Pressemitteilung

Wie kinderfreundlich ist Deutschland?

Berlin/Köln

UNICEF und die National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland

Bundesregierung mit Bericht über Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland in Verzug / Über 100 Kinderorganisationen fordern vollständige Umsetzung

20 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention sehen die deutschen Kinderorganisationen weiterhin Defizite bei der Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland. „Bund, Länder und Kommunen bleiben hinter dem Anspruch zurück, Kinderrechte als Richtschnur für Politik und Verwaltungshandeln zu sehen“, erklärte heute Dr. h.c. Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages und Schirmherr der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Der Zusammenschluss von über 100 deutschen Organisationen, Verbänden und Institutionen – darunter auch UNICEF – kritisierte, dass die Bundesregierung ihren am 4. April 2009 fälligen Bericht an den für Kinderrechte zuständigen Ausschuss der Vereinten Nationen nicht rechtzeitig vorlegen wird. Das Ausmaß der Kinderarmut, die Benachteiligung von Kindern beim Zugang zu guter Schulbildung und die Ungleichbehandlung von Flüchtlingskindern geben den Organisationen besonderen Grund zur Sorge.

„Deutschland ist mit der Ratifizierung der Konvention die Verpflichtung eingegangen, diese Rechte für alle Kinder in Deutschland Lebenswirklichkeit werden zu lassen. Auch die Bundesregierung muss ihre Verpflichtung ernst nehmen“, so Wolfgang Thierse. „Der Staatenbericht muss rasch nachgereicht werden.“ Thierse übergab gemeinsam mit zwei jungen UNICEF-Juniorbotschaftern die Forderungen der National Coalition nach vollständiger Umsetzung der Kinderrechte an die Vorsitzende der Kinderkommission des Deutschen Bundestages, Ekin Deligöz.

„Kinder und ihre Rechte spielen in der Gesellschaft immer noch eine untergeordnete Rolle“, so Jürgen Heraeus, Vorsitzender des Deutschen Komitees für UNICEF. „Die Aufnahme der Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung in die Verfassung wäre das richtige Signal für mehr Kinderfreundlichkeit.“ Fast auf den Tag genau vor 17 Jahren, am 5. April 1992, hat die Bundesrepublik Deutschland die Konvention über die Rechte des Kindes ratifiziert.

Die Organisationen machen auf eine wachsende Kluft zwischen Kindern und die Ungleichbehandlung von Kindern in Deutschland aufmerksam:

  • Kinderarmut
    Fast jedes sechste Kind in Deutschland lebt in einer Familie, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Besonders betroffen sind Kinder aus Einelternfamilien, Mehrkindfamilien und Familien mit Migrationshintergrund. Kinder sind stärker von Armut betroffen als Erwachsene.
  • Bildung
    2006 haben rund 76.000 Schülerinnen und Schüler die Schule verlassen, ohne zumindest den Hauptschulabschluss zu haben - das sind 8 Prozent der 15- bis 17-Jährigen. Im Schuljahr 2007/2008 sind 234.000 Kinder „sitzen geblieben“, circa 300.000 gelten als Schulverweigerer. Bei Kindern mit Migrationshintergrund sind Sprachprobleme entscheidend für den weiteren Bildungsweg, sie sind auf Hauptschulen deutlich über- und an Gymnasien unterrepräsentiert.
  • Situation der Flüchtlingskinder
    Obwohl gerade sie besonderen Schutz und Fürsorge brauchen, wachsen viele der bis zu 300.000 Flüchtlingskinder unter inakzeptablen Lebensbedingungen auf. Viele leben ständig in der Sorge, dass sie oder ihre Eltern abgeschoben werden, und ohne Zugang zu Freizeit-, Spiel- oder Ausbildungsmöglichkeiten. Flüchtlingskinder über 16 Jahren werden in einem für sie unverständlichen Asylverfahren wie Erwachsene behandelt. Auf viele wirkt das wie eine zweite Traumatisierung. Eine umfassende medizinische und psychosoziale Versorgung bleibt ausgerechnet den oft chronisch erkrankten Flüchtlingen verwehrt.

Forderungen der Organisationen in der National Coalition

Rücknahme der Vorbehaltserklärung

Mit der Vorbehaltserklärung gegenüber der Kinderrechtskonvention entzieht sich die Bundesregierung dem Gebot der Nichtdiskriminierung, nach dem alle Kinder gleiche Rechte haben. In Deutschland gilt dieses Prinzip nicht für minderjährige Flüchtlinge. Eine Rücknahme der Vorbehaltserklärung ist überfällig. Sie wurde vom Genfer UN-Ausschuss mehrfach angemahnt und würde deutlich machen, dass Deutschland bereit ist, Menschenrechtsübereinkommen uneingeschränkt umzusetzen.

Vorrang des Kindeswohls durchsetzen

Nach Artikel 3 der Konvention sind Gesetzgebung, Rechtssprechung und Verwaltung verpflichtet, in allen Kinder betreffenden Angelegenheiten das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen. Parlamente, Bundes- und Landesbehörden, kommunale Spitzenverbände, Kammern und Juristische Berufsvereinigungen sollten das Gebot des Kindeswohlvorrangs bekannt machen und entsprechend handeln.

Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz

Die Aufnahme grundlegender Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung in das Grundgesetz und die Verankerung des Kindeswohlvorrangs stehen weiter aus.

Monitoring der Kinderrechte

Entgegen der Empfehlung des UN-Ausschusses an die Bundesregierung, eine „unabhängige Menschenrechtsinstitution auf Bundesebene“ einzurichten, existiert noch kein wirksames, unabhängiges Monitoring der Kinderrechte. Dieses sollte neben Datenerhebung und Beschwerdemanagement auch die politische Bewertung der Umsetzung der Kinderrechte beinhalten.

Instrumente zur Umsetzung der Kinderrechte

Mit der Ratifizierung der Kinderrechtskonvention hat sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, die dort niedergelegten Rechte zu verwirklichen. Ob sie dem nachkommt, überprüft der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes in Genf, dem regelmäßig ein Bericht vorgelegt werden muss. Am 4. April 2009 müsste die Bundesregierung ihren aktuellen Bericht an den UN-Ausschuss übermitteln. Doch der Bericht liegt zum Abgabetermin noch nicht vor.

Die National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland (NC), unter Rechtsträgerschaft der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe –
AGJ, wird einen Ergänzenden Bericht (Schattenbericht) beim UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes vorlegen. In der 1995 gegründeten National Coalition haben sich über 100 Organisationen, Verbände und Institutionen zusammengeschlossen – mit dem Ziel, in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen einen breiten fachlichen Dialog über die Verwirklichung der UN-Kinderrechtskonvention zu organisieren.

Pressekontakte

Dr. Jörg Maywald und Dr. Sabine Skutta
Sprecher und Sprecherin der National Coalition
Tel.: 030/40040 -216 / -218
E-Mail: info(at)national-coalition.de