"Moria darf es nicht mehr geben!"
In der Nacht vom 8. September wurde das größte Flüchtlingslager Europas in Moria bei einem Brand vollkommen zerstört. Die rund 12.000 Menschen, die hier seit langer Zeit unter katastrophalen Bedingungen lebten, mussten um ihr Leben fürchten und vor dem Feuer fliehen – unter ihnen mehr mehrere tausend Kinder. Zum Glück wurde niemand verletzt.
Nach dem Brand ist auf der griechischen Insel Lesbos – nur wenige Kilometer von Moria entfernt – ein neues Flüchtlingslager errichtet worden. Die geflüchteten und migrierten Menschen sollen hier übergangsweise Obdach finden und versorgt werden.
Desirée Weber, Referentin für Flucht und Migration bei UNICEF Deutschland, besuchte in der vergangenen Woche das Übergangslager, um sich ein Bild von der aktuellen Situation vor Ort zu machen.
Frau Weber, mehr als 3.000 Kinder und ihre Familien sind mittlerweile in dem neu errichteten Übergangslager untergebracht. Wie ist die Situation vor Ort?
Weber: Das neu errichtete Lager – unweit von Moria – gleicht mittlerweile einer großen Zeltstadt. Hier leben derzeit ungefähr 8.500 Menschen, darunter viele Kinder. Die Zelte sind mit Matratzen und dem Nötigsten ausgestattet. Solarpanels sorgen aktuell noch für eine Grundversorgung mit Strom, so dass es nachts wenigstens etwas Licht gibt. An einer besseren Stromversorgung und fließendem Wasser wird noch gearbeitet. Essen und Trinkwasser werden täglich ausgegeben.
Das Flüchtlingslager ist in verschiedene Bereiche aufgeteilt. Schutzbedürftige Personen und Familien leben zum Beispiel in anderen Bereichen als alleinreisende Männer. Und es gibt einen Quarantäne-Bereich für Personen, die bei der Registrierung im Flüchtlingslager positiv auf Covid-19 getestet wurden.
Bei meinen Besuchen im Übergangslager habe ich die Stimmung als beklemmend empfunden. Da wirkte das Lachen von Kindern beinahe befreiend. Doch wenn man mit ihnen spricht und sie erzählen, was sie erlebt haben, wird es einem sehr schwer ums Herz.
Die Kinder haben schon vor den Bränden schreckliche Not erlitten. Die Feuer und die schwierige Situation vor Ort bedeuten für sie einen erneuten Albtraum. Wie geht es den Kindern?
Weber: Auch wenn derzeit alle Organisationen vor Ort sehr bemüht sind, die notwendigen Grundlagen und Strukturen vor Ort zu schaffen, und die griechische Regierung angekündigt hat, dass die geflüchteten und migrierten Menschen bis Ende des Jahres auf das Festland umverteilt werden sollen, ist auch dieses neue Lager kein Ort, an dem Kinder leben sollten.
Natürlich ist derzeit noch vieles im Aufbau, aber augenblicklich können sich die Kinder beispielsweise noch nicht einmal richtig waschen. Ein ausreichender Schutz vor dem Coronavirus ist somit noch immer nicht möglich.
Gleichzeitig ist es erstaunlich wie schnell sich viele der Kinder im neuen Flüchtlingslager zurechtfinden und beispielsweise wissen, wo sie Unterstützung finden. Sie schließen Freundschaften und unterstützen sich gegenseitig. Das darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kinder Schutz und eine langfristige Perspektive brauchen.
Die Erfahrungen auf der Flucht oder im Herkunftsland, das Leben in Moria all das lastet auf den Kindern und der Schrecken von dem Feuer steckt noch vielen von ihnen in den Knochen. Die Kinder hier haben viel durchgemacht.
Bei unseren Besuchen im neuen Flüchtlingslager sind meiner Kollegin Claudia Berger und mir viele Kinder begegnet. In ihrem Blogbeitrag berichtet Claudia über die Gespräche mit den Mädchen und Jungen auf Lesbos und wie es ihnen gerade geht.
Wie hat UNICEF in den ersten Wochen nach den Feuern reagiert?
