Reisetagebuch Indonesien - Tag 1
Von großen Zahlen und kleinen Schritten. Vom Tsunami der Mitmenschlichkeit und reformasi birokrasi. Ein erster Tag in Banda Aceh - an der Seite des UNICEF-Teams Indonesien.
Wer an einem Novembertag 2014 ohne jedes Wissen von den Ereignissen auf dieser Welt nach Banda Aceh käme, in diese bunte, lärmende, bewegte 400.000-Einwohner-Stadt, der könnte nicht glauben, was hier vor zehn Jahren geschehen ist. Der würde es nicht für möglich halten, dass er auf killing fields wandelt. Das aber tut er.
Es war der 26. Dezember 2004, ein Sonntag, als hier um 7 Uhr 58 die Erde auf einer Länge von 1.200 Kilometern bebte, als sich 155 Meilen vor der Küste mit der Gewalt zehntausender Atombomben der unterseeische Boden um zehn Meter hob und eine Welle nach Nordsumatra schickte. Eine Welle, die aus zwei Richtungen in die Bucht vor Banda Aceh raste, sich dort zu einer vernichtenden Macht in kochender See vereinigte und Sekunden darauf zehn und mehr Meter hoch über die Stadt hereinbrach. 8 Uhr 30 am Morgen, mehr als 160.000 Menschen riss die Welle, die zweimal kam, in den Tod, im Viertel Gampong Baro überlebten nur 180 von 1.900 Bewohnern, ein Drittel der Stadt wurde fortgespült, Zehntausende Gerettete waren obdachlos, 3.000 gerettete Kinder zu Waisen geworden oder auf der Suche nach einem Elternteil.
Banda Aceh: das Grauen in Potenz
Inferno. Das Erdbeben vom 26. Dezember 2004 war mit einer Stärke von 9,1 auf der Richterskala eines der größten je gemessenen, und die Tsunamis, die es auslöste, trafen auch andere Länder: Thailand und Sri Lanka, Indien und Bangladesch, die Malediven und Burma, selbst Somalia und Tansania. Noch einmal 70.000 Menschen starben dort. So verheerend wie auf Banda Aceh aber, diese zuvor schon von 30 Jahren Bürgerkrieg kranke und gelähmte Stadt, Zentrum einer der ärmsten unter den 33 Provinzen und so genannten Sonderregionen Indonesiens, so furchtbar schlug die Naturgewalt auf keinen zweiten Ort ein. Banda Aceh war das Grauen in Potenz.
Sonali Deraniyagala erwischte sich manchmal dabei, wie sie auf den Bettlaken die Formen der Körper ihrer beiden Söhne nachzog, beide in den Fluten gestorben, untergegangen wie auch ihr Mann, wie auch ihre Eltern. Manchmal zerfleischte sie sich mit einem Messer die Arme und Oberschenkel, bis ihr die Messer weggenommen wurden. Manchmal sammelte sie heimlich die ihr verabreichten Schlaftabletten, um sie auf einmal zu nehmen und so ihrem Leiden ein Ende zu setzen, was misslang. Manchmal schlug sie ihren Kopf gegen scharfe Kanten, drückte Zigaretten auf den Handflächen aus. Sie wollte brennen, sie wollte sterben, sie wollte ihr Überleben nicht überleben. „Nach der Welle“ heißt ihr Buch, das ich beim Anflug auf Banda Aceh aus der Hand lege. Sonali Deraniyagala wurde von der Welle auf Sri Lanka zerstört, nicht in Banda Aceh. Aber ich nehme an, dass es dort unten, zwischen den gefluteten Reisfeldern, hinter den neugepflanzten Mangrovenwäldern, unter den blauen Dächern der Neubausiedlungen, rings um die Moscheen, deren Kuppeln glänzen, ebenfalls viele Sonalis gibt, denen auch jetzt, zehn Jahre danach, kein Trauma-Experte helfen kann, zu vergessen. Das ist nur nicht zu sehen und wird die dunkle Seite dieser Katastrophe bleiben.
Von der Kultur des Gebens
Zum Glück gab und gibt es auch eine hellere Seite der Geschichte, und mit ihr hat UNICEF ganz wesentlich zu tun. Und haben die Deutschen, die für UNICEF spendeten, ganz wesentlich zu tun. Vermutlich jeder zweite Bundesbürger entdeckte damals, was man die „Kultur des Gebens“ nennt. Und so folgte auf den 26.12.2004 in Deutschland und weltweit auch ein „Tsunami menschlicher Solidarität“, wie es der britische Historiker Timothy Garton Ash ausdrückte. Etwas, das zumindest kurzfristig an eine Globalisierung der Mitmenschlichkeit glauben ließ, auch wenn es wie ein zu schöner Traum erscheint, der den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler von einem „Wendejahr zum Guten“ sprechen ließ. Und es zweifelhaft ist, ob Peter Sloterdijk richtig lag, als er von einer „Zäsur-Katastrophe“ sprach, einem Unglück, das das Verhältnis von reicher zu armer Welt für immer verändert habe.
Aber ich bin nicht nach Banda Aceh gekommen, um den großen Wörtern nachzuspüren, sondern um mir von jenen erzählen zu lassen, die die Mühen der Ebene zu bewältigen haben. Um zu reden mit der Schwedin Gunilla Olsson, die seit reichlich zwei Monaten die UNICEF-Repräsentantin in Jakarta ist, Mutter zweier Töchter und seit einem Vierteljahrhundert in verschiedenen Funktionen mit Armutsbekämpfung, politischen Reformen, nachhaltiger Entwicklung in diversen Ländern befasst.
Um zu reden mit dem Deutschen Michael Klaus, dem gegenwärtigen Kommunikationschef der 1948 gegründeten indonesischen UNICEF-Sektion, und ebenfalls mit reichlich Erfahrung in vielen Ländern ausgestattet, in denen das Leben der Mehrheit der Menschen auch ohne Naturkatastrophen wehtun kann.
Ich bin gekommen, um den Indonesier Zubedy Koteng zu begleiten, den 46-jährigen Spezialisten für Kinderschutz, der schon zehn Tage nach dem Tsumani für UNICEF nach Banda Aceh kam. Und um Umar bin Abdul Aziz bei der Arbeit zu erleben, den UNICEF-Chef im Regionalbüro Banda Aceh, einem von fünf field offices, die UNICEF in Indonesien neben der Zentrale in der Hauptstadt unterhält.
Enorm, was UNICEF gleich am Anfang bewältigte
Und ist es Zufall oder eine Selbstverständlichkeit in dieser Internationale der Helfer, dass es keine zwei Minuten braucht, um für alle Vier Sympathie und Vertrauen zu empfinden. Und Respekt. Die Sympathie kommt von ihrer umstandslosen Freundlichkeit, von ihrem Tempo, mit dem sie aufs Thema kommen, der Respekt zunächst aus dem Wissen um all das, was UNICEF unmittelbar nach dem monströsen Einbruch in das Leben der Bewohner von Banda Aceh geleistet hat. 770.000 Menschen wurden damals mit Medikamenten versorgt, 380.000 Kinder mit Vitaminen; mehrere Hunderttausend Kinder wurden geimpft, 690.000 Kinder mit Schulmaterial versorgt. Für über 200.000 Menschen wurden Latrinen gebaut. UNICEF, damals mit 300 Mitarbeitern vor Ort, half, über 1.600 Wasseraufbereitungsanlagen zu bauen oder zu reparieren, darunter sieben große Wasserwerke. Es war beteiligt an der Verteilung von Moskitonetzen zur Bekämpfung der Malaria, es schulte über 9.000 Hebammen und schulte etwa 2.400 Freiwillige im Erkennen von kindlicher Mangelernährung; es finanzierte die Fortbildung von rund 9.000 Lehrern und das Training von 1.300 Müttern und Vätern für Elternkomitees, es stattete 600 Krankenhäuser und Gesundheitsstationen mit Equipment aus – eine Liste, die sich fortsetzen ließe.
Nicht weinen, nicht inaktiv werden!
Und eine Liste, die fortgesetzt werden muss. Warum, das veranschaulicht Michael Klaus gleich bei unserem ersten Treffen - nachdem wir zehn Minuten zuvor eines der Massengräber von Banda Aceh passiert haben, Gedenkstätte für 47.000 Opfer - mit einer Statistik des Elends.
Das 240-Millionen-Land Indonesien, von seiner Ausdehnung etwa so groß wie die USA, hat weltweit die dritthöchste Rate an nicht geimpften Kindern. Hat weltweit die fünfhöchste Rate an mangelernährten Kindern, paradoxerweise zugleich schon fast drei Millionen Kinder mit Übergewicht. Es hat, obwohl zu den middle income- und nicht mehr zu den ärmsten Ländern zählend, die achthöchste Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren, eine fatale Zahl an Kindern ohne Geburtsregister, noch immer 2,5 Millionen Kinder ohne Schulausbildung – und mindestens zwei Millionen Kinder, die hart arbeiten müssen. Im Landesschnitt sind 25 Prozent der Mädchen schon vor Erreichen des 18. Lebensjahres verheiratet, Opfer häuslicher Gewalt sind schätzungsweise mindestens zehn Prozent der Kinder.
Horrorzahlen, die für die Provinz Banda Aceh vielfach noch gruseliger ausfallen, auch wenn etwa die Hälfte der insgesamt 695 Millionen US-Dollar von UNICEF zur Bewältigung der Tsunami-Katastrophe allein nach Indonesien geflossen sind; 52 Millionen kamen von Unicef Deutschland für die Tsunami-Opfer, noch einmal neun speziell für Indonesien. Aber wen der Zustand des Inselreiches zehn Jahre danach, wen besonders der Zustand der Kinder ins Kissen weinen ließe und inaktiv machte, der wäre hier fehl am Platz. Und deshalb weinen sie nicht, Gunilla und Michael, Zubedy und Umar, höchstens heimlich vielleicht, denn das building back better tragen sie als Auftrag in sich; ihr Job hat etwas von der unbedingten Passion, sich von den Verhältnissen nicht entmutigen zu lassen. Auch Banda Aceh, selbst Banda Aceh soll 2020 besser dastehen, als es 2000 war.
Im ersten "kinderfreundlichen" Gerichtssaal
Nur, wie macht man das? Und wie macht man es so, dass es auch irgendwo im fernen Europa, in den fernen USA und nach längst geschehenen weiteren Katastrophen, nach Haiti, Syrien, Ebola weiterhin überzeugt, Indonesien nicht zu vergessen? Die Weltgemeinschaft wäre gerührt, würde sie UNICEF-Helfer beim Errichten von Zelten sehen, beim Bewegen von Wassertransportern, beim Verteilen von Babynahrung. Zehn Jahre nach der Welle aber ist das Wirken des UNICEF-Teams auf Sumatra zumindest auf den ersten Blick unscheinbar, nicht telegen. Ein Beispiel: unsere Visite im Distriktgericht von Banda Aceh.
Wir treten in ein verwinkeltes Gebäude mit kleinen Innenhöfen, ein Tropenschauer prasselt auf die Dächer, eine Gruppe von Offiziellen führt uns in einen Gerichtsraum, der unspektakulär wirkt, aber indonesische Avantgarde darstellt: Es ist der erste „kinderfreundliche“ Gerichtssaal des Landes. Und Ergebnis einer gezielten Anstrengung von UNICEF. Nur ein Richter, nicht drei sitzen hier bei Verhandlungen. Und sie thronen nicht hoch über den Angeklagten und nicht mit sieben Meter Abstand zu ihnen, sondern eher auf Augenhöhe und in kurzer Distanz, und die Angeklagten dürfen nun einen Anwalt mitbringen. Die Möbel sind ohne Kanten, die Wände in freundlicher Farbe gestrichen. Vor der Tür blüht Oleander.
Wichtiger als dieser Raum, in dem pro Jahr etwa 20 Kinder abgeurteilt werden, ist aber etwas anderes. Es geht darum, Achtjährige, die etwas gestohlen haben, nicht mehr für strafmündig zu erklären. Zwölfjährige noch nicht mit Jugendstrafen zu belegen. Siebzehnjährige nicht mehr in Erwachsenengefängisse zu sperren. Es geht darum, kleine Straftaten nicht vor einen Richter zu bringen, sondern in einem Schlichtungsgespräch mit den Eltern und einem Dorfchef beizulegen. Und dies alles ist eine Revolution auch im Verständnis von Kindheit in der indonesischen Politik, in den indonesischen Behörden, nicht nur Reaktion auf die vom Tsunami ausgelösten Nöte vieler entwurzelter Minderjähriger. UNICEF Indonesien ist als maßgeblicher Verfechter eines entsprechenden neuen Jugendstrafgesetzes aufgetreten, gültig ab 1. August 2014, und es co-finanziert ein Schulungsprogramm für Polizisten, Ermittler, Richter, Anwälte und Sozialarbeiter, das sie eine andere Art des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen lehren soll. Den mind set, die Geisteshaltung ändern, nennt Zubedy, um was es dabei geht.
„Kinder gehören in die Familie, die Schule und die Gemeinschaft“ steht auf einem Poster im mediation room des Distriktgerichtes, der mit Teppich und Teddybären ausgestattet ist, mit Harry-Potter-Büchern, Kunstblumen und Sofas. „Sex mit Kindern ist ein Verbrechen“ ist auf einem anderen Plakat zu lesen. Ein guter Anfang ist dieser Raum, ist dieses Gericht, mehr noch nicht, aber auch nicht weniger: ein hoffentlich erfolgreiches Pilotprojekt in einem Land, in dem 85 Prozent der verurteilten Kinder bislang in Gefängnissen landen, die man nicht einmal besuchsweise von innen gesehen haben möchte, 60 Prozent von ihnen mehr als ein Jahr. Das zu ändern, sagt Ainal Mardiah, Chef des Distriktgerichtes, mache ihn glücklich.
Ein kleines Glück, das aus dem großen Unglück wuchs, denn es waren die Kinder von Banda Aceh, eben jene, die aus den Trümmern zu retten waren, die zum Nachdenken zwangen. Sollte man sie, die Zerstörten, in den Fängen der Justiz noch einmal zerstören? Auf dem Weg zum nächsten Treffen halten wir an einem zweiten Massengrab. Es hat damals drei Monate gedauert, alle Körper aus den Trümmern zu bergen. 14.264 Leichen liegen hier unter dem gewellten Grün, aufgeteilt nach Erwachsenen und Kindern. Namenlos. Schmucklos. Trostlos. Dahinter die Ruinen eines am 26. Dezember 2004 gefluteten Hospitals. Gunilla streut Blüten auf das Kindergrab, es wird dunkel.
Very, very important partners
Das Restaurant an der Brackwasserbucht ist riesig und leer. Es riecht faulig, es ist einer dieser Abende, an denen Gunilla Olsson, neu in Indonesien, aber alles andere als neu in Geduld und Diplomatie, „all our very, very important partners“ auf Herzlichste zu begrüßen hat. Sie kommen in großer Zahl: Vertreter aus der Planungsstäben von Banda Aceh, aus den Büros für Erziehung, Gesundheit, Wohlfahrt, Frauen und Kinderschutz. Gunilla lobt die exzellente Kooperation, auf die das inklusive der Fahrer nur achtköpfige UNICEF-Team in Banda Aceh auch angewiesen ist, sie spricht von der Inspiration, die von Banda Aceh auf das ganze Land ausgehe. Auf ein Land, das nach Indien die zweithöchste Zahl an Menschen hat, die nicht einmal eine Latrine zur Verfügung haben: 55 Millionen müssen sich hinter der Hütte, auf Feldern und an Wasserläufen erleichtern, weshalb die Verbesserung der Sanitärsituation ebenso zu den UNICEF-Zielen zählt wie Kinderschutz, frühkindliche Entwicklung, Geburtenregistrierung und kommunale Gesundheitszentren. Und die Provinz Banda Aceh, nicht nur die Stadt, ist tatsächlich der Ort, an dem UNICEF die vom Disaster bewegten Behörden schon weiter getrieben hat als anderswo.
Dann folgen, Müdigkeit spielt keine Rolle, viele Charts. Die Armutsquote von 28,69 Prozent im Jahre 2005 auf 19,49 Prozent sieben Jahre später gesenkt. Die Alterspyramide: noch wie ein Weihnachtsbaum. Die Impfquoten gegen Hepatitis B und Polio: bei über 80 Prozent. Aber: 30 Prozent der Geburten nicht registriert. Häusliche Gewalt: nicht besiegt. Aussteigerquote aus der Schulen: viel zu hoch. Und in einzelnen Distrikten der Provinz sind schon 60 Prozent der Mädchen verheiratet, bevor sie achtzehn sind. Vier bis fünf Kinder haben die Familien hier durchschnittlich noch, der Regierungsparole „Zwei sind genug“ zum Trotz. Auch die Vortragenden gestehen, die to-do-Liste sei ellenlang. Und dann sagt einer etwas, das auch unübersetzt verständlich ist: reformasi birokrasi sei angesagt, die Reformierung der Bürokratie.
Es ist 22 Uhr, als die Versammlung sich auflöst. War es ein Tag wie jeder andere für das indonesische UNICEF-Team? Wohl nicht, weil es Besuch aus Deutschland, mich, im Schlepptau hat. Und den norwegischen Generalsekretär Bernt Gudmund Apeland und seine Kollegin Helene Sandbu Ryeng, die wenige Tage später für drei Monate nach Liberia gehen wird statt auf die eigentlich geplante Hochzeitsreise. Und doch vermutlich auch ein typischer Tag für Zubedy und Umar, ein Marathon aus Gesprächen, Verhandlungen, Supervision.
Am nächsten Tag werden wir Kinder treffen.
Peter-Matthias Gaede
Reisetagebuch Peter-Matthias Gaede
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