Reisetagebuch Indonesien - Tag 3
Von einer Schule, die nicht mehr zu erschüttern ist. Und einem Labor, in dem sie einen Feind entdecken. Von einem Kinderzimmer und einem Gouverneurspalast. Tag drei mit UNICEF Indonesien - zehn Jahre nach dem Tsunami, der über Banda Aceh kam.
Dass UNICEF innerhalb weniger Wochen 1.000 Behelfsklassenzimmer auf freiem Feld oder in Zelten aufstellen kann, dass es 230.000 Textbücher beschaffen kann und 7.000 Koffer mit Basis-Lehrmaterialien für die Unterrichtung einer halben Million Kinder, das hat es, wenn auch nicht immer in dieser Größenordnung, in Banda Aceh nicht zum ersten Mal bewiesen. Auch, dass es in höchster Not Lehrer in die Katastrophenzonen locken kann: 1.110 waren es, die sich freiwillig meldeten, im gefluteten, im plattgemachten, im traumatisierten Banda Aceh zu helfen; unter Verzicht auf Geld und manchmal nur mit ein paar Stiften und etwas Papier in der Tasche ankommend.
Doch in Banda Aceh geschah noch etwas anderes: Gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen machte sich UNICEF daran, auch den Bau dauerhafter Schulen zu finanzieren oder die Wiedererrichtung beschädigter Schulgebäude. Und es war vor allem das viele Spendengeld auch aus Deutschland, das diesen Beschluss beförderte. Schulen nach Naturkatastrophen aufzubauen, ist sonst eine Sache etwa der Weltbank, hier wurde es, mit einer Gesamtinvestition von rund 100 Millionen US-Dollar, zur vielleicht nachhaltigsten Aktion des Kinderhilfswerks UNICEF.
Auf dem Lehrplan: die Rettung beim nächsten Erdbeben
Und eine dieser Schulen, eine von 345 neuen oder rekonstruierten in der Region, steht an diesem Tag auf unserem Programm. Es ist die von der islamischen Hilfsorganisation Muhammadiyah Yayasan betriebene Grundschule im Stadtteil Merduati, von deren einst 300 Schülern keine zwanzig den Tsunami überlebten wie auch von deren einstiger Lehrerschaft nicht alle. Neu aufgebaut wurde sie ausschließlich mit lokalen Unternehmen und dank UNICEF, ergänzt von einer „generous donation from the people of Heilbronn“, wie auf einer kleinen Plakette im Schulhof zu lesen ist, wiedereröffnet wurde die Schule am 18. September 2006.
Es wird ein turbulenter Besuch! Denn nicht nur sind alle nach dem Schreckenstag im Dezember 2004 errichteten Schulen erdbebensicher gebaut (das vorerst letzte Wackeln, immerhin mit 6,7 auf der Richterskala, haben sie schadlos ausgehalten), nicht nur haben sie jetzt breite Treppen und Fluchtkorridore, und nicht nur haben sie jetzt Toiletten für Jungen und Mädchen, nicht nur hat die Muhammadiyah-Schule jetzt ein Labor, eine Bibliothek und einen Speiseraum, alles das ein Exempel für das UNICEF-Ziel build back better, es werden auch regelmäßig Übungen für den Katastrophenfall an ihr abgehalten. Und eine dieser Übungen wird uns nun vorgeführt.
Die Grundschule im Stadtteil Merduati: Sie wurde, wie über 300 weitere Schulen, von UNICEF errichtet. Auf dem Lehrplan auch regelmäßige Katastrophenübungen, zu denen sich die Kinder auf dem Hof versammeln.
Zunächst ist der Schulhof, u-förmig umbaut von ein bis zwei Stockwerken mit Klassenzimmern hinter grün überdachten Veranden, ganz still. Dann heult eine Sirene auf, und kurz darauf kommen 300 oder mehr Jungen und Mädchen mit ihren Ranzen auf dem Kopf sehr diszipliniert in die offene Mitte, setzen sich dort, während „Sanitäter“ rasch einige „Verletzte“ in eine Krankenstation tragen, wo sich „Schwestern“ in erster Hilfe versuchen, ersatzweise im Zufächeln von Luft. Ein niedliches Bild, das sich im Ernstfall nicht bieten würde, aber im Ernstfall würde auch nicht die beste Sängerin der Schule ein Mikrofon in die Hand nehmen und so auftreten, als suche auch Indonesien den Superstar. Man merkt das sinnvolle Training, man merkt die Qualität dieser Schule auch am gefüllten Pokalschrank im Zimmer der Direktorin, man sieht diese Qualität in den mit weißen Kachelfußböden ausgestatteten Klassenzimmern, wo jeweils vier Kinder an großen Tischen sitzen, mit viel Raum und viel Licht um sich herum. Sogar Sportunterricht haben sie hier, wie wir gleich nach der Notfallübung bewundern können, noch keine Selbstverständlichkeit in Indonesien. Wie auch das nächste Thema: Malaria.
Die (fast) gelungene Befreiung von einer Menschheitsplage
Wir nehmen Kurs auf Sabang, eine 118 Quadratkilometer große Insel nordwestlich von Banda Aceh, in etwa einer dreiviertel Stunde per Fähre zu erreichen. Sabang mit seinen 36.000 Bewohnern ist der ganze Stolz der Malaria-Bekämpfer, aber es wird uns eine kleine Enttäuschung erwarten. Denn noch bevor wir Cut Adelia Nara treffen, das vermeintlich letzte Opfer der Malaria, die hier seit 2011 als ausgestorben gilt, steht ein Besuch der Puskesmas Sukajaya im Dorf Balohan an; Puskesmas: die indonesische Abkürzungskombination für kommunale Gesundheitszentren. Und dort, im Laborraum, erfahren wir, dass es doch wieder sieben Malariafälle auf der Insel gibt, betroffen auch ein fünfjähriger Junge.
Das ist ein Frusterlebnis ebenso für die UNICEF-Mitarbeiter, denn auch sie sind engagiert im Krieg gegen die Malaria. Haufenweise Moskitonetze hat UNICEF verteilen lassen und ist involviert in eine ausgefeilte Strategie aus regelmäßigen Sprayaktionen, Früherkennung und dörflichem Meldesystem mit freiwilligen Inspektoren, auch in die Datenerhebung und Kartierung sämtlicher Malariavorkommen im Land. Auf der Insel Sabang hat dies derart gut funktioniert, wie es schien, dass sie Modell der Malaria-Eliminierung in ganz Indonesien wurde.
Oder anders: Hier hat die Strategie so gut funktioniert, dass die Wachsamkeit auf der Insel nachgelassen hat. Aber die Malaria ist eine Hydra; es wachsen ihr die Köpfe nach, schlägt man sie nicht schnell genug wieder ab. Die Mitarbeiter im Puskesmas von Balohan überlegen nun, die Bluttests für Zuzügler aus anderen Regionen Indonesiens wieder einzuführen, um möglicherweise infizierte Personen auszudeuten, von denen die Anopheles-Mücke die Krankheit zu Nachbarn fliegen könnte. Eine rabiat wirkende Überwachungsmethode, aber wichtig nicht zuletzt, um Schwangere und Kleinkinder zu schützen, für die eine Malariainfektion besonders gefährlich ist.
Bessere Nachrichten hat der Gesundheitsdienst von den Hebammen in den Dörfern: Geburten dort werden zu 100 Prozent von den Fachfrauen begleitet, die von UNICEF trainiert worden sind. Eine paradiesische Vorstellung für den Rest Indonesiens.
Auf engen Straßen kurven wir über die dichtbewaldete Insel hinunter in das Dorf Alne Jaba, wo uns Sri Kayanti empfängt, die „Malaria-Beauftragte“ der Gemeinde. Sie wird bei Fieber gerufen, sie entnimmt den Fiebernden dann kleine Blutproben und schickt sie in das Gesundheitszentrum, und sie hat ein waches Auge auf Fremde. Zuletzt 2012 wurden hier, kostenlos, Moskitonetze in die rund 100 Haushalte des Dorfes geliefert, von den zwei bis drei empfohlenen Spray-Aktionen pro Jahr wird dagegen meist nur eine absolviert. Immerhin: Auf Sabang hat es seit 14 Jahren keinen Malaria-Toten mehr gegeben.
Cut Adelia hat es geschafft!
Cut Adelia, mit der die Malaria-Geschichte auf Sabang eigentlich enden sollte, erwartet uns mit einem scheuen Lächeln an der Hand ihrer Mutter.
Ein Jahr nach der Tsunami-Katastrophe ist das Mädchen auf die Welt gekommen, und dass es eine Zeit lang als schöne Besonderheit galt, als letztes und glücklich beendetes Kapitel einer seit Menschheitsgedenken quälenden Geschichte, merkt man dem Zimmer der Kleinen an. Es ist das bei Weitem am liebevollsten eingerichtete in einem ansonsten alles andere als üppig gefüllten Haus. In einem Zimmer: nur eine Wiege. In einem anderen: nichts als ein Schrank mit Fernsehgerät. Die Küche: eher ein Stall.
Aber wer mehr als einen Topf besitzt, gar einen Kühlschrank, gilt hier längst nicht mehr als arm. Cut Adelias Vater arbeitet als Fahrer. Er hat seiner Tochter viel gegeben: ein rosafarbenes Bett mit bunten Kissen und Plüschtieren, einen kleinen Schreibtisch, an dem sie ihre Schularbeiten erledigt, einen mit Comicfiguren beklebten Schrank, eine große Uhr und ein Aquarium mit Fisch. Cut Adelia wird geliebt. Das sieht man an jeder Geste, jeder Hinwendung, jedem Streicheln, jeder Umarmung ihrer 28-jährigen Mutter Rahmajady.
Cut Adelia, 2011 von der Malaria geheilt, hat die Liebe ihrer Eltern. Man sieht es auch, wenn man ihr Zimmer mit dem Rest der Wohnung vergleicht.
„Hoffnung säen für eine neue Generation“
Von Cut Adelia und ihrer Familie in einem schwülen Nest auf Sabang, von einem kleinen Mädchen mit Pferdeschwanz und im Jeanskleid mit aufgestickten Blumen, das die Malaria besiegte, geht diese Hoffnung glaubwürdig aus. Aber so hat Umar, der lokale UNICEF-Repräsentant in Banda Aceh, auch das übergreifende Ziel seiner Arbeit beschrieben, deren Grundpfeiler wir am Nachmittag noch einmal in einem dieser Kaffeehäuser mit nackten Wänden diskutieren, an einer dieser Straßen, auf denen sich fast alles Leben auf abenteuerlich besetzten Motorrädern bewegt. Hoffnung säen für eine neue Generation.
Wieviel Samen haben sie in der Hand? Es war so viel wie nie, nachdem die Welle, „das Ding“, wie es manche Menschen hier noch immer fassungslos nennen, wie eine Bombe auf Banda Aceh gekommen war. Und eben nicht nur auf die Stadt, sondern auf die gesamte Küste südlich von hier. Und noch einmal könnte man Eindruck machende Zahlen nennen: über eine Million Impfungen gegen Kinderlähmung, 159 von UNICEF gebaute „Posyandus“, Gesundheitsstationen in den Dörfern. Und nicht mehr jede dritte Frau mit Geburtskomplikationen, die dort eingeliefert wird, muss nun sterben, sondern, nachdem UNICEF das Gesundheitspersonal schulte, nicht mehr jede zehnte. Und 2.600 Schulen in der Region und darüber hinaus haben jetzt einfache sanitäre Anlagen. Und 282 Kindergärten haben Spiel- und Lernmaterialien von UNICEF. Und fast alle Waisenkinder wurden mit UNICEF-Hilfe in Pflegefamilien vermittelt. Und es gäbe noch so viel mehr Schönes zu sagen, was bezeugt, dass die 236.700 US-Dollar, die UNICEF Deutschland noch im Jahr 2013 für langfristige Entwicklungsarbeit in Aceh überwiesen hat, hier bestens aufgehoben sind.
Denn dass fürs Zurücklehnen nicht der kleinste Anlass besteht, zeigt die Vorführung von Umar ebenfalls. Natürlich wird weiterhin Geld gebraucht. Jetzt aber nicht mehr, um Münder zu stopfen, sondern um Helfer zu bezahlen. Gunilla Olsson, die UNICEF-Chefin in Jakarta, ahnt, dass so etwas bei Ahnungslosen in der Ferne leicht so erscheint, als speise sich vor Ort ein Apparat. Aber nichts, sagt sie, wäre falscher als dies zu denken. Denn wer, wenn nicht die von einem kleinen UNICEF-Kader in einem so riesigen Land ausgebildeten Lehrer, Jugendrichter, die für umgerechnet zehn bis zwanzig Euro im Monat arbeitenden Kindergärtnerinnen, die Sozialarbeiter, die Krankenschwestern sollten es denn sein, die den UNICEF-Gedanken in die Fläche schleppen, in die Gerichte, in die Schulen, in die Familien, zu den Hebammen, in die Regierung, in die Berge? Um Wissensvermittlung, um Beratung, um den Aufbau von Kapazitäten, um Pilotstudien, um das Lernen aus Misserfolgen, um die Verstetigung guter Einzelprojekte, um die Qualifikation technischer Berater, um die Verankerung guter Ideen von außen in den lokalen Strukturen und Köpfen müsse es nun gehen, sagt Gunilla. Und das sei ein „fundamentaler Wechsel“ vom Katastropheneinsatz zur Veränderung der alltäglichen Verhältnisse.
Der alltäglichen Verhältnisse in einem Land, in dem es nun leider auch Muslim-Organisationen gibt, die erst davon überzeugt werden müssen, dass die Impfungen der Kinder „halal“ sind, im Einklang stehen mit dem Koran. In einem Land, das auch ohne menschengemachte Probleme ein kritisches Land wäre. Einen supermarket of disasters nennt Umar dieses sein Land. Und er zählt auf, was es bietet: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Fluten, Trockenheiten, Wirbelstürme, Epidemien, Flugzeugabstürze, Aufstände, Terrorattacken. „Normal zu sein“, sagt Zubedy, der Kinderschutz-Experte von UNICEF Banda Aceh, „das werden wir selber wohl nicht mehr schaffen.“ Aber, fügt er hinzu, „unsere Kinder sollten das Recht darauf haben.“
Am Abend haben wir das Recht, dem Gouverneur von Banda Aceh beizusitzen, Zaini Abdullah. Es geschieht in einem von den Holländern 1.880 erbauten Kolonialpalast, über dessen Eingang Lichterketten wie von einem Jahrmarkt blinken. Es geht vor sich in sehr breiten Sesseln auf sehr tiefen Teppichen unter sehr schweren Kronleuchtern neben sehr großen Rosen-Arrangements vor sehr dicken Gardinen mit sehr guter Verpflegung und sehr vielen Offiziellen, die, aufgereiht wie in einem Luxuswaggon des Orient-Express’, in bis zu zwanzig Meter Entfernung der Einladung des Gouverneurs an Gunilla Olsson folgen, an einem Marathonlauf in Gedenken an die Ereignisse vor zehn Jahren teilzunehmen. Es ist nicht ganz ernst gemeint, aber zu den Gedenkfeiern, verspricht Gunilla, werde sie selbstverständlich kommen. Versprochen.
Es ist Nacht, als wir aus dem Palast treten. Und wie am Ende jedes Tages müssen sich Gunilla und ihr Pressechef Michael Klaus noch einmal per Mail darum kümmern, für den 20. November, den 25. Geburtstag der UN-Kinderrechtskonvention, einen möglichst hochrangigen Vertreter der indonesischen Regierung in Jakarta zu gewinnen, bevor wir noch einen Mangosaft trinken gehen. Alkohol wäre besser, ehrlich gesagt, aber er ist hier halt verboten.
Und morgen ist auch noch ein Tag.
Peter-Matthias Gaede
Reisetagebuch Peter-Matthias Gaede
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