Endlich wieder Unterricht: Schultore auf – für 650 Mädchen und ihre Träume!
Monatelang blieben wegen der Corona-Pandemie in Kenia die Schulen geschlossen. Seit Ende Oktober können Anzal und 650 Schülerinnen endlich wieder den Unterricht besuchen. Für die Mädchen ist die Schule ein besonderer Ort, ein sicheres Zuhause.
Monatelang blieben in Kenia die Schulen geschlossen. Der Lockdown war eine von vielen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus – in vielen Ländern weltweit kam es zu Schulschließungen. Seit Oktober diesen Jahres können Anzal und 650 weitere Schülerinnen nun endlich wieder den Unterricht besuchen. Für die Mädchen ist die Schule ein besonderer Ort. Und für Anzal bedeutet der Schulstart auch, endlich wieder ihrem Amt nachgehen zu können: Sie ist Schulsprecherin.
Als ich Ende Oktober in Frankfurt in ein Flugzeug nach Nairobi einsteige, ahne ich, dass mich aufregende, intensive Tage voller Eindrücke erwarten. Einige Tage später sitze ich viele Kilometer weiter im Schulbüro der Saka Mädchenschule in der Region Garissa im Nordosten Kenias. Der Schuldirektor erklärt den UNICEF-Kolleg*innen und mir stolz, dass seine Schule endlich wieder geöffnet ist, wieder mehr als 650 Mädchen den Unterricht besuchen können. Es gibt viel aufzuholen, sagt er.
Anzal ist Schulsprecherin der Saka Mädchenschule in Kenia
Ich lerne die 18-jährige Anzal kennen. Sie ist Schulsprecherin der Saka Mädchenschule und vertritt die Anliegen aller Mitschülerinnen. Sie begrüßt uns freundlich. Sie erklärt uns, dass sie den Job als Schulsprecherin sehr ernst nimmt und dass das kein Amt für jede*n ist. "Du musst ein offener Mensch sein, denn die anderen Schülerinnen sollten gerne mit dir sprechen wollen. Und du musst gut mit dem Unterrichtsstoff mitkommen, denn das Amt ist zeitintensiv, es bleibt weniger Zeit zum Lernen", sagt sie uns. Sie ist erst seit knapp einem halben Jahr Schulsprecherin, doch jede*r kennt Anzal, wie wir bei unserer Runde über das Schulgelände schnell feststellen.
Foto links: Kheira ist 23 und Lehrerin von Anzals Schule. ( © UNICEF/Kesper ) Foto rechts: An jedem Gebäude, an dem wir vorbeikommen, wird Anzal freudig begrüßt. Alle Mädchen der Schule kennen sie und sind stolz, sie als Schulsprecherin zu haben. ( © UNICEF/Kesper )
Während unserer kleinen Runde über den Schulhof und durch einige der Klassenräume wird mir schnell klar: Anzal ist beliebt und wird von allen Mädchen bewundert. Sie schauen zu ihr auf und sehen in ihr eine Bezugsperson. Anzal ist offen und kommunikativ, witzelt viel herum und hat immer ein freches Grinsen im Gesicht. In der Schule trägt sie eine blaugrüne Uniform, weil sie die Schulsprecherin ist. Alle anderen Mädchen tragen braune Schuluniformen. Auch deshalb kennt sie jede*r. Klassenkameradinnen von ihr sagen uns auf dem Schulflur: "Ich mag die Schule hier. Sie ist ein sicherer Ort für mich. Und Anzal mögen wir auch!"
Schnell wird klar, dass der Zusammenhalt der Mädchen untereinander groß ist, sie leben als große Gemeinschaft, eine Art zweite Familie zusammen. Das sagt mir auch Kheira, eine von zwei Lehrerinnen der Schule, die ihren Abschluss vor einigen Jahren selbst erst an der Saka Mädchenschule gemacht hat. Sie ist als junge Lehrerin für die Mädchen Vorbild, Mentorin, Freundin.
"Du kannst alles werden, was du möchtest!"
Während ich mit Anzal über den Schulhof laufe, blickt sie immer wieder auf meine Kamera. "Weißt du", sagt sie, "ich möchte Fernsehjournalistin werden. Ich schaue wann immer ich kann 'Citizen News' und ich bewundere Lulu Hassan so sehr. Sie ist dort die Nachrichtensprecherin. Das möchte ich später auch werden." Und bevor ich sie darin bestärken kann, fügt sie bereits hinzu: "Bildung kann dein Leben verändern. Und ich möchte ein Beispiel dafür sein, dass die Menschen in Nordkenia sehen, dass wirklich jede*r etwas erreichen kann."
