Margarita (14) aus der Ukraine möchte Ihnen etwas sagen
Kindheit kann nicht warten, Teil 7
Für den siebten Teil unserer Blog-Serie: "Kindheit kann nicht warten – Flüchtlingskinder erzählen von ihrem Schicksal" habe ich mit Margarita aus der Ostukraine gesprochen. Sie selbst mag es nicht, „Flüchtling“ genannt zu werden – den Krieg und ihr altes Leben möchte sie so weit wie möglich hinter sich lassen.
Margarita (14) aus der Ukraine
Kein Wunder, dass Margarita nicht für immer mit dem Stempel „Flüchtling“ versehen sein möchte: Sie ist 14, sie möchte dazugehören, sie hat jetzt ein neues Leben in der ukrainischen Stadt Charkiw, neue Freundinnen. „Ich will die schlechten Erinnerungen hinter mir lassen“, erzählt sie mir. Vor einem Jahr ist sie mit ihrer Familie vor den Kämpfen aus der Ostukraine geflohen. Nach acht Monaten in einer Baracke ohne fließendes Wasser haben sie endlich eine brauchbare Wohnung bezogen. Im Wohnzimmer bewirten uns die Eltern Juri und Lena mit Tee und großen Mengen Gebäck. Katze Ozzy macht es sich abwechselnd bei Mutter oder Tochter gemütlich. Immer, wenn ihre Eltern etwas erklären wollen, unterbricht ihre Tochter sie im typischen Tonfall einer 14-Jährigen, und ich verstehe auch ohne Dolmetscher, was das heißt: Lasst mich erzählen.
Denn hinter sich lassen heißt nicht vergessen.
Schon vor dem Tag im Januar letzten Jahres, der Margaritas Leben für immer veränderte, ging es in ihrer Stadt in der Ostukraine bedrohlich zu. „Eines Tages kamen drei schwer bewaffnete Männer während der Pause in unsere Schule“, erzählt sie. „Sie fragten laut nach dem Schulleiter und sagten, alle ukrainischen Symbole wie Fahnen und Wappen müssten entfernt werden – sonst würde es schlimme Konsequenzen geben. Sie kamen später zurück, um das zu kontrollieren. Die Lehrer hatten in der Zwischenzeit von allen Schulbüchern die ukrainischen Symbole ausgeschnitten oder die Seiten so zusammengeklebt, dass sie nicht mehr zu sehen waren.“
Spätestens jetzt war der Familie klar, dass sie hier weg mussten aus Stakhanov in der Region Lugansk, aber sie hatten keine gültigen Papiere, und Margaritas Mutter war krank.
Bombardierung auf dem Weg zur Schule
Dann kam der schlimmste Tag: Am 21. Januar 2015 war sie auf dem Weg zur Schule, es war noch dunkel, als ihre kleine Stadt in der Ostukraine bombardiert wurde. „Es ist unmöglich, diesen Tag zu vergessen, es war einer der wichtigsten Tage meines Lebens“, sagt Margarita. Das selbstbewusste Mädchen ist sichtlich aufgewühlt, während sie erzählt. Die Familie gehört zu den mehr als 1,6 Millionen Menschen in der Ukraine, unter ihnen über 200.000 Kinder und Jugendliche, die innerhalb ihres eigenen Landes in sicherere Gebiete geflohen sind und damit offiziell nicht als „Flüchtlinge“, sondern als „Binnenvertriebene“ gelten.
An jenem Tag vor einem Jahr hörte Margarita die erste Explosion, aber sie setzte ihren Schulweg fort. Denn sie dachte, es würde aus ihrer Stadt gefeuert, nicht auf sie, die Frontlinie war nur 15 Kilometer entfernt. „Meine Mutter rief mich auf dem Handy an, sie sagte, die Bomben kommen zu uns, sie kommen zu uns, du musst sofort nach Hause!“, erzählt Margarita. In ihrer Schule gab es keinen Schutzraum. Auf dem Weg nach Hause sah das Mädchen mehrere Krankenwagen, durch die hell erleuchteten Fenster sah sie Ärzte, ihre weißen Kittel voller Blut. Die Familie suchte Schutz im Keller ihres Hauses. „Der Beschuss dauerte drei Wochen non-stop“, sagt Mutter Lena.
