Teil 5: In einer Männergesellschaft
Mein Reisetagebuch Afghanistan
Von Maria von Welser, Stellv. Vorsitzende UNICEF Deutschland
Juli 2012 - Wir fahren von Projekt zu Projekt, von Interview zu Interview. Ich habe dann das Gefühl, zu wenig vom Leben in Kabul mitzubekommen. In der Mittagshitze bei 37 Grad machen sich der Fotograf Peter Müller und ich auf den Weg auf einen Markt. Es ist eine trockene Hitze, ganz gut zu ertragen. Mein Schal, mein langes Hemd und die langen Hosen stören mich allerdings ganz schön. Gerne wäre ich luftiger gekleidet. Geht aber nicht, nicht in Afghanistan.
Unter einer Brücke verläuft ein Rinnsal von Fluss. Das Flussbett ist allerdings breit. Da muss im Winter dann auch mehr Wasser fließen, hoffe ich für die Menschen hier. Zwei Jungen mit langen Stöcken sammeln Abfall und stecken ihn in Säcke. Aber nicht, um dort sauber zu machen, sondern um diesen Abfall wiederzuverwerten. Auf dem Markt mischen sich dann die Frauen mit der Burka und die mit dem persischen Hidschab, der wenigstens die Augen frei lässt. Andere gehen tatsächlich nur mit einem Tuch über dem Kopf, darunter das Haar streng weggebunden, mit langen Ärmeln und langen Hosen einkaufen. In Kabul scheint die Gesellschaft toleranter. Auf dem Land habe ich nur Burkas gesehen.
Bei Medica Afghanistan versucht man den afghanischen Frauen zur Seite zu stehen. Wenn sie es denn schaffen dorthin, in das Büro in einem unauffälligen Stadtteil Kabuls.
Wie es einer starken Frau in dieser Männergesellschaft ergeht, erlebe ich dann am Nachmittag: Noch steht sie selbstbewusst an der Polizeischranke der Hauptwache in Kabul: A. Hassad*, 42 Jahre, Kriminalkommissarin. Eine von drei Frauen in ihrer Abteilung. Mit 230 männlichen Kollegen. Sie hat mir ein Interview zugesagt. Aber es kommt anders. Zweimal geht sie rein und raus aus dem riesigen Gebäudekomplex. Inständig bittet sie unser Fotograf Peter Müller wenigstens um ein Foto. Dann steht sie fast wie eine Diebin an der mit Stacheldraht bewehrten Mauer der Hauptwache. Meine Fragen will sie später im Büro beantworten. Sie ist sichtbar unter Druck. Wir gehen jetzt hinein, durch unzählige Taschen- und Körperkontrollen. Zu oft sind in den letzten Monaten Bomben von Selbstmordattentätern vor Behörden explodiert. Hunderte von Männern laufen durch die Gänge, wir müssen zu ihrem Boss. Der ist aber nicht da. Dann zum Vize, der sieht kaum auf. Geschweige denn dass auch nur einer der vier Polizisten in seinem Büro sich irgendwie erhebt. Wir sitzen wie vor einem Richter. Die anwesenden Herren bekommen Chai angeboten, uns beachtet keiner. Ich will der Kommissarin eine Frage stellen. „Später“, winkt die Übersetzerin ab. Aber ein Später gibt es nicht. Der Vize schüttelt nach einer halben Stunde nur ungnädig und wortlos den Kopf, scheucht uns genervt aus seinem Zimmer. Hassad lächelt tapfer. Ich bin fassungslos ob einer solchen Behandlung von Frauen. Im Gang ruft sie noch: „Ich rufe Sie an, dann beantworte ich alles!“ Der Anruf kommt nie.
Anders im Olympic, dem großen Kabuler Sportgelände. Wo einst vor elf Jahren die Taliban ihre Schauprozesse abgehalten haben. Dort sind wir angemeldet, dort sind wir willkommen. 20 boxende junge Mädchen warten auf uns. Sie heißen Shafika und Faima, Shegofa und Sadaf, sind zwischen 14 und 22 Jahre alt. Ihr Trainer Mohammad Saber Sharifi ist stolz auf seine Mädchen: “Wir haben es diesmal zwar nicht nach London zu den Olympischen Spielen geschafft, aber das nächste Mal sind die Mädchen dabei!“ Davon ist er überzeugt.
Dreimal die Woche trainieren sie im Zentrum. Landesüblich in T-Shirts mit langen Armen und in langen Hosen. Viele haben sich auch ein Tuch fest um den Kopf gebunden. Sie kämpfen gegen die Schatten der Vergangenheit und gegen das Misstrauen der Gegenwart. Alle Eltern mussten zustimmen, dass die Mädchen nach der Schule zum Boxtraining gehen und an Wettkämpfen teilnehmen. Meine Frage, ob alle afghanischen Frauen boxen sollten, irritiert die Mädchen. Sie wissen natürlich um die anwachsende häusliche Gewalt. „Aber“, erklärt mir Faima: “So ist eben unsere Gesellschaft“.
Zu Zeiten der Taliban wäre Boxen für Frauen undenkbar gewesen. Unter diesem autoritären Regime war ihnen jegliche sportliche Aktivität verboten. Aber auch heute noch steckt Frauensport selbst in der Millionenstadt Kabul in den Kinderschuhen. So sind die boxenden Mädchen stolz auf ihre Pionierarbeit. “Seit ich boxe, fühle ich mich glücklich und frei“, sagt Shafika. Das funktioniert aber nur, weil auch ihr Vater ihre Boxkarriere unterstützt. Von der der Trainer sagt, dass sie erst ganz am Anfang steht.
Diese boxenden Mädchen sind eine Minderheit, quasi eine Elite unter den jungen Menschen in Afghanistan. Aber es gibt auch Hunderttausende anderer Kinder in Afghanistan, die ohne solche Chancen keine Zukunft haben. Um die sorgt sich Aschiana, eine Nicht-Regierungs-Organisation mit 180 freiwilligen Mitarbeitern. Aschiana arbeitet auch eng mit UNICEF zusammen. Über 10.000 Kinder werden von ihnen betreut, erhalten Unterricht im Lesen und Schreiben, im Zeichnen, Sport oder in Musik. Die Aschiana-Mitarbeiter gehen in die rund 35 Lager rund um Kabul. Dahin, wo seit vier, fünf Jahren die Flüchtlinge versuchen zu überleben. Sie bringen Kleidung, Essen und sauberes Wasser.
Die Zukunft der Menschen in Afghanistan ist nach dem Abzug der Truppen und nach den Milliarden Dollar, die ins Land gehen werden, alles andere als gesichert. Eine bittere Bilanz.
* Name geändert
Maria von Welser ist freie Journalistin und stellvertretende UNICEF-Vorsitzende. Das Reisetagebuch aus Afghanistan erscheint als ihr persönlicher Beitrag, der nicht der Meinung von UNICEF entsprechen muss.
Reisetagebuch Maria von Welser
» Teil 1: Ankunft in Afghanistan
» Teil 2: Klinikbesuch
» Teil 3: Mutiger Kampf für mehr Frauenrechte
» Teil 4: Im Flüchtlingslager
» Teil 5: In einer Männergesellschaft
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