"Lass dich von den Herausforderungen des Lebens niemals unterkriegen!"
Umso mehr Zeit wir miteinander verbringen, desto mehr vertraut sich Anzal mir an. Ich stehe vor einer jungen Frau, die voller Lebensfreude und positiver Energie ist. Doch das ist eine bewusst gewählte Lebenseinstellung, denn das Schicksal hat ihr schon einige Male viel abverlangt. Ihre Mutter ist letztes Jahr an Komplikationen bei einer Geburt gestorben. Der Verlust war für Anzal sehr schmerzlich. Wenn sie heute von ihrer Mutter Lul erzählt, dann sagt sie: "Meine Mutter war eine schlaue Frau. Sie hat mir erklärt, dass Herausforderungen immer zum Leben dazugehören werden. Damals wusste ich noch nicht genau, wie sie das meint. Aber ich denke heute oft daran." Mama hat auch immer gesagt: "Lass dich von ihnen nicht unterkriegen. Gib ihnen keine Chance dich zu stoppen. Glaube immer an dich.“ Ich sehe Anzal heute das erste Mal ernsthaft und traurig.
Zeinab – meine persönliche UNICEF-Heldin
Zeinab ist 52 Jahre alt und gehört zu der Sorte Menschen, die man direkt in sein Herz schließt. Ich lerne sie im UNICEF-Büro in Garissa kennen und habe sie bereits nach den ersten Minuten unserer gemeinsamen Autofahrt zur Saka Mädchenschule liebgewonnen. Sie strahlt eine aufrichtige Wärme aus – das spüren auch Anzal und ihre Freundinnen, die Zeinab regelmäßig in der Schule besucht. Und genau diese Nähe ist das Fundament, welches es braucht, um mit den Mädchen über schmerzvolle und oftmals schambehaftete Themen zu sprechen, die sie viel lieber verdrängen oder – wie Anzal – einfach weglächeln. Viele der Mädchen teilen ein Schicksal: Sie haben Genitalverstümmelung erfahren. In vielen Familien müssen sich die Mädchen dieser Tradition nach wie vor beugen, trotz des Verbots der kenianischen Regierung wird Mädchenbeschneidung noch immer praktiziert.
"Ich habe fast keine Erinnerungen daran ..."
Ich bin dabei, als Anzal mit Zeinab über ihre traumatischen Erfahrungen ihrer Beschneidung spricht. Anzal war damals sieben oder acht Jahre alt und sie erinnert sich, dass es in einer Gruppe mit mehreren Mädchen passiert ist. Sie waren sicher zehn, elf Mädchen, sagt sie. "Ich habe fast keine Erinnerungen daran. Und ich denke auch nicht gerne daran zurück. Das fühlt sich nicht gut an." Ihre Mutter sei nicht dabei gewesen, dafür aber ihre Tante, erklärt uns Anzal.
Durchgeführt wurde die Beschneidung von einer Krankenschwester und sie habe auch Antibiotika im Anschluss bekommen. Doch welche langfristigen körperlichen Folgen Anzal seitdem erleiden muss, macht mich traurig. Und auch ein wenig wütend. Sie berichtet uns von insgesamt drei Operationen, die sie seitdem über sich ergehen lassen musste. Doch ihre Beschwerden, wie Blut im Urin, Schmerzen beim Pinkeln und auch Inkontinenz quälen Anzal bis heute. Noch immer nimmt sie Medikamente und noch immer leidet sie unter den Erinnerungen, die mit ihrer Beschneidung verbunden sind.
Anzal und die Mädchen müssen langsam wieder zurück in den Unterricht, auch wenn Anzal mir zuzwinkert und sagt: "Ich wäre gerne noch länger zusammen mit dir heute eine Journalistin". Zack, da ist es wieder ihr verschmitzes Lächeln und weg sind die Sorgen, die Schmerzen und die Sehnsucht nach ihrer Mutter. Ich schaue Anzal noch so lange nach, bis sie zurück in den Klassenraum verschwindet.
*Die Geschichte von Anzal wurde im Oktober 2021 im Rahmen einer Reise mit der Passauer Neuen Presse für die UNICEF-Spendenaktion kurz vor Weihnachten recherchiert. Beginnend am 1. Advent bis Weihnachten können die Leser*innen der Zeitung und des UNICEF-Blogs Berichte der Projektreise lesen und mehr über die Kinder und UNICEF-Programme in Kenia erfahren und gleichzeitig unsere Arbeit unterstützen.