Reisetagebuch Indonesien - Tag 2
Von einer Frau, die alle Kinder liebt, und von der glücklichen Rückkehr einer Verschollenen. Vom Wert des Wassers, und was ein Puspelkessos kann. Tag zwei mit dem UNICEF-Team Indonesien.
Noch nie in meinem Leben, nicht in 20 Ländern, aus denen ich berichtet habe, bin ich als Fremder so zärtlich begrüßt worden wie im Kindergarten von Jantho. Sie nehmen die Hand, die man ihnen reicht, ganz vorsichtig und sanft in ihre Hände. Sie führen sie an ihre Wange, sie führen sie an ihre Stirn oder küssen sie so behutsam, als sei sie aus hauchdünnem Glas. Es ist ein Moment, in dem man vor Rührung heulen könnte. Bauklötzchen haben sie und Knete, Luftballons und Teddys und Kreide. Bundstifte und ein kleines Xylophon haben sie und ein Spielzeugtelefon, und Girlanden hängen über ihren Köpfchen. Einmal im Monat werden sie gemessen, ihre Größe, ihr Armumfang, ihr Gewicht. Im Garten können sie auf einer Wippe juchzen oder auf einer Schaukel. Oder klettern. Und sie bekommen etwas zu essen. Sie können glücklich sein.
Es sind 33 kleine Mädchen und Jungen im Vorschulalter, zwei bis sechs Jahre, und es ist nicht selbstverständlich, dass sie nicht am Rande der Reisfelder sitzen oder neben den Marktständen der Eltern, sondern, betreut von fünf jungen Frauen, Lieder singen und lernen können, bis zehn zu zählen und zu schreiben und zu malen. Und unbeschwert zu sein.
Nach dem Tsunami hat UNICEF 21 children’s centers errichtet, in denen traumatisierte Kinder psychologische Betreuung erhielten; und in denen Suchdienste etabliert wurden für jene Jungen und Mädchen, die durch die Flut von ihren Eltern getrennt worden waren. Inzwischen dienen die Zentren dem early childhood development, einem Konzept der frühkindlichen Entwicklung, das unter anderem helfen soll (und es sicher tun wird), nach der Einschulung, die in Indonesien erst mit sieben erfolgt, die hier chronisch hohen Abbrecherquoten zu reduzieren.
Jantho, das ist eine der Siedlungen für obdachlos gewordene Tsunami-Opfer, erbaut von der International Organization for Migration (IOM), eine Autostunde von Banda Aceh entfernt. 2.000 Familien aus der überschwemmten Stadt wohnen nun hier. Jantho liegt am Fuße jener Berge, aus denen drei Jahrzehnte lang die Guerilla der GAM, der Bewegung freies Aceh, vorstieß.
Eine junge Frau baut einen Kinderhort
Dass es den Kinderhort von Jantho nun gibt, ist außer UNICEF einer jungen Frau namens Rosna zu verdanken. Und eines der kleinen Wunder von Banda Aceh. Denn Rosna wäre unter den Todgeweihten gewesen, hätte sie nicht eine Fernsehsendung gesehen, die sie warnte. Es war eine Sendung über seismische Erschütterungen, und die fühlte sie am 26. Dezember 2004 so rechtzeitig, dass sie ahnte, was über sie kommen würde. Sie floh, als sie die Erde beben spürte, sie war in der 17. Woche schwanger, sie schaffte es, die damals dreijährige Tochter Rachmina an der Hand, auf einen Hügel, traf dort auch ihren Mann Johansyah wieder. Innerhalb von Minuten war Rosnas gesamte Habe in den stinkenden, brüllenden Fluten untergegangen, nicht aber sie. Sie bekam ein Zelt.
Und in diesem Zelt schon wuchs Rosnas Plan, sich für das Überleben zu bedanken. So arbeitete sie zunächst als Freiwillige in einem der Kinderzentren und entschloss sich später, auf ihrem privaten Grund einen seit 2007 von UNICEF unterstützten Hort zu errichten; einen von sechs in der Region, den nun auch die regierungsamtliche Wohlfahrt fördert. Einen, für den UNICEF das Training freiwilliger Helferinnen übernommen hat. Einen, der dazu beiträgt, dass die frühe Förderung 2013 in der Provinz Aceh schon 42 Prozent der Kinder erfasste, während sie das landesweit nur bei 30 Prozent der Kleinen schafft.
In Rosna scheint die gesamte positive Energie einer starken Optimistin versammelt zu sein. Wer sie vor den Jungen und Mädchen an den niedrigen Tischchen bei ihren Motivationsübungen sieht, könnte sie für die Dirigentin einer mitreißenden Oper halten, ihre Hände fliegen und tanzen und verzaubern die Luft, ihr Lachen, ihr Klatschen macht aus 33 armen Kindern 33 Kinder, die für Augenblicke über allen Wolken zu schweben scheinen. Und wieder könnte man weinen vor Ergriffenheit, wenn man in die Gesichter schaut.
280 solcher Horte gibt es inzwischen in der Provinz Aceh, 300 weitere werden gebraucht. Aber nicht so sehr an den Steinen für sie fehlt es, mehr noch an den human resources, mehr noch an der Ausstattung mit Spiel- und Lernmaterial. Eine Aufgabe für UNICEF. