Meinung

Covid-19 und die Folgen für Kinder: Wir müssen eine globale Katastrophe verhindern!


von Christian Schneider

Drei Zahlen bestimmen in diesen Wochen, wie gut unser Tag jeweils gelaufen ist. Kaum jemals außerhalb einer Fußball-Weltmeisterschaft (auch nicht nach einer Wahl) war unser Land so an Statistiken interessiert. Die Verkündung der Verdoppelungszeit der Infektionen mit dem Coronavirus, die Zahl der Neuinfektionen und die der Verstorbenen definiert, wie tief wir uns in die vier Wände und den engsten Kreis der Lieben zurückziehen – und wie groß die Sorge um ältere Angehörige, um besonders bedrohte Freunde oder Nachbarn bleibt.

Wir haben gelernt, wie wichtig „flatten the curve ist“ – auf das Abflachen der Kurve der Infektionen zielt alles, was wir zu Recht und in den letzten Tagen offenbar auch ein wenig erfolgreich an Schutzmaßnahmen und Einschränkungen hinnehmen, um Covid-19 die Kraft der Pandemie zu nehmen.

Eine Mutter wird auf den Coronavirus getestet | © UNICEF/UNI316672// Frank Dejongh

Überall auf der Welt werden verstärkt Schutz- und Vorsichtsmaßnahmen gegen eine schnellere Ausbreitung des Coronavirus getroffen.

© UNICEF/UNI316672// Frank Dejongh

Doch während Claus Kleber aus dem heute-journal allabendlich mit einem Seufzen die Fieberkurve der Nation in meine persönliche Corona-Schutzfestung trägt, sehe ich hinter den Grafiken eine viel größere, wohl noch besorgniserregende Entwicklung: Mit jeder Meldung zu steigenden Infektionszahlen in Ländern des Nahen und Mittleren Osten, in asiatischen und afrikanischen Ländern wächst die Sorge, dass auf Millionen Kinder in Ländern wie Syrien oder dem Libanon, in Slumgebieten indischer oder nepalesischer Städte oder afrikanischen Flüchtlingslagern eine kaum zu ermessende Gefahr zuläuft.

Wenn das Coronavirus Krisengebiete erreicht

Auch in diesen Regionen hat fast jeder Staat drastische Maßnahmen ergriffen. Aber die Pandemie trifft auf äußerst schwache Gesundheitssysteme. Sie wird rund um den Globus vielleicht schon in wenigen Tagen Menschen erreichen, die in gedrängten Wohnvierteln oder behelfsmäßigen Lagern dicht an dicht wohnen. Sie droht Familien zu treffen, für die der nächste Arzt Stunden entfernt und schon die Anfahrt nicht zu bezahlen ist – und die weder sauberes Wasser noch eine einfache Latrine haben, um sich und andere zu schützen.

Ich denke jetzt an Besuche in engen, aber zugig kalten Notunterkünften im Libanon, in Aleppo und anderen syrischen Städten, in denen die Kinder nicht nur mit den Erfahrungen des Krieges, sondern auch mit Hunger, schweren Erkältungen, Lungenentzündungen kämpfen. Die wenigen Toiletten müssen sie sich oft mit Hunderten Menschen teilen. Und ich sehe mangelernährte, von Infektionen geschwächte Kinder im Südsudan vor mir, in der Demokratischen Republik Kongo denke an die Hügel der Rohingya-Camps in denen sich Großfamilien auf minimalem Raum einfachste Verschläge teilen. Wie sollen hier unsere Schutzregeln „Abstand halten, Hände waschen“ wirken? Und wie wollen wir all die Menschen versorgen, wenn die Zahl der Erkrankungen rasch zunimmt?

Das Flüchtlingslager Cox Bazar in Bangladesch | © UNICEF/UNI255740/Chak

Bild 1 von 3 | Ein Blick über eins der größten Flüchtlingslager der Welt: Hier leben Tausende vertriebene Rohingya auf engstem Raum in Cox Bazar in Bangladesch.

