© UNICEF/UN040849/BicanskiEin Kind streckt die Hand abwehrend in Richtung Kamera
UNICEF-Aktionen

Niemals Gewalt gegen Kinder

UNICEF-Geschäftsführer Christian Schneider zu 20 Jahren Recht auf gewaltfreie Erziehung – und zu den jüngsten furchtbaren Gewalttaten an Kindern in Deutschland


von Autor Christian Schneider

30 Jahre nach Inkrafttreten der Kinderrechtskonvention, 20 Jahre nach Verabschiedung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung: Man ist fast versucht, das ewige Bild vom Eisberg und seiner Spitze auf den Parkplatz verbrauchter Metaphern zu schieben.

Aber genau dieses Bild ist so unfassbar aktuell und richtig. Es muss, gerade nach den jüngsten Erkenntnissen der Ermittler in Bergisch Gladbach, herhalten, um über diesen furchtbaren Fall oder den in Lügde oder den in Münster hinauszuschauen. Die Ermittlungen der Polizei haben in den zurückliegenden Tagen etwas mehr von dem Eisberg enthüllt. Wir schauen fassungslos auf eine Zahl von 30.000 Verdächtigen, allein in diesem Fall.

Aber gleichzeitig hören wir von der UN-Sonderbeauftragten zu Gewalt gegen Kinder, dass sich darunter ein noch viel größerer, erschreckender Koloss buchstäblich alltäglicher, tiefsitzender Gewalt gegen Kinder verbirgt. Gewalt in all ihren sehr unterschiedlichen Ausprägungen, Gewalt, die viel zu viele noch immer für selbstverständlich, mindestens nicht für skandalös halten. Gewalt, die Schätzungen zufolge jedes Jahr die unglaubliche Zahl von etwa einer Milliarde Mädchen und Jungen trifft. Das ist jedes zweite Kind auf der Welt, kaum vorstellbar, unerträglich.

Obwohl jedes Kind ein weltweit anerkanntes Recht darauf hat, ohne Gewalt groß zu werden, sind unzählbare Mädchen und Jungen tagtäglich Übergriffen ausgesetzt – in allen Ländern der Erde und in allen gesellschaftlichen Gruppen. Wie die Sonderbeauftragte Najat Maalla M‘jid sagt, haben die Covid-19-Pandemie sowie die damit einhergehenden Maßnahmen und ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen das Risiko der Gewalterfahrungen für Kinder jetzt noch weiter verschärft. Umso wichtiger ist es, dass wir uns noch mehr anstrengen, damit sie nicht allein sind mit dieser Gefahr, damit wir sie schützen können.

UNICEF schätzt, dass heute weltweit drei von vier Kindern zwischen zwei und vier Jahren zu Hause körperliche oder psychische Gewalt durch ihre Erziehungsberechtigten erfahren – gerade diejenigen, die für den Schutz der Kinder verantwortlich sind. In vielen Ländern hat zwar ein Umdenken begonnen, aber noch immer halten 1,1 Milliarden Eltern und Erziehungsberechtigte Schläge oder Einsperren für ganz normale Disziplinierungsmittel.

Ein Kind sitzt mit einem Teddy auf einem Bett.
© UNICEF/UN014910/Estey

So sehr uns die eingangs aufgerufenen extremen Fälle von Missbrauch oder Gewalt erschüttern, so gering ist auch heute noch unser Verständnis dessen, was alles Gewalt gegen Kinder ausmacht.

Viele Mädchen und Jungen leiden unter emotionaler Gewalt. Sie werden eingeschüchtert, ausgegrenzt oder missachtet. Es ist paradox: Was im Umgang von Erwachsenen untereinander geächtet und als schwere Verletzung des normalen, guten Miteinander betrachtet wird, wird Kindern gegenüber bis heute oft stillschweigend akzeptiert, heruntergespielt oder sogar gerechtfertigt.

Die entsetzlichen Verbrechen an Kindern, die zuletzt in Deutschland ans Tageslicht gekommen sind, untergraben die Würde und das Wohl der Kinder in einem so grauenhaften Ausmaß, dass es sich kaum in Worte fassen lässt. Zugleich muss ihre Aufdeckung wie ein dringender, lauter Weckruf an die Politik, an die Behörden wirken – aber auch an unsere ganze Gesellschaft.

Die verstärkten Aufklärungsbemühungen der Polizei haben zutage gefördert, was jahrelang im Verborgenen geblieben ist. Diese Anstrengungen dürfen nicht nachlassen! Die Bundesjustizministerin hat gerade Vorschläge zur Verschärfung des Strafrechts und zur Verbesserung einer effektiven Strafverfolgung gemacht. Das ist wichtig.

Entscheidend jedoch ist aus Sicht von UNICEF die Prävention und die Sensibilisierung.

Um frühzeitig Anzeichen für elementare Kinderrechtsverletzungen zu erkennen, braucht es angemessen ausgestattete und geschulte Jugendämter. Es braucht sensible, entsprechend ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Es braucht Verwandte und Nachbarn, die nicht wegsehen, die wissen, was man tun kann. Es braucht dringend und flächendeckend umfassende Schutzkonzepte an Schulen oder Kitas, wie sie der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung fordert. Es ist gut, dass die Justizministerin in ihrem Reformpaket die Prävention und die entsprechende Qualifikation im Blick hat.

Zwei Kinder sitzen auf einer Schaukel.
© UNICEF/UN014937/Estey

Und Kinder müssen in ihren Rechten gestärkt werden.

Kinder können sich nur dann gegen Gewalt wehren und Hilfe suchen, wenn sie wissen, dass niemand das Recht hat, ihnen Schaden zuzufügen, wenn sie die Hilfsangebote kennen.

Fest steht: Gewalt darf niemals hingenommen werden. Sich ihr entgegenzustellen, ja, sie in all ihren schrecklichen Formen zu ächten, muss als Daueraufgabe für die ganze Gesellschaft verstanden werden.

Das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, dass der deutsche Bundestag vor fast genau 20 Jahren beschlossen hat, war ein wichtiger Beitrag dazu. Aus Sicht von UNICEF ist es höchste Zeit, das Recht eines jeden Kindes auf ein gewaltfreies Aufwachsen viel stärker ins Bewusstsein zu rücken, hier in Deutschland wie in jedem anderen Land. Wir alle müssen unsere Einstellungen und unsere Haltung gegenüber Kindern überprüfen, müssen Kindern und ihren Perspektiven mehr Aufmerksamkeit schenken, ihnen zuhören, sie ernst nehmen, so banal das klingen mag.

Wenn die Aufmerksamkeit nach den furchtbaren Nachrichten der zurückliegenden Wochen wieder nachzulassen droht, muss eine neue Aufmerksamkeit den Kindern in unserer Gesellschaft gegenüber an ihre Stelle treten: eine Haltung der Null-Toleranz gegenüber jeglichen Formen der Gewalt.

Für UNICEF hat der Schutz vor Gewalt gegen Kinder höchste Priorität.

Weltweit unterstützen UNICEF-Teams Regierungen, um Gesetze für verbesserten Kinderschutz einzuführen. Sie fördern Hilfsangebote für betroffene Kinder und Jugendliche und setzen Programme zur Prävention von Gewalt zum Beispiel durch Aufklärungskampagnen und Elternkurse um.

In Indien habe ich erlebt, wie UNICEF Jugendliche aus Lebenszusammenhängen, die von extremer Ausbeutung und Gewalt geprägt sind, so stärkt, dass sie selbst Täter aus der Nachbarschaft anzeigen, dass sie andere junge Leute auf Hotlines aufmerksam machen und Familien ansprechen, in denen Mädchen oder Jungen in Bedrängnis geraten sind. Ein junger Mann äußerte als Berufswunsch: „Polizist, damit ich andere Jugendliche vor Gewalt schützen kann!“ Das spricht für sich.

In Deutschland haben wir gemeinsam mit Prof. Fegert und dem Deutschen Kinderschutzbund eine Studie zu elterlichem Erziehungsverhalten und Einstellung zu Körperstrafen in Deutschland initiiert, die wir im Herbst veröffentlichen werden.

Der Schutz von Kindern geht uns alle an. Deshalb wäre aus Sicht von UNICEF auch die Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung ein wichtiger Schritt, um buchstäblich die Rahmenbedingungen für den Kinderschutz zu verbessern.

So wie unsere Verfassung den Rahmen für das Gemeinwohl und unser Zusammenleben setzt, muss das Wohlergehen der Kinder zum Maßstab für den Zustand unserer Gesellschaft werden.

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.