Weber: In einem ersten Schritt hat UNICEF sich um die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen gekümmert, denn sie waren in besonderer Gefahr: Sofort wurde das von UNICEF und lokalen Partnern geführte Kinder- und Familienzentrum Tapuat zur Notunterkunft umgewandelt. Derzeit sind dort mehr als 100 besonders schutzbedürftige Menschen – unbegleitete Kinder und alleinerziehende Frauen mit ihren Kindern – untergebracht. Darüber hinaus hat sich UNICEF gemeinsam mit anderen internationalen Organisationen dafür eingesetzt, dass 406 unbegleitete Mädchen und Jungen innerhalb von 24 Stunden auf das Festland gebracht wurden.
In einem zweiten Schritt hat UNICEF im Übergangslager mobile Teams eingesetzt, die Spiele oder andere Aktivitäten für Kinder anbieten. Und UNICEF achtet darauf, dass die Bedarfe von Kindern bei der Errichtung des neuen Lagers berücksichtigt und mögliche Gefahren für Kinder ausgeräumt werden. Gemeinsam mit Partnern hilft UNICEF Kindern und Familien, die psychologische oder rechtliche Unterstützung brauchen.
Wie geht die Hilfe nun weiter?
Weber: Ganz wichtig ist die Versorgung der Menschen mit fließendem Wasser und der Zugang zu sanitären Anlagen. Daher wird UNICEF als nächstes in diesem Bereich unterstützen.
Parallel richtet UNICEF kinderfreundliche Orte ein und stellt dafür bis zu 40 Zelte zur Verfügung, in denen Kinder lernen, spielen und sich etwas erholen können und in denen es auch Angebote für Mütter mit ihren Kleinkindern gibt.
Die Errichtung des provisorischen Lagers stößt auf heftige Kritik. Handelt es sich hierbei um ein neues Moria?
Weber: Nach dem Brand hatten tausende Menschen, darunter auch viele Kinder, mitunter tagelang keinen Platz zum Schlafen, nichts zu essen und zu trinken. Das neue Flüchtlingslager, ist eine Übergangslösung, damit die Menschen nicht weiterhin schutzlos auf der Straße ausharren müssen und zumindest mit dem Notwendigsten versorgt sind. Organisationen wie UNICEF helfen, damit die spezifischen Bedarfe von Kindern besser wahrgenommen werden und sie dort besser geschützt sind.
UNICEF hat in den vergangenen Monaten und Jahren immer wieder auf die katastrophalen Zustände in Moria hingewiesen. Insofern ist die Kritik und die Sorge, dass sich die Situation widerholt, nachvollziehbar. So etwas wie in Moria darf es nicht mehr geben!
Deshalb wird es nun zum einen darauf ankommen, die Bedingungen vor Ort so zu gestalten, dass sie menschenwürdig sind, und sich gleichzeitig dafür einzusetzen, damit sich dieses Übergangslager nicht verstetigt, sondern andere Lösungen gefunden werden in Griechenland und innerhalb der EU.
Was muss geschehen, um die Kinder bestmöglich zu schützen und ihre Rechte zu gewährleisten?
Weber: Grundsätzlich gilt: Diese Orte sind keine Orte für Kinder. Kinder und Jugendliche sollten nur so kurz wie möglich in großen Aufnahme- und Identifizierungszentren wie auf Lesbos leben und schnellstmöglich in angemessenen Unterkünften auf dem Festland untergebracht werden.
Solange Kinder in Unterkünften und Lagern für geflüchtete Menschen leben müssen, müssen sie vor Gewalt geschützt sein und sich sicher fühlen. Kinder müssen zur Schule gehen können und es muss Orte geben, an denen sie spielen und lernen können. Kinder und ihre Familien müssen Zugang zu medizinischer Versorgung und Hygiene haben, damit sie nicht krank werden. Zudem ist es wichtig, dass Familien schnell und unbürokratisch zusammengeführt werden. Sie haben ein Recht darauf.
Und noch ein Punkt ist wichtig: Kinder und ihre Familien dürfen nicht dauerhaft in einem Wartezustand leben. Sie brauchen schnell eine langfristige Perspektive. Dazu brauchen sie eine gute Beratung und schnelle und faire Asylverfahren, die sich am Wohl der Kinder orientieren.
Unbegleitete Kinder und Jugendliche sind besonders schutzbedürftig. Wie können sie am besten geschützt werden?
Weber: Ohne den Schutz einer Familie sind Kinder in Flüchtlingslagern wie auf Lesbos großen Gefahren ausgesetzt. Zudem gibt es häufig nicht genug Plätze in den Schutzzonen der Lager. So werden unbegleitete Kinder und Jugendliche schnell Opfer von Gewalt, Missbrauch oder Ausbeutung. Sie müssen deshalb in Unterkünften leben, in denen sie besonders geschützt sind und in denen sie eine besondere Unterstützung erhalten.
Nach dem Brand in Moria konnten viele unbegleitete Kinder und Jugendliche identifiziert werden. Einige von ihnen leben derzeit noch im Tapuat-Zentrum auf Lesbos, das von UNICEF unterstützt wird, weitere wurden auf das griechische Festland gebracht. EU Mitgliedstaaten wie Deutschland und Frankreich haben sich bereit erklärt, unbegleitete Kinder und Jugendliche aus Griechenland aufzunehmen.
Doch was passiert mit den weiteren unbegleiteten Kindern in Griechenland? Wir wissen von mehr als 1.000 unbegleiteten Kindern und Jugendlichen, die teilweise ohne Papiere in Griechenland auf der Straße leben – und damit besonders gefährdet und nur sehr schwer zu erreichen sind. Sie brauchen dringend unsere Unterstützung.
Deutschland hat in der vergangenen Woche weitere Kinder aus Moria aufgenommen. Ist dies ein Schritt in die richtige Richtung?
Weber: Es ist ein wichtiger Schritt, der unmittelbar Einfluss auf das gesamte Leben dieser Kinder hat. Nach einer langen Zeit des Wartens, der Unsicherheit und der Perspektivlosigkeit können diese Mädchen und Jungen nun in Deutschland ankommen, Erlebtes verarbeiten, wieder zur Schule gehen, eine Ausbildung machen, Freundschaften schließen.
Während diese Kinder nun also endlich eine Chance auf einen Neuanfang haben, leben aber weiterhin viele schutzbedürftige Kinder auf Lesbos und auch auf anderen griechischen Inseln wie beispielsweise Samos.
Deshalb hoffen wir, dass auch weitere europäische Länder geflüchtete und migrierte Kinder aus Griechenland aufnehmen. Gleichzeitig muss in die Strukturen vor Ort investiert werden, damit mehr Kinder in angemessenen Unterkünften untergebracht sind, damit sie vor Gewalt und Übergriffen geschützt sind, zur Schule gehen können und nicht viele Monate oder Jahre in Lagern wie Moria ausharren müssen.
Im September hat die EU ihren neuen Asyl- und Migrationspakt vorgestellt. Was bedeutet dies für die Kinder auf Lesbos und den anderen griechischen Inseln?
Weber: Der Brand in Moria hat uns einmal mehr und besonders dramatisch vor Augen geführt, welche Verantwortung Europa beim Schutz von geflüchteten und migrierten Menschen hat. All diese Menschen haben ein Recht auf Schutz, eine angemessene Unterkunft und schnelle und faire Asylverfahren. Das gilt noch einmal mehr für Kinder, denn sie sind besonders verletzlich.
Deshalb sollten wir den neuen EU Migrations- und Asylpakt als eine gute Chance sehen, den Rechten und Bedarfen von Kindern Vorrang einzuräumen. Darüber müssen wir jetzt diskutieren und verhandeln.
Denn nur wenn bestehende Schutzmaßnahmen aufrechterhalten und verbessert werden, Schutzlücken identifiziert und geschlossen werden und das Kindeswohl in allen Kinder betreffenden Angelegenheiten, Verfahren und Entscheidungen ausschlaggebend ist, werden wir verhindern, dass sich Zustände wie in Moria wiederholen und können wir sicherstellen, dass wir kein Kind zurücklassen.
Helfen sie den Kindern aus Moria
Die geflüchteten und migrierten Kinder und Jugendlichen haben nach der Brandkatastrophe in Moria zum zweiten Mal alles verloren. Wir als Hilfsorganisation setzen alles daran, die Kinder mit dem Nötigsten zu versorgen – für eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Orte wie Moria darf es nicht länger geben. Dafür sind wir rund um die Uhr im Einsatz. Mit Ihrer Spende können Sie dafür sorgen, dass die Kinder nicht am am Nullpunkt stehen bleiben.
Vielen herzlichen Dank für Ihre Unterstützung!