© UNICEF/UN025306/Gilbertson VII PhotoFlüchtlingsheim: Joudi, 11, ist auf Rollschuhen unterwegs.
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Endlich ankommen, endlich Kind sein


von Christian Schneider

Ein Kommentar zur UNICEF-Studie „Kindheit im Wartezustand“

Wenn wir heute die neue UNICEF-Studie „Kindheit im Wartezustand“ über die Situation von geflüchteten Kindern in Deutschland vorstellen, dann bin ich in Gedanken wieder bei einer Familie, die ich erst vor ein paar Tagen in einer Flüchtlingsunterkunft in Westfalen traf.

Mit knapper Not waren Vater und Mutter mit ihren Kindern dem IS-Terror im Irak entkommen. Mehr als zwei Jahre hat ihre Odyssee gedauert, bis sie hier bei uns angekommen waren. Der Familienvater sagte mir drei Dinge: Erstens ist er zutiefst froh und dankbar, dass Deutschland seine Familie aufgenommen hat und dass seine Kinder hier in Sicherheit sind. Zweitens hofft er, dass seine Familie bald in eine Wohnung umziehen und damit wirklich ankommen kann. Drittens wünscht er sich, dass seine Kinder, die schon mehrere Jahre Schulzeit verloren haben, endlich wieder in die Schule gehen können.

Wie geht es den Flüchtlingskindern in Deutschland?

Was steht in dieser neuen Studie, warum ist sie aus Sicht von UNICEF wichtig, welche Schlüsse ziehen wir daraus? Ich weiß, dass die Veröffentlichung Reaktionen hervorrufen wird, in die eine wie in die andere Richtung. Deshalb gleich zu Beginn ein paar Bemerkungen zur Einordnung.

Schätzungsweise 350.000 geflüchtete Mädchen und Jungen sind in den vergangen beiden Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Auf die Frage, wie es ihnen hier geht, gibt es keine einfache Antwort. Denn erstens finden sich trotz der generell großen Aufmerksamkeit für das Thema Flüchtlinge bis heute sehr wenige systematische Informationen über die Kinder unter ihnen. Diese Wissenslücke ein Stück zu verkleinern, ist ein Anliegen der Studie, mit der wir den Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge beauftragt haben.

Zweitens ist ihre Lebenssituation sehr unterschiedlich – je nachdem, ob sie mit ihrer Familie oder allein eingereist sind, in welchem Bundesland und in welcher Stadt sie leben, wie sie untergebracht sind, aus welchem Herkunftsland sie kommen und wie, damit verbunden, ihre Bleibeperspektive ist. Es gibt also nicht die eine Situationsbeschreibung, die für alle geflüchteten Kinder gilt. Manche von ihnen können zügig in kleinere Wohneinheiten umziehen und Schule oder Kindergarten besuchen, die deutsche Sprache lernen, zur Ruhe kommen. Aber das gilt bei weitem nicht für alle.

Flüchtlingsheim: Schwestern Mahi und Ajin aus Syrien.

Leben in einer Flüchtlingsunterkunft, ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit der syrischen Familie von Mahi, 8, und ihrer Schwester Ajin, 12.

© UNICEF/UN025298/Gilbertson VII Photo

Einschränkend möchte ich auch hervorheben, dass unsere Studie nicht repräsentativ ist und auch nicht den Anspruch erhebt, ein vollständiges Bild zu zeichnen. Sie ist eine Momentaufnahme, nicht mehr – aber auch nicht weniger. Sie ermöglicht einen breiten Einblick in die Alltagswelt von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in unserem Land, wie es ihn sonst kaum gibt. Und dieser Alltag ist in vielen Fällen sehr schwierig.

Herausragendes Engagement in Deutschland

Es steht außer Frage, dass mit dem Zuzug von Hunderttausenden Menschen im Wesentlichen von Sommer 2015 bis Anfang 2016 eine immense Herausforderung für Deutschland entstand. Und es kann nicht oft genug betont werden, dass Politik, Behörden und Tausende von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern Großes geleistet haben und weiter leisten, um diese Aufgabe zu meistern.

So ist es gelungen, dass jedes Kind rasch ein Dach über dem Kopf bekam – keines musste hungern oder frieren. Auf diese Leistung, die auch im Ausland respektvoll anerkannt wird, kann Deutschland zu Recht stolz sein. Das zivilgesellschaftliche Engagement, die Solidarität und spontane Hilfsbereitschaft sowie die Flexibilität vieler Einrichtungen und Kommunen sind beispielhaft und machen Mut.

Bei allem Verständnis für diese besondere Situation darf jedoch eines nicht aus dem Blick geraten: Der Ausnahmezustand im Leben der geflüchteten Kinder dauert für viele weiter an. Und dieser Zustand darf nicht zur Normalität werden.

Flüchtlingsheim: Joudi, 11, ist auf Rollschuhen unterwegs.

Joudi, 11, ist auf Rollschuhen unterwegs.

© UNICEF/UN025306/Gilbertson VII Photo

Unterkünfte oft nicht sicher und nicht kindgerecht

Genau das ist aber für viele geflüchtete Mädchen und Jungen inzwischen der Fall. Viele halten sich viel zu lange in Flüchtlingsunterkünften auf, die schlicht nicht sicher und nicht kindgerecht sind. Sie leben mit vielen fremden Menschen auf engem Raum und sind nicht ausreichend vor Übergriffen geschützt – zum Beispiel, weil die Wohnräume oder Duschen oft nicht abschließbar sind. Sie haben kaum Privatsphäre oder Ruhe zum Spielen und Lernen. Sie leben häufig, wie so oft, wenn viele Menschen sich Wasch- und Sanitäranlagen teilen müssen, unter schlechten hygienischen Bedingungen.

