Teil 1: Ankunft in Afghanistan

Mein Reisetagebuch Afghanistan


Von Maria von Welser, Stellv. Vorsitzende UNICEF Deutschland

Juli 2012 - Anflug über karge Berglandschaften, tiefe dunkle Schluchten, vereinzelt noch Schnee auf den Nordhängen. In dreißig Minuten werde ich in Kabul landen. In der Tasche ein hüftlanges Hemd mit langen Armen und das obligatorische Tuch, das die Haare bedecken soll. So werde ich hoffentlich nicht die afghanischen Männer irritieren.

Maria von Welser. ©UNICEF/von Welser

Die stellvertretende Vorsitzende von UNICEF Deutschland Maria von Welser während ihrer Afghanistan-Reise im Juli 2012.

© UNICEF/von Welser

Ende 2014 wollen die internationalen Truppen das Land am Hindukusch verlassen. Was wird dann mit den Frauen und Kinder geschehen? So vieles war zu lesen. Jetzt will ich selbst genau hinsehen. Wie leben dort die elf Millionen Frauen? Die Millionen Kinder? Warum sterben in kaum einem Land der Welt mehr Frauen bei der Geburt? Warum sind fast nirgendwo auf der Erde mehr Kinder mangelernährt und wachsen nicht mehr?

Viele Kontrollen, das Gepäck kommt auf dem einzigen Band relativ schnell. Aber dem Fotografen Peter Müller fehlen zwei Passbilder, die er für einen weiteren Antrag nicht dabei hat. Davon wussten wir nichts. “Neue Regeln“ erklärt uns ein ungewöhnlich freundlicher Beamter.

Auf der Fahrt in die staubige grau-beige Stadt kommt mir nochmals alles in den Sinn, was wir auch damals im Fernsehen bei der Bombardierung Afghanistans im Jahre 2002 berichtet haben: Auf der „Achse des Bösen“ sollte nicht nur Osama Bin Laden getötet werden, sondern wollte die NATO auch die Rechte der Frauen zurückbomben. Nach der grausamen Herrschaft der Taliban. Aber das ist nicht gelungen.

Jüngster Fall: In einem Dorf nahe Kabul wurde vor zwei Wochen eine 22-jährige Afghanin erschossen, weil sie angeblich Ehebruch begangen haben soll. In einem Video auf YouTube ist zu sehen, wie ihr ein Mann in weißer Kleidung neunmal in den Kopf feuert. Auch dann noch, als sie längst zur Seite gefallen ist und regungslos am Boden liegt. Nach der Exekution schwenkt die Kamera auf die Hänge über dem Dorf: Dort jubeln Dutzende von Männern und rufen „Lang leben Mudschahedin“. Monica Hauser von medica mondiale in Köln und mit einem Frauenbüro in Afghanistan vertreten, empört sich: „Die Hinrichtung ist ein brutales Beispiel für die Auswüchse von Gewalt, die sich bei traumatisierten Gesellschaften in patriarchalen Systemen immer wieder gegen Frauen richten.“

Das alles passiert genau während der Konferenz über die milliardenschweren Hilfeleistungen der internationalen Gemeinschaft in Tokio. 56 Staaten wollen Afghanistan auch nach dem Truppenabzug weiter unterstützen. Auch Deutschland wird mit 430 Millionen Euro dabei sein. Allerdings gegen Bedingungen: unter anderem sollen die Frauenrechte gewahrt werden.

Schätzungen zu Folge werden drei von vier Frauen zwangsverheiratet, meist sind sie noch keine 16 Jahre alt. Frauen sind eine Handelsware. Sie gehören den Vätern, den Ehemännern. Nicht sich selbst. In kaum einem Land der Welt sterben so viele Kinder und Frauen bei der Geburt. Das liegt unter anderem auch daran, dass männliche Ärzte afghanische Frauen nicht behandeln dürfen. Aber Frauen können als Ärztinnen wiederum nicht ohne die Begleitung eines männlichen Mitgliedes der Familie auf die Straße oder gar an ihren Arbeitsplatz gehen. Das ist der Teufelskreis, warum die Lebenserwartung einer afghanischen Frau bei 47 Jahren und damit unter der der Männer liegt.

Manche Ehefrauen zünden sich mit Kerosin an, um sich das Leben zu nehmen. Allein in Kabul werden in der Brandstation der größten Klinik jeden Tag zehn schwer verbrannte Frauen eingeliefert. Wer dagegen nicht den Tod sucht, sondern nur aus der Zwangsehe flieht, erhält keine Unterstützung bei der Polizei. Im Gegenteil: diese Frauen werden wegen „Verbrechen gegen die Sittlichkeit“ eingesperrt, sollten sie nur mit einem anderen Mann gesehen werden. Immer wieder rütteln dramatische Schicksale von Frauen aus Afghanistan die Menschen auf. Vor zwei Jahren das erschreckende Bild der 18-jährigen Aisha auf dem Titelfoto der Times in den Vereinigten Staaten von Amerika. Sie blickt mit einem Loch in ihrem Gesicht statt einer Nase scheu in die Kamera. Ihrem alten, sie schlagenden Ehemann war sie davon gelaufen. Der hatte sie aber gefunden. Ihr die Nase und die Ohren abgeschnitten und sie in den Bergen blutend zurückgelassen. US-Soldaten fanden das ohnmächtige Mädchen und brachten sie nach Amerika. Dort bemühten sich Fachchirurgen, der jungen Frau wieder ein ansehnliches Gesicht und zwei Ohren anzupassen. Aber nach der Operation musste sie wieder zurück in die Heimat. Niemand weiß, wo sie heute in Afghanistan untergetaucht ist.

Das Schicksal der Frauen in Afghanistan scheint vergessen. Da wundert es nicht, wenn bei dieser unverändert dramatischen Situation immer mehr junge Afghaninnen ihr Land verlassen. Es findet ein regelrechter „brain drain“ statt, ein Weggang vor allem der gut ausgebildeten Frauen. Das berichtet auch der britische Observer. Wie es tatsächlich aussieht für die Frauen in Afghanistan, welche Chancen sie haben, wenn die Nato-Truppen im nächsten Jahr abgezogen sein werden. Vor allem, wie die Kinder ihre ersten fünf Jahre überleben in diesem Land mit einer der höchsten Kindersterblichkeitsraten der Welt. Morgen mehr. Da treffe ich Peter Crowley von UNICEF Afghanistan und seinen Media-Mann Alistair Gretarsson im UN-Compound in der Jalalabad Road.


Maria von Welser ist freie Journalistin und stellvertretende UNICEF-Vorsitzende. Das Reisetagebuch aus Afghanistan erscheint als ihr persönlicher Beitrag, der nicht der Meinung von UNICEF entsprechen muss.

Reisetagebuch Maria von Welser

» Teil 1: Ankunft in Afghanistan
» Teil 2: Klinikbesuch
» Teil 3: Mutiger Kampf für mehr Frauenrechte
» Teil 4: Im Flüchtlingslager
» Teil 5: In einer Männergesellschaft

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