Kindheit kann nicht warten
Kommentar von UNICEF-Geschäftsführer Christian Schneider zur Situation der syrischen Kinder im Krieg und auf der Flucht
Nach fast fünf Jahren Krieg in Syrien liegt das Leben einer ganzen Generation von Kindern und Jugendlichen in Trümmern. Aber wir dürfen sie nicht aufgeben: Diese Kinder sind die Zukunft ihres Landes und ihrer Region. Wie diese Zukunft aussieht hängt auch davon ab, was wir heute tun, um die Mädchen und Jungen zu unterstützen.
Niemand sucht es sich aus, ein Flüchtling zu sein. Flucht ist ein schlimmes, meist von Menschen verursachtes Schicksal. Auch wenn es vielen anders erscheint: Nur ein kleiner Teil der vom Bürgerkrieg betroffenen Menschen macht sich auf nach Europa. In Syrien sind mehr als 6,5 Millionen Menschen Vertriebene im eigenen Land – rund die Hälfte von ihnen Kinder. Auch die über vier Millionen Syrer, die Zuflucht in den Nachbarländern gesucht haben, hoffen darauf, irgendwann nach Hause zurückzukehren.
Aber die Perspektivlosigkeit, gepaart mit wachsender Armut, hat in den vergangenen Jahren immer mehr Familien verzweifeln lassen. Sie wollen nicht länger hinnehmen, dass ihre Kinder zu einer verlorenen Generation werden. Die Zukunft ihrer Kinder – das ist für die Eltern oft der einzige Antrieb, nicht aufzugeben. Wir müssen alles tun, um ihnen trotz der schwierigen Situation Perspektiven zu geben.
UNICEF ist eine der wenigen internationalen Organisationen, die den Kindern sowohl innerhalb Syriens, in den Nachbarländern als auch auf den Fluchtrouten hilft. In einer der größten Hilfsoperationen seiner Geschichte sind über 650 Mitarbeiter für syrische Flüchtlinge im Einsatz.
Zusammen mit einem großen Netzwerk von Partnern versorgen die UNICEF-Teams Kinder mit dem Nötigsten: mit medizinischer Hilfe, sauberem Wasser, ausreichend Nahrung. Vor dem Winter erhalten hunderttausende Kinder warme Kleidung. Mit dem Programm „No Lost Generation“ bringt UNICEF Kinder in Syrien und seinen Nachbarländern in die Schule, schafft Ausbildungs- und Freizeitangebote. Denn jeder Tag ohne Schule, ohne sinnvolle Beschäftigung und Lernen ist ein verlorener Tag und beeinträchtigt die Entwicklung dieser Kinder.
Die deutsche Bundesregierung und die Bundesbürger unterstützen die Arbeit von UNICEF großzügig. Anfang November fehlten UNICEF trotzdem noch rund 300 Millionen Euro, um die für 2015 in Syrien und seinen Nachbarländern geplante Hilfe vollständig zu finanzieren.
Und Europa? Schätzungsweise ein Viertel der Flüchtlinge, die in den vergangenen Monaten hierher kamen, sind Kinder und Jugendliche, unter ihnen viele Syrer. Doch bei den Diskussionen um die Bewältigung der Flüchtlingskrise werden die Bedürfnisse der Jüngsten vielfach übersehen. Wir müssen verstehen, was sie durchgemacht haben. Sie sind in erster Linie Kinder. Ihr Wohlergehen muss im Mittelpunkt stehen. Sie haben ein Recht auf besonderen Schutz und Unterstützung.
Nach den schrecklichen Anschlägen vom 13. November in Paris dürfen wir eines nicht vergessen: Es sind der Extremismus und der Terror in ihrer Heimat, vor denen viele Menschen bei uns Zuflucht suchen. Mauern und Zäune an den Grenzen Europas werden die Flüchtlingskrise nicht lösen. Umso dringender sind politische Anstrengungen, die Tragödie in Syrien zu stoppen. Solange der blutige Konflikt andauert, werden noch mehr verzweifelte Familien den Weg in die Fremde wagen – trotz des Wissens, dass auch die Flucht für sie lebensgefährlich und die Zukunft ungewiss ist.
Gleichzeitig muss endlich eine menschenwürdige Versorgung der Flüchtlinge und Vertriebenen im Nahen Osten sichergestellt werden. Neben der lebensnotwendigen Nothilfe sind gezielte Investitionen in Bildung und psychosoziale Hilfen für Kinder und Jugendliche dabei besonders wichtig. Wer eine verlorene Generation verhindern will, muss Kindern Zukunft geben. Kindheit kann nicht warten.
Ihr
Christian Schneider
Wie erleben syrische Kinder den Krieg und die Flucht? Was müssen sie durchmachen, wenn sie aus ihrer Heimat vertrieben werden? Lesen Sie dazu in den kommenden Wochen unsere Blog-Serie: „Kindheit kann nicht warten – Flüchtlingskinder erzählen von ihrem Schicksal“.