"Wir sind hierhergekommen, weil wir Sicherheit suchen. Aber hier sind wir nicht sicher"
Eindrücke und Gespräche aus Griechenland
Drei Wochen nach dem verheerenden Brand im Flüchtlingslager Moria bin ich nach Griechenland gereist, um zu erfahren, wie UNICEF vor Ort hilft. Dabei habe ich in Athen und auf Lesbos mit Familien und Helfern gesprochen. Ich bin dankbar für ihr Vertrauen und dafür, dass sie ihre Geschichten mit mir geteilt haben. Nun möchte ich sie mit Ihnen teilen.
Geschichten aus Athen
Zu Beginn meiner Reise mache ich mir ein Bild von der Lage in Athen. Hierher wurden viele Flüchtlinge aus dem überfüllten ehemaligen Lager Moria auf Lesbos gebracht. Allerdings gibt es nicht genug Unterkünfte, so dass viele Flüchtlinge im Freien campieren.
"Europa muss uns helfen!"
In Athen treffe ich den 16-jährigen Arian. Er ist völlig aufgelöst. "Heute Nacht haben sie versucht, meine Mutter anzufassen und jemand wollte uns bestehlen. Und dann kam noch die Polizei und wollte uns fortjagen." Seit einer Woche lebt der Junge mit seiner 17-jährigen Schwester Eria und der Mutter Mahboobo unter freiem Himmel am Victoria Square in Athen. Arian ist es wichtig, mir seine Geschichte zu erzählen. Damit Europa ihn nicht vergisst.
"Ich bin mit meiner Mutter und meiner Schwester nach Griechenland gekommen. Wir waren ungefähr acht Monate lang in Moria, bevor das Lager abgebrannt ist. Dort war es sehr gefährlich, es gab die ganze Zeit Unruhen. Jetzt sind wir in Athen, aber wir sind immer noch nicht sicher. Wir brauchen eure Hilfe."
Das Elix Learning Center: Sicherheit, Freundschaft und Aufmerksamkeit
Das Elix Learning Center in Athen ist eine Oase der Sicherheit für geflüchtete Kinder im Alter von drei bis 17 Jahren. Bunte Bilder hängen an den Wänden, es gibt Bücher und Spiele. Im Moment besuchen 300 Kinder aus 32 Nationen das Center, das ihnen Sicherheit, Freundschaft, Gespräche und Aufmerksamkeit bietet.
Vor der Corona-Pandemie hatten die Kinder hier zwei Stunden täglich Unterricht. Während des Lockdowns wurde digitaler Unterricht angeboten, allerdings hatten nicht alle Kinder die erforderlichen technischen Möglichkeiten. Mittlerweile werden die Kinder wieder vor Ort unterrichtet – eine Stunde täglich und in kleineren Gruppen. Die Hygieneregeln und das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes sind für alle selbstverständlich.
Im Center lerne ich die achtjährige Samira kennen. Sie und ihre beiden Brüder besuchen das Center seit 2018. Samiras Mutter erzählt, warum die Familie aus Afghanistan geflohen ist. "Mein Mann war Maler und hat für die Amerikaner in Kabul gearbeitet. Deswegen haben die Taliban ihn mehrmals bedroht. Sie haben ihn geschlagen, seitdem ist er auf einem Ohr taub und hat viele gesundheitliche Probleme."
2018 floh die Familie nach Iran. Hier verbrachten sie ein halbes Jahr. Aber sie besaßen keine rechtsgültigen Dokumente, die Kinder konnten nicht zur Schule gehen. Daher entschlossen sie sich, die Überfahrt nach Griechenland anzutreten. Samira erinnert sich: "Ein Teil des Bootes ging kaputt. Ich hatte große Angst und es war sehr kalt."
Die nächste Station war Moria auf Lesbos. Hier gab es keine Elektrizität, keine Heizung. Als die Familie wegen der Kälte im Zelt ein Feuer gemacht hatte, wurde Samira vom Rauch ohnmächtig und musste eine Woche im Krankenhaus verbringen.
Samiras Familie wird vom UNHCR, dem Flüchtlingskommissariat der UN, mit 450 USD monatlich unterstützt und teilt sich eine winzige Wohnung mit einer anderen Familie. Wie es weitergeht, wissen sie nicht. Bereits vor anderthalb Jahren haben sie ihr Interview zum Asylantrag geführt. Seitdem warten sie auf eine Entscheidung.
Lesbos – Das alte und das neue Camp
Auf Lesbos besuche ich das abgebrannte Flüchtlingscamp Moria und den inoffiziellen "Dschungel", wie die Bewohner die mit notdürftigen Zelten übersäten Hügel rund um das eigentliche Camp nannten. Rund 12.000 Flüchtlinge haben hier gelebt und auf ihr weiteres Schicksal gewartet, als Anfang September ein verheerendes Feuer das Camp zerstörte. Mittlerweile ist der Aufbau des neuen Lagers bei Kara Tepe vorangeschritten.