Auf der Flucht: „Entweder ihr dreht um oder wir erschießen euch“
Bei der ersten Feuerpause wagte die Familie die Flucht. Sie packten Katze Ozzy und wenige Habseligkeiten in ihr Auto, doch schon am ersten Checkpoint drohten sie zu scheitern. „Entweder ihr kehrt um oder wir erschießen euch“, drohten die Milizen. Über viele Umwege erreichten sie einen anderen Grenzübergang des de facto geteilten Landes. Andere Autofahrer kamen ihnen entgegen und warnten sie, aber Margaritas Familie beschloss, es trotzdem zu versuchen. Welche Wahl hatten sie? Die Eltern flehten die bewaffneten Männer an, sie um des Mädchens willen durchzulassen, in Sicherheit. „Und dann haben sie uns tatsächlich passieren lassen“, sagt Margarita, „es war wie ein Wunder.“
Auch an ihre Ankunft in Charkiw nach sieben Stunden Fahrt voller Angst erinnert sich Margarita noch genau – es war der 18. Februar 2014. „Es war Abend und schon dunkel, überall waren Lichter an. Es sah wunderschön aus! Und es war so ruhig – keine Explosionen, keine Schüsse.“
Acht Monate in einer Baracke ohne Wasser
Dank freiwilligen Helfern fanden sie eine Notunterkunft. „Die Bedingungen waren schlecht, aber die Miete sehr niedrig“, sagt Vater Juri. Nur ungern spricht er darüber, dass sie acht Monate in einer Baracke ohne Wasser und ohne Toilette gehaust haben, er möchte gut für seine geliebte Familie sorgen. Seit drei Monaten haben sie jetzt eine annehmbare Wohnung. „Ich beklage mich nicht“, sagt Juri, „denn ich habe alles, was ich zum Leben brauche: Meine Frau, meine Tochter und meine Katze.“
Die Katze. Lena streichelt Ozzy über das lange graue Fell, das ihr wieder gewachsen ist. „Während der Flucht hat sich die Katze sieben Stunden nicht gerührt und keinen Laut von sich gegeben“, sagt Lena. „Sie hat gespürt, was passiert. Von dem Stress hat sie dann alle Haare verloren. Sie ist immer noch schreckhaft bei lauten Geräuschen.“
Und Margarita? „Einmal gab es in Charkiw ein Feuerwerk und ich habe gefragt: Mama, sind das Bomben oder Feuerwerk? Sie sagte, nur Feuerwerk, dann war ich beruhigt.“ Eine gewisse Angst, dass die Schrecken des Krieges sie wieder einholen könnten, ist geblieben. Sonst geht Margarita, zumindest nach außen hin, bemerkenswert gut mit ihrer Situation um. Sie schaut nach vorne.
Margaritas Videobotschaft für Frieden in der Ukraine
Das geht so weit, dass sie den Kontakt zu ihren früheren Klassenkameraden vollständig abgebrochen hat. Auf keinen Fall möchte sie in ihre Heimatstadt zurück, selbst, wenn dort Frieden wäre. „Ich bin jetzt hier zu Hause. Ich bin eine von hier, von Charkiw.“ Sie geht jetzt in die neunte Klasse an ihrer neuen Schule. Schon seit dem Kindergarten steht für sie fest, dass sie später einmal Anwältin werden möchte.
Bei dem Start in ihr neues Leben hat ihr auch ein Videoworkshop von UNICEF geholfen, der Teil des weltweiten Projekts „One Minutes Junior“ ist. In den Sommerferien organisierte UNICEF den Workshop in einem Familienzentrum für Flüchtlinge und leitete die Kinder und Jugendlichen dabei an, einminütige Filme über ein Thema zu machen, das ihnen wichtig ist. „Die Mädchen und Jungen setzen sich kreativ mit ihrer Situation auseinander und lernen, dass ihre Stimme wichtig ist“, erklärt Gabrielle Akimova, Kinderschutzexpertin von UNICEF Ukraine.
Margarita musste nicht lange überlegen, was sie ausdrücken wollte. „Mein Appell an alle Menschen ist: Ich will Frieden!“
Zum Abschied hat Margarita mir ein Armband in den Nationalfarben und dem Schriftzug „Ukraine“ geschenkt, das jetzt auf meinem Schreibtisch vor mir liegt und mich an diese Begegnung erinnert. Immer, wenn ich seitdem in den Nachrichten etwas über die Ostukraine höre, denke ich an Margarita, diese starke junge Frau. Schülerin, Filmerin, künftige Anwältin. Und jetzt eine aus Charkiw.
Mit ihrem Film hat Margarita bei dem internationalen Wettbewerb des OneMinutesJr-Projekts gewonnen und durfte zur Preisverleihung nach Amsterdam reisen, wo sie sich „wie bei einer Oscar-Verleihung“ fühlte.
Lesen Sie hier alle Beiträge der Serie "Kindheit kann nicht warten: Flüchtlingskinder erzählen"
Die Kinder unter den Flüchtlingen werden häufig übersehen. Wir möchten ihnen eine Stimme geben und stellen Ihnen im Blog Mädchen und Jungen vor, die auf der Flucht sind. Einige von ihnen haben wir in Deutschland interviewt, andere sind in Syrien aus ihren Häusern vertrieben worden oder sind nach Jordanien oder Libanon geflohen. Egal, wo sie sind – sie sind in erster Linie Kinder.
Erfahren Sie hier mehr darüber, wie UNICEF Kindern in Syrien und seinen Nachbarländern und auf den Fluchtrouten hilft.