Teil 4: Im Flüchtlingslager

Mein Reisetagebuch Afghanistan


Von Maria von Welser, Stellv. Vorsitzende UNICEF Deutschland

Juli 2012 - Wir hatten eine Verabredung mit einigen Studentinnen in einer privaten Universität. Wieder durfte der Fotograf nicht dabei sein, wieder mussten Männer raus, damit sich Frauen frei fühlen und reden können. Dabei entdeckte Peter Müller zufällig ein riesiges Flüchtlingslager. Eins von 35, die sich wie ein Ring um die Stadt ziehen. Wir gehen wie magisch angezogen hinein: Im grauen Dunst und Staub der Fünf-Millionen-Metropole Kabul sind die löchrigen Lehmhütten kaum zu erkennen. Über eine Million Flüchtlinge leben hier unter ärmlichsten Bedingungen. Die Mehrzahl davon: Kinder.

Kinder im Unterricht.©UNICEF/von Welser

Aschiana/Kabul: Schüler in einer von UNICEF unterstützten Schule recken fröhlich ihre Hände in die Höhe.

© UNICEF/von Welser

Kinder winken uns, wir sollen ihnen folgen. Auf steinigen und staubigen Pfaden balancieren wir ihnen nach. 450 Familien versuchen allein in diesem Viertel zu überleben. Seit vier Jahren sind sie hier, vorher waren sie vor den russischen Soldaten aus Kunduz nach Pakistan geflohen. Ihre Hütten aus Khak, so heißt hier der Lehm, bröckeln bei 37 Grad Hitze vor sich hin. Die Menschen versuchen in ihrer Armut noch ein Mindestmaß an muslimischer Tradition zu pflegen: Ein löchriger grün-weißer Plastikteppich liegt vor der Behausung. Darüber schützt ein Dach aus Plastikplanen vor der brennenden Sonne. Ich muss meine dreckigen Turnschuhe ausziehen, bevor ich in den inneren Bereich eintreten darf. Ganz nach afghanischer Gastfreundschaft wird mir ein Chai angeboten – ein heller Tee in schmutzigen Gläsern. Es fällt mir schwer, das abzulehnen. Wovon sie hier leben? „Nachbarn kommen manchmal vorbei und bringen Kleidung und Essen. Sonst hilft uns niemand“, erzählt mir die 52-jährige Saifa, Mutter von acht Kindern. Ihr ältester Sohn hat einen kleinen Job und trägt aus einem Lebensmittelgeschäft die Ware zu den Käufern nach Hause. Die ihm dann manchmal auch etwas Trinkgeld geben.

Was das von 30 Jahren Krieg so schwer gebeutelte Land mit seinen Flüchtlingen machen wird? Keiner weiß es, keiner will es wissen. Es ist ein menschliches Drama, das sich hier neben den vielen anderen vor den Toren Kabuls abspielt.

Die Frauen aus diesen Flüchtlingslagern werden es nie in eine der 30 Frauenkliniken in der Stadt schaffen. Ihre Kinder kommen in den Elendshütten zur Welt. Wie überhaupt bisher die meisten Kinder zu Hause geboren werden. Ein Grund für die hohe Mütter- und Baby-Sterblichkeit.

Wenn eine Familie fortschrittlicher denkt, sucht sie den Weg zum Beispiel in die Malailai-Mütterklinik im Zentrum der Stadt. Nur mit ihren Männern oder Vätern dürfen die Frauen dort erscheinen. Das ist Gesetz. Sollte eine Frau bei Geburtskomplikationen einen Kaiserschnitt benötigen, dann muss – auch das ist Gesetz – der Mann oder Vater seine Einwilligung geben. Aber: “Wenn wir die Einwilligung nicht bekommen, dann machen wir trotzdem eine Sectio, um Mutter und Kind zu retten“, erzählt mir Dr. U*. Sie ist eine von 300 weiblichen Ärztinnen in dieser Klinik. Täglich kommen hier mindestens 200 hochschwangere Frauen an. Ihre Männer warten im Vorhof unter den Bäumen. Oft Stunden und Tage.

Vollkommen verdeckt vom Hidschab kommt mir eine junge Frau mit einem Bündel im Arm entgegen. Ein Lächeln von mir, ich zeige mit dem Finger auf das Bündel und sie deckt mir glücklich strahlend ihre Tochter auf. Drei Stunden alt, da geht die Mutter schon mit dem Baby im Arm nach Hause. Sie umarmt mich, was Afghaninnen sonst nicht tun. Aber ihr Glück lässt sie alle Konventionen vergessen. Wir verstehen uns von Frau zu Frau. Die Freude nach einer Geburt ist international. Da spielen Farsi oder Deutsch keine Rolle mehr.

Nichts wie weg – die gut ausgebildeten Mädchen wollen ins Ausland

Dank der internationalen Hilfe nach dem Abzug der NATO-Truppen 2014 werden 8,4 Milliarden Dollar in das Land fließen. Aber nur sechs Prozent sollen davon speziell für die Bedürfnisse der Frauen ausgegeben werden. Das schreibt auch die „Afghanistan Times“. Was die Politikerinnen und Frauenorganisationen gleichermaßen empört.

Maryam Faisir ist 19 Jahre alt und studiert an einer Privatuniversität Zahnmedizin. Dafür zahlt ihr Vater jeden Monat 120 Dollar, was in Afghanistan eine Menge Geld ist. Wenn sie fertig ist mit ihrem Studium will sie nichts wie weg aus dem Land: “Am liebsten in die Vereinigten Staaten von Amerika“, erzählt sie mir in ihrem Hörsaal. Ihre Eltern unterstützen sie. Auch in ihrem Wunsch, keinesfalls einen Mann zu heiraten, der nicht ihre Berufstätigkeit unterstützt. „Auch meine Kommilitoninnen wollen ins Ausland, Frauen sind in diesem Land wenig wert, die Sicherheit ist immer noch ein großes Problem, und wie es mit der Wirtschaft weitergeht, weiß auch keiner.“ Die junge Frau sieht ihr Land kritisch und klar. Dennoch scheint sie der muslimischen Religion und den Traditionen eng verbunden. Sie trägt den persischen Hidschab, das schwarze Tuch liegt eng am Kopf an, damit ja kein einziges Haar heraus spitzt. Ihre Füße stecken in dicken Socken in den modischen Sandalen. Trotz der heißen 37 Grad im Juli. Das wird sie wohl dann in den Vereinigten Staaten von Amerika aufgeben müssen. Schon um dort dazuzugehören und sich nicht auszugrenzen.

*Name geändert

Maria von Welser ist freie Journalistin und stellvertretende UNICEF-Vorsitzende. Das Reisetagebuch aus Afghanistan erscheint als ihr persönlicher Beitrag, der nicht der Meinung von UNICEF entsprechen muss.

Reisetagebuch Maria von Welser

» Teil 1: Ankunft in Afghanistan
» Teil 2: Klinikbesuch
» Teil 3: Mutiger Kampf für mehr Frauenrechte
» Teil 4: Im Flüchtlingslager
» Teil 5: In einer Männergesellschaft

» Zur Übersichtsseite des Reisetagebuchs aus Afghanistan