Flüchtlingsheim: Kinder spielen mit Dreirädern.

Sammelunterkünfte sich keine Orte, an denen sich Kinder länger als nötig aufhalten sollten.

© UNICEF/UN025286/Gilbertson VII Photo

Die lange Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften kann auch dazu führen, dass der Zugang der Kinder zu Kindergärten und Schulen und die Teilhabe am sozialen Leben der Städte und Gemeinden erschwert sind. Zum Beispiel ist die Schulpflicht in den meisten Bundesländern daran gekoppelt, ob sich die Kinder noch in einer Erstaufnahmeeinrichtung aufhalten oder schon auf Kommunen verteilt wurden. Die abgeschiedene Lage vieler Unterkünfte ist ebenfalls ein Hemmnis. So bleibt der Alltag vieler geflüchteter Mädchen und Jungen geprägt durch Tristesse und Warten – statt durch Lernen und Integration. Sie verbringen eine Kindheit im Wartezustand.

Syrien: Narin, 10 aus Syrien lebt in einer Flüchtlingsunterkunft.

Für Kinder wie Narin ist der Alltag oft geprägt von Langeweile und Tristesse.

© UNICEF/UNI270995/Gilbertson VII Photo

Drei Monate, sechs Monate, ein Jahr – vielleicht denkt der eine oder die andere, dass das keine lange Zeit ist. Sie ist es aber im Leben jedes Kindes! In dieser Phase, die für die Entwicklung so entscheidend ist, werden die Weichen gestellt für das weitere Leben. Jedes Kind ist eine eigenständige Persönlichkeit mit besonderen Bedürfnissen und mit eigenen Rechten. Dies gilt auch für geflüchtete und migrierte Kinder. Sie sind eben erst einmal nicht Asylbewerber, Flüchtlinge oder Migranten, sondern in erster Linie: Kinder.

Kinder sollten nur so kurz wie möglich in Flüchtlingsunterkünften sein

Unsere zentrale Schlussfolgerung aus der Studie ist deshalb: Kinder und Jugendliche mit ihren Familien sollten grundsätzlich nur so kurz wie möglich in Sammelunterkünften untergebracht werden. Außerdem sollten sie so schnell wie möglich Zugang zu Kindergärten, Schulen oder einer Berufsausbildung erhalten.

Da sich die Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften – zumindest bisher – nicht ganz vermeiden lässt, sollten dort verbindliche Mindeststandards gelten, deren Umsetzung auch überwacht wird. Einen konkreten Vorschlag für besseren Schutz haben federführend UNICEF und das Bundesfamilienministerium im Rahmen der gemeinsamen „Initiative zum Schutz von Frauen und Kindern in Flüchtlingsunterkünften“ mit vielen Partnern erarbeitet und Mitte 2016 veröffentlicht.

Das Wichtigste zum Schluss: Kinder haben eine unglaubliche Kraft, auch unter den schwierigsten Bedingungen zu lernen, zu spielen, nach vorne zu schauen – wir nennen das heute auch Resilienz. Viele geflüchtete Kinder, die ich treffen durfte, lernen unglaublich schnell die neue Sprache und sind sehr motiviert, sich mehr zu erarbeiten. Sie können häufig am schnellsten in der neuen Umgebung Fuß fassen und sind dabei auch eine Brücke für die Integration der ganzen Familie. Kurzum, in ihnen steckt ein riesiges Potenzial.

Flüchtlingsheim: Integration ist enorm wichtig für Flüchtlinge.
© UNICEF/UNI271014/Gilbertson VII Photo

Eine echte Chance auf Kindheit

Was der in Westfalen angekommene Vater aus dem Irak mir dieser Tage gesagt hat, gilt für Tausende andere geflüchtete Familien: Sie sind sehr dankbar für die Sicherheit, für das Dach über dem Kopf und die Unterstützung, die sie in Deutschland erhalten. Sie warten zugleich sehnsüchtig darauf, endlich neu anfangen zu können. Die Kinder wollen vor allem lernen, spielen, Freunde treffen. Eine echte Chance auf eine Kindheit haben viele von ihnen eben erst hier, in Deutschland.

Jedes einzelne Mädchen und jeder Junge hat nicht nur das Recht auf Schutz, auf eine kindgerechte Umgebung, auf Bildung oder gute Gesundheitsversorgung. Ihnen die bestmögliche Starthilfe zu geben, ist auch eine gute, wenn nicht eine der wichtigsten Investitionen für unsere gesamte Gesellschaft.

Dies ist nicht nur eine Aufgabe für die Politik, die Behörden und die vielen großartigen Mitarbeitenden in der Flüchtlingshilfe, sondern für uns alle: Dafür zu sorgen, dass geflüchtete Kinder bei uns angenommen und gefördert werden, so wie jedes Kind gefördert werden sollte. Wir sagen nicht, dass das eine leichte Aufgabe ist. Aber wir sind überzeugt davon, dass dies richtig, notwendig und zukunftsweisend ist.

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.