben im Haushalt einzubinden, etwa beim Tischdecken oder Blumengießen.
>> Hier haben wir für Sie Tipps gegen Langeweile zuhause zusammengestellt <<
Aber: Diese Einschätzung gilt für Kinder, die zuhause genug Platz und Beschäftigung haben. Deren Eltern zum Teil Homeoffice machen dürfen oder sich bei der Betreuung abwechseln. Anders sieht es bei Familien aus, die etwa beengt wohnen. Hier steigt die Spannung, unter Umständen nehmen Stress und häusliche Gewalt zu. Ich betreue etwa Flüchtlingsfamilien, die mit sieben Personen in zwei Zimmern leben. Das macht die Situation zusätzlich schwierig. Ein afghanischer Jugendlicher, den ich betreue, ist zum Beispiel völlig verzweifelt. Er hat zuhause keinerlei Rückzugsmöglichkeiten.
Was können Eltern tun, um den Bewegungsmangel der Kinder auszugleichen?
Schlüter-Müller: Wenn die Wohnung genug Platz bietet, können Kinder auch in einer Wohnung rennen, Purzelbäume schlagen oder "Turnübungen" machen. Wenn es keine Ausgangssperre gibt, können die Kinder sehr wohl noch in den Park und zum Beispiel Radfahren – in Begleitung eines anderen Familienmitglieds, das darauf achtet, dass das Kind nicht mit anderen Kindern spielt.
Welche Rolle spielen Routinen / ein geregelter Tagesablauf für Kinder in der derzeitigen Situation?
Schlüter-Müller: Ich bin immer für feste Abläufe, Routinen und Rituale - auch momentan bin ich sehr dafür. Feste Rituale und Abläufe binden Angst, da sie den Tag voraussagbar machen. Das heißt aber nicht, dass man an allem rigide festhalten muss. Flexibilität ist ja der Grundstein der Erziehung. Aber eben nicht Beliebigkeit.
Soziale Kontakte sind aktuell stark reduziert. Wie reagieren Kinder darauf, wenn sie auf Treffen mit Freunden oder auch auf den Kontakt zu den Großeltern verzichten müssen?
Schlüter-Müller: Das trifft die Kinder besonders hart, denn die soziale Interaktion ist ja schon früh sehr wichtig für Kinder. Natürlich können Eltern nur bedingt Freunde ersetzen, vor allem bei den älteren Kindern oder gar bei Jugendlichen. Das helfen ja die sozialen Medien heute sehr. Über sie können die Mädchen und Jungen mit ihren Freunden in Kontakt bleiben. Und Geschwister können miteinander spielen, das ist in der aktuellen Situation ein Vorteil.
Wie schwer der fehlende Kontakt zu den Großeltern ist, kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Ich betreue meinen Enkel normalerweise jede Woche. Man kann versuchen, über FaceTime, mit kleinen Briefen, Karten oder Päckchen den Kontakt intensiv zu halten.
Wie sollte man als Eltern mit Spannungssituationen umgehen? Wie lassen sie sich vermeiden?
Schlüter-Müller: Hier gilt ebenfalls: Wenn man genug Platz hat sich aus dem Weg zu gehen, hilft das enorm. Bei vielen Familien geht das aber nicht und es ist eine sehr schwierige Situation. Ich rate in meinen Gesprächen den Eltern – generell, nicht nur in der aktuellen Situation – Wege zu finden, mit der eigenen Aggression und Impulsivität umzugehen.
Ein Tipp ist zum Beispiel, in einer schwierigen Situation kurz ins Badezimmer zu gehen und von 20 bis 0 zählen, um sich "runterzukühlen". Oder den Kindern zu sagen, dass man gerade "kurz vorm Platzen" ist und sie einen mal kurz in Ruhe lassen sollen.
Wichtig ist, dass Kinder nicht geschlagen werden, egal wie groß die Spannungen sind. Wenn es einen zweiten Elternteil gibt, sollten die Eltern sich abwechseln. Man kann den anderen zum Beispiel bitten, die Kinder für einige Zeit zu übernehmen, damit man selbst sich vielleicht bei einem Glas Tee oder ähnlichem entspannt.
Wenn mein Kind Angst vor dem Coronavirus und der aktuell ungewohnten Situation hat: Wie sollte ich mich als Eltern verhalten?
Schlüter-Müller: Versuchen Sie, das Kind zu beruhigen, auch wenn Sie selbst Angst haben. Sagen Sie Sätze wie: „Ich kann deine Angst sehr gut verstehen, denn so vieles ist plötzlich ganz anders als bisher. Aber ich bin ganz sicher, dass es ganz viele Menschen (Ärzte, Wissenschaftler, Politiker) gibt, die ganz viel dafür tun, dass bald alles wieder gut ist“.
Je nach Alter können Sie Beispiele wählen wie "Es ist immer schwer, wenn man nicht so genau weiß was los ist oder bald kommt. So war das ja auch als du in den Kindergarten/die Schule gekommen bist. Und dann war es gar nicht so schlimm". Oder "Weißt du noch, wie viel Angst du vor der Spritze beim Kinderarzt hattest? Und dann war es kurz schlimm, aber dann ging das auch wieder weg".
Die Kinder fühlen sich sicher, wenn die Eltern sicher sind. Sie brauchen die Sicherheit, dass ihre Eltern die Hoffnung haben, dass bald alles besser wird. Vertrauen Sie als Eltern auf die Virologen, die Ärzte, die Politiker, sie tun besonders jetzt Unglaubliches!
Wie wirkt die Krise auf Kinder und Jugendliche, die eher labil sind?
Schlüter-Müller: Auf labile Kinder und Jugendlichen wirkt die derzeitige Situation sehr verunsichernd. Die Ängstlichen können noch ängstlicher werden, die Pessimisten unter Umständen depressiv. Depressive werden möglicherweise suizidal. Meine Kolleginnen und Kollegen und ich merken im Moment, wie viele unserer Patienten sehr große Probleme haben. Denn das, was den meisten am Schwersten fällt, nämlich auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, ist momentan der Fall: keine Ablenkung durch Shoppen, Freunde treffen oder Schule. Eine sehr schwierige Situation für labile Kinder und Jugendliche.
Was sollten Eltern dieser Kinder beachten? Haben Sie Tipps, die über die bereits von Ihnen genannten Empfehlungen hinausgehen?
Schlüter-Müller: Eltern sollten unbedingt Hilfe in Anspruch nehmen, falls das Kind/der Jugendliche nicht schon in Behandlung ist. Es gibt Nottelefone vom Kinderschutzbund, Beratungsstellen oder Anrufbeantworter in psychotherapeutischen oder kinderpsychiatrischen Praxen. Wenden Sie sich an uns - wir sind auf die momentanen Probleme vorbereitet.
Hilfreiche Links für Eltern
Wir von UNICEF möchten Sie als Eltern unterstützen. Hier finden Sie all unsere Corona Ratgeber für Familien.
Weitere Hilfsangebote gibt es unter folgenden Links:
Übersicht über aktuelle Informationen zu Hilfs- und Unterstützungsangebote des Bundesministeriums für Familie
Die "Nummer gegen Kummer" bietet Telefonberatung für Kinder, Jugendliche und Eltern.
Das Elterntelefon richtet sich an Mütter und Väter, die sich unkompliziert und anonym konkrete Ratschläge holen möchten.
Die Initiative #keinKindalleinlassen gibt eine Übersicht über Tipps und Strategien, die helfen könnten, wenn Sie sich Sorgen um ein Kind und seine Familie machen.
Wie können Sie gut mit Ihrem Kind über COVID-19 und die aktuelle Situation sprechen? Das lesen Sie hier.
Hier finden Sie Bastel-, Mal- und Spieletipps gegen Langeweile zuhause.
Dr. med. Susanne Schlüter-Müller ist Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Frankfurt. Sie ist Mitglied im Deutschen Komitee für UNICEF.
Gemeinsam gegen das Coronavirus
Um das Coronavirus zu stoppen, müssen wir alle zusammenarbeiten. Das gilt nicht nur hier in Deutschland, es gilt weltweit.
Wir von UNICEF tun in unseren Programmländern alles, um vor allem Kinder und Familien vor einer Ansteckung zu schützen. Dabei brauchen wir Ihre Unterstützung. Jeder Beitrag hilft.