"Flüchtlingskinder verschwunden" – was ist da los?
Seit einigen Tagen berichten viele Medien in Deutschland darüber, dass 10.000 unbegleitete Flüchtlingskinder bei ihrer Flucht durch Europa „verschwunden“ sind.
Auslöser war eine entsprechende Meldung der europäischen Polizeibehörde Europol.
Wie kann es sein, dass mitten in Europa 10.000 Kinder verschwinden?
Auch wir haben uns diese Frage gestellt und hier zusammengefasst, was wir bisher über das Thema wissen:
1. Kann UNICEF bestätigen, dass 10.000 Flüchtlingskinder verschwunden sind?
Die von Europol genannte Zahl nehmen wir sehr ernst, können sie aber nicht verifizieren. Eine Schwierigkeit liegt darin, dass es immer noch keine genauen Daten über Flüchtlingskinder gibt. Etwa ein Drittel der Flüchtlinge, die seit dem letzten Sommer nach Deutschland gekommen sind, sind zum Beispiel Kinder und Jugendliche – doch auch das ist nur eine Schätzung aufgrund unvollständiger Behördendaten.
Durch Schwächen im Registrierungssystem fehlt bis heute ein detaillierter Überblick. Fehl- und Doppelerfassungen im so genannten EASY-System sind nicht ausgeschlossen. Auch das Alter der Flüchtlinge wird darin nicht erfasst.
Update 3.2.2016:
Laut aktuellen Medienberichten vom 3.2. sagt das Bundeskriminalamt, dass die deutschen Behörden bei rund 4.800 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland nicht wissen, wo sich diese befinden. Ist das nicht eine Bestätigung?
Sollten diese Berichte zutreffen, sind sie ein Beleg dafür, wie dringend die kinderspezifische Registrierung und ein laufendes Monitoring der Situation von Flüchtlingskindern sichergestellt werden müssen. Hinter der Zahl können harmlose Gründe stecken – etwa wenn Heranwachsenden auf eigene Faust nach Angehörigen suchen. Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass sie von Fremden ausgenutzt werden.
2. Was genau sind unbegleitete Flüchtlingskinder und wie viele gibt es in Deutschland?
Als „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“, wie es im Fachjargon heißt, gelten Kinder und Jugendliche ohne Begleitung eines Elternteils oder Erziehungsberechtigten. Unbegleitete Kinder und Jugendliche auf der Flucht sind ganz besonders gefährdet, Opfer von Ausbeutung, Missbrauch und Gewalt zu werden. Vielfach sind sie abhängig von kriminellen Schleppern, die keine Skrupel haben, die Notlagen auszunutzen.
Laut den Deutschen Jugendämtern befinden sich derzeit rund 60.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in deren Obhut. Viele berichten von schlimmen Erfahrungen auf ihrer Flucht. Die Behörden wissen nicht, wie viele am System vorbei allein zu Angehörigen oder anderen Personen unterwegs sind oder wie viele tatsächlich Opfer von Menschenhandel sind. Es kann auch sein, dass sie sich nicht als Minderjährige zu erkennen geben, weil sie Angst haben, daran gehindert zu werden, ihr Ziel zu erreichen.
3. In Europa gibt es viele Gesetze zum Schutz der Kinder, besonders auch der Flüchtlingskinder. Wie kann es sein, dass so etwas trotzdem passiert?
In großen Flüchtlingsbewegungen werden Kinder und Jugendliche schnell übersehen. Bei der Notversorgung spielt deren Verletzlichkeit eine untergeordnete Rolle. Die Kinderschutzsysteme der Aufnahmeländer sind auch nicht überall darauf vorbereitet und in der Lage, unbegleitete Kinder schnell zu identifizieren, ihnen einen Vormund und eine rechtliche Vertretung zu geben und sie in einem geschützten Rahmen unterzubringen. Es fehlt vielleicht auch oft der Wille dazu.
4. Wie können Kinder auf der Flucht besser geschützt werden?
UNICEF drängt alle Regierungen dazu, Kinder auf der Flucht besonders zu schützen. An den Grenzen kommt es immer wieder zu chaotischen Situationen, weil sich Behörden nicht absprechen. Jetzt kommen noch die harten Witterungsbedingungen hinzu. Die Transit- und Aufnahmeeinrichtungen müssen winterfest gemacht werden. Man braucht ausgebildetes Personal, um besonders gefährdete Kinder zu identifizieren.
Auch viele Erstaufnahmeeinrichtungen in den Zielländern haben keine ausreichenden Kinderschutzstandards. Auf dem Balkan hat UNICEF an den Grenzen so genannte kinderfreundliche Orte eingerichtet. Dort erhalten die Menschen Wasser, Nahrung, Hygieneartikel, warme Kleidung und können sich ausruhen. Kinder, die von ihren Angehörigen getrennt wurden, wird bei der Suche nach diesen geholfen.
5. Was ist mit dem Schutz von Flüchtlingskindern in Deutschland?
Die EU-Staaten müssen zusammenarbeiten und ihre eigenen Gesetze zum Kinderschutz auf alle Kinder und Jugendlichen anwenden – egal wo sie her kommen. Denn Flüchtlingskinder sind in erster Linie Kinder. Es muss ausreichendes und gut geschultes Personal vorhanden sein, um unbegleitete Kinder und Jugendliche zu identifizieren, zu registrieren und zu versorgen. Flüchtlingskinder brauchen eine sichere, kindgerechte Umgebung. Sie müssen Spiel- und Lernmöglichkeiten erhalten und so rasch wie möglich zur Schule gehen.
Gemeinsam mit dem Deutschen Familienministerium hat UNICEF deshalb eine Initiative gestartet, um die psychosoziale Situation der Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen und den Kinderschutz dort zu verbessern. Um zu verhindern, dass Kinder „verschwinden“ müssen minderjährige Flüchtlinge in allen Transit- und Aufnahmeländern erfasst und ihre Situation laufend überwacht werden.
Die Meldung von Europol ist hoffentlich ein Weckruf!