© UNICEF/UNI255740/Chak
Südsudan: Eine Mutter stillt ihr Baby | © UNICEF/UNI315612/Ongoro

Bild 2 von 3 | Eine Mutter stillt ihr kleines Baby im Yambio im Südsudan. Viele Familien leben hier bereits nur mit dem Nötigsten und blicken ungewiss in die Zukunft, die Corona dem Land bringen wird.

© UNICEF/UNI315612/Ongoro
Kinder in einem Flüchtlingslager im Libanon | © UNICEF/UN0299646/Modola

Bild 3 von 3 | Besonders für Kinder und Familien in Flüchtlingslagern, wie hier im Libanon, ist die Gefahr vor einer Ansteckung mit dem Virus groß.

© UNICEF/UN0299646/Modola

Nur eine Zahl: Während die WHO fordert, dass es weltweit durchschnittlich mindestens 4,45 Ärzte, Krankenschwestern und Hebammen pro 1.000 Einwohner geben sollte, lag der Durchschnitt in Afrika im Jahr 2015 bei nicht einmal zwei Fachkräften für tausend Menschen. Zum Vergleich: Im so sehr unter Corona leidenden Italien gibt es 10,7 Ärzte und Krankenschwestern für 1.000 Menschen.

Nicht nur Gesundheits-, sondern auch soziale Krise

Doch neben der unmittelbaren Gefahr für das Leben löst die Pandemie bereits jetzt eine weltweite soziale Krise aus. Millionen Menschen haben ihre Arbeit als Tagelöhner und Wanderarbeiter verloren. Viele wissen schon jetzt nicht mehr, wie sie ihre Kinder ernähren sollen, ohne dass das Coronavirus sie bereits erreicht hätte.

Und gerade auf die ärmsten Kinder hat die Krise schon voll durchgeschlagen: Unter den 1,5 Milliarden (!) Kindern, die aufgrund der gesundheitlichen Gefahr nicht mehr zur Schule gehen, sind viele, die vielleicht nie mehr ins Klassenzimmer zurückkehren – weil sie dringend arbeiten müssen, weil ihre Eltern sie nun doch früh verheiraten. Wo Schulen schließen, finden auch die für viele überlebenswichtigen Schulspeisungen nicht statt – ein gefährlicher Kreislauf, der ohne eine einzige Corona-Infektion Kinder in Gefahr bringt.

Ein geschlossener Spielplatz | © UNICEF/UNI312343/McIlwaine

Ein Bild, das sich in vielen Städten und Gemeinden weltweit wiederholt: geschlossene Schulen und geschlossene Spielplätze.

© UNICEF/UNI312343/McIlwaine

Kindheit in der Corona-Pandemie

Möchten Sie mehr über die Folgen der Pandemie für Kinder weltweit erfahren und darüber, wie UNICEF hilft? Hier finden Sie immer die aktuellsten Corona Infos im UNICEF Blog.

UNICEF-Hilfe geht trotz erschwerter Bedingungen weiter

Bereits heute ist es aufgrund der weltweiten Beschränkungen der Bewegungsfreiheit schwieriger für unsere UNICEF-Teams, Kinder mit Impfungen und anderen Hilfsgütern zu erreichen, weil Stadtviertel abgeriegelt, Einrichtungen für Kinder geschlossen werden, weil Flüge gestrichen und Produktionskapazitäten für wichtige Hilfsgüter heruntergefahren wurden. Und hinter verschlossenen Türen, das wissen wir aus vielen Krisensituationen, wachsen Stress und Frustration, droht in vielen Familien oder Notunterkünften die Gewalt zuzunehmen, die Fälle von Misshandlungen und Missbrauch.

Hier werden Hilfslieferungen vorbereitet | © UNICEF/UNI314083/Chan

Bild 1 von 5 | Weltweit verschickt und liefert UNICEF weiterhin dringend benötigte Hilfsgüter.

© UNICEF/UNI314083/Chan
UNICEF-Mitarbeiter zu Gast bei einem lokalen Radiosender | © UNICEF/UNI315548/Ongoro

Bild 2 von 5 | Mitarbeiter von UNICEF sprechen im Südsudan im lokalen Radiosender über das Coronavirus, um die Bevölkerung mit richtigen und sachlichen Informationen zu erreichen.

© UNICEF/UNI315548/Ongoro
Eine UNICEF-Mitarbeiterin verarbeitet die Seife | © UNICEF/UNI314085/Chan

Bild 3 von 5 | Seife. Die simpelste und gleichzeitig effektivste Maßnahme gegen das Coronavirus.

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UNICEF-Mitarbeiter hängen Plakate mit wichtigen Informationen auf | © UNICEF/UNI318629/Souleiman

Bild 4 von 5 | UNICEF-Helfer hängen in Syrien Plakate mit wichtigen Anweisungen zum Schutz vor Corona an Apotheken auf. Die Plakate geben zum Beispiel Informationen über richtiges Händewaschen.

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Kinder lernen wie sie sich richtig die Hände waschen | © UNICEF/UNI315490/Himu

Bild 5 von 5 | Kinder waschen sich in einem von UNICEF unterstützten Lernzentrum in einem Rohingya-Flüchtlingslager in Cox's Bazar, Bangladesch, ihre Hände mit Seife. Über 216.000 Kinder haben hier bereits gelernt, wie man sich richtig die Hände wäscht.

© UNICEF/UNI315490/Himu

Fieberhaft arbeiten unsere Teams in diesen Tagen daran, die Bevölkerung zumindest zu warnen, die Ausstattung mit Seife und anderen Desinfektionsmitteln zu verbessern, Helfer zu schulen und die oft einfachsten Gesundheitseinrichtungen in Landgemeinden oder Slumvierteln auf die Pandemie vorzubereiten.
Die folgenden sechs Punkte leiten dabei die UNICEF-Programme weltweit an, sie sind gleichzeitig ein dringender Appell an alle Regierungen:

1. Dafür sorgen, dass Kinder gesund bleiben

Die überlasteten Gesundheitssysteme können Menschen, die an Covid-19 erkranken, meist nicht angemessen behandeln. Gleichzeitig können sie für Kinder in den ärmsten Ländern den Schutz oder die Behandlung etwa bei Lungenentzündung, Malaria und Durchfall oft nicht mehr leisten. So drohen Kinder, selbst wenn die Corona-Pandemie sie verschont, durch vermeidbare und behandelbare Krankheiten zu sterben. UNICEF fordert Regierungen und Partner auf, lebensrettende Gesundheitsdienste für Schwangere, Neugeborene und Kinder aufrechtzuerhalten.

2. Kinder mit Wasser und Hygieneartikeln erreichen

Es war noch nie so wichtig, uns selbst und andere durch die richtigen Hygienepraktiken zu schützen. Doch viele Kinder können das nicht, denn ihnen fehlen Seife und fließendes Wasser. UNICEF bittet dringend um Finanzierung und Unterstützung, damit wir mehr Mädchen und Jungen mit sanitären Einrichtungen und Hygieneartikeln erreichen können. Mich hat sehr ein kleines Video aus Goma im Osten der Demokratischen Republik Kongo berührt. Die 16-jährige Docile beschreibt dort, wie sie die Menschen in ihrem Viertel vor der Gefahr warnt. Docile ist für mich eine Corona-Heldin unter denkbar schwierigsten Bedingungen.

3. Sicherstellen, dass Kinder weiter lernen

Weltweit haben Eltern, Betreuende, Erzieherinnen und Erzieher engagiert reagiert und Wege gefunden, um Kinder beim Lernen außerhalb des Klassenzimmers zu unterstützen. Aber bei weitem nicht alle haben Zugang zum Internet, zu Büchern oder Schulmaterial. Wir müssen mehr tun, um allen Kindern weiter Zugang zu Bildung zu ermöglichen, entweder digital oder über andere Methoden wie Radios. UNICEF fordert die Regierungen auf, die Möglichkeiten für das Lernen zu Hause zu erweitern – auch und vor allem für Kinder, die keine digitalen Geräte besitzen.

Ein Junge lernt am Laptop von zu Hause | © UNICEF/UNI318705/Frank Dejongh

Trotz Schulausfall: Ein Junge lernt von zu Hause. Immer mehr Konzepte und Modelle zum „Home Schooling“ werden weltweit umgesetzt. UNICEF unterstützt die Implementierung dieser Prozesse.

© UNICEF/UNI318705// Frank Dejongh

4. Familien unterstützen, ihre Bedürfnisse decken

Die besonders benachteiligten Kinder und ihre Familien spüren bereits jetzt die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie am stärksten. Da Millionen Eltern darum kämpfen, ihren Lebensunterhalt zu sichern, müssen die Regierungen ihre sozialen Schutzschirme ausbauen – und dafür sorgen, dass sie Familien mit Gesundheitsversorgung, Ernährung und Bildung erreichen. Dazu gehören direkte finanzielle Hilfe sowie Unterstützung für Lebensmittel und gesunde Ernährung.

5. Kinder vor Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch schützen

Kinder, die bereits Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch ausgesetzt sind, sind jetzt noch stärker gefährdet. Das Risiko für Mädchen, früh zu heiraten, schwanger zu werden und Gewalt zu erleiden, wird sich weltweit erhöhen. Durch die soziale Isolation können Kinder, die Gewalt zu Hause oder im Internet erleben, weniger Hilfsangebote wahrnehmen. Wir müssen Kinder unterstützen, die aufgrund von Ansteckungen vorübergehend von den Eltern getrennt werden. Und zusammenarbeiten, um Lösungen für den steigenden Bedarf an Schutz und psychosozialer Unterstützung für Kinder zu finden.

6. Geflüchtete Kinder sowie Kinder in Konfliktregionen schützen

Die Sicherheit und das Überleben von geflüchteten und migrierten Kindern sowie Kindern in Konfliktregionen sind tagtäglich bedroht – auch, wenn keine Pandemie ausbricht. Für viele ist der Zugang zu medizinischer Versorgung extrem eingeschränkt. Gleichzeitig ist es ihnen oft unmöglich, Abstand zu anderen zu halten. UNICEF ruft die Regierungen auf, die humanitären Bedürfnisse dieser Kinder und ihrer Familien nicht zu vergessen. Der UN-Generalsekretär hat Konfliktparteien zu einem globalen Waffenstillstand aufgerufen, um alle Kräfte bei der Bekämpfung des gemeinsamen Feindes Covid-19 zu bündeln.

Flüchtlingslager Griechenland: Ein Junge steht zwischen den Zeltunterkünften.

Ein Junge in einem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Samos. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal. Ein Virus kann sich hier schnell ausbreiten.

© UNICEF/UNI312751/Romenzi

Ich wünsche uns allen, dass heute Abend die Fieberkurve der Pandemie, in Deutschland, in Europa, in den vielen weiteren betroffenen Ländern Anlass zur Zuversicht gibt. An vielen Orten sieht es danach noch nicht aus. Aber vergessen wir nicht, dass diese globale Gefahr einen großen Teil der Welt noch viel erbarmungsloser zu treffen droht.

„Wir sind in dieser Sache alle vereint“, schreibt meine Kollegin Yasmin Haque aus Indien. Wir werden die globale Corona-Krise nur überstehen, wenn wir alle – Regierungen, Institutionen, Fachleute, Wirtschaft, private Spender – sehr schnell eine beispiellose, weltweit koordinierte Initiative auf den Weg bringen, um eine globale Katastrophe für Kinder und die ärmsten Familien noch abzuwenden.

Gemeinsam gegen das Coronavirus

Um das Coronavirus zu stoppen, müssen wir alle zusammenarbeiten. Das gilt nicht nur hier in Deutschland, es gilt weltweit.

Wir von UNICEF tun in unseren Programmländern alles, um vor allem Kinder und Familien vor einer Ansteckung zu schützen. Dabei brauchen wir Ihre Unterstützung. Jeder Beitrag hilft.

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.