Moria – ein Dasein ohne Hygiene und Bildung, mit viel Gewalt und Schlaflosigkeit
Im alten Camp gab es in der Vergangenheit viele Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern verschiedener Nationen, die dicht an dicht lebten. Vieles soll in dem neuen Camp besser umgesetzt werden. Daher sind die Flüchtlinge in verschiedenen Zonen untergebracht, entsprechend ihres Familienstands, ihrer Sprache und ihrer Nationalität.
"Das hier habe ich nicht erwartet"
Im neuen Flüchtlingscamp Kara Tepe treffe ich auf eine pakistanische Familie. Familienvater Hussein Hiwaza erinnert sich: "Ich habe in Syrien für eine Baufirma gearbeitet. Wir lebten in einem Haus und es ging uns gut. Aber es gab so viele Konflikte und so viele verschiedene Akteure in Syrien. Irgendwann hatte ich einfach nur noch Angst um meine Familie." Zunächst flohen sie innerhalb Syriens nach Idlib. Später führte sie ihr Weg in den Dschungel von Moria.
Nach dem Feuer in Moria hat die Familie einen Platz im neuen Camp gefunden. Ein Elektrokabel spendet nachts notdürftig Licht, Mund-Nasen-Masken baumeln am Zeltdach. Am Eingang des Zeltes sind Lebensmittel verstaut. 290 USD erhält die Familie im Monat vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Eine Summe, die zusätzlich für Husseins Eltern in Syrien reichen muss. "Ich dachte, in Griechenland ist es besser. Aber das hier habe ich nicht erwartet. Ich würde gerne hierbleiben, wenn ich einen Flüchtlingsstatus erhalte, einen Job bekomme und meine Familie ernähren kann. Wenn das nicht geht müssen wir weiterziehen."
Geschichten aus Tapuat
Nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria wurde das Familienzentrum Tapuat zu einer Notunterkunft umfunktioniert. Unbegleitete Kinder und besonders schutzbedürftige Mütter mit ihren Kindern haben hier Zuflucht gefunden. Die Mütter und Kinder sind nach Nationalitäten getrennt untergebracht. Derzeit leben 76 Familien mit 121 Kindern in dem ehemaligen Familienzentrum.
Yosif hat keine Zeit, um Kind zu sein
Wegen des Krieges in seinem Heimatland Syrien konnte der 13-jährige Yosif Wazan in seinem ganzen Leben noch nie eine Schule besuchen. In Moria lebte Yosif mit seiner Mutter im oberen Teil des Dschungels. "Nachts haben wir nicht geschlafen. Wir hatten immer Angst. Es gab viele Diebstähle im Camp, daher haben wir nur morgens ein paar Stunden Ruhe gefunden", berichtet Yosifs Mutter Amal.
Ob Yosif Freunde habe, will ich wissen. "Nein", ist seine Antwort. "Ich habe keinen einzigen Freund. Siebzig Prozent der Bewohner Morias waren Afghanen. Viele von ihnen waren gefährlich, hatten immer ein Messer dabei. Meine Mutter hat eine Verletzung und kann sich nicht gut bewegen. Deswegen war ich meist mit ihr zusammen im Zelt." In seinen jungen Jahren fühlt Yosif die ganze Verantwortung. Für Kindsein ist kein Platz. Was sind seine Wünsche für die Zukunft, frage ich ihn. "Fußballer wäre schon toll", sagt er vorsichtig.
Viel zum Nachdenken
Auf meiner Reise habe ich viele Menschen getroffen, deren Geschichten mich zutiefst berührt haben. Die Kinder in den Flüchtlingslagern träumen davon, zur Schule zu gehen. Sie träumen von einem sicheren Ort, an dem sie spielen und Freundschaften schließen können. Gleichzeitig habe ich auch Mitgefühl mit der griechischen Gesellschaft, die selbst unter einer Wirtschaftskrise leidet und in den letzten Jahren viel Gastfreundschaft gezeigt hat.
Es ist keine Frage: So etwas wie in Moria darf es nicht mehr geben! Die geflüchteten und migrierten Kinder in Griechenland müssen dringend geschützt, ihre Rechte gewahrt werden. Worauf es deshalb jetzt ankommt und was UNICEF dafür tut, lesen Sie hier im Interview mit meiner Kollegin und Referentin für Flucht und Migration, Desiree Weber, die mit mir nach Griechenland gereist ist.
Wenn Sie gemeinsam mit UNICEF den Kindern in Griechenland helfen möchten, unterstützen Sie unsere Arbeit mit Ihrer Spende. Vielen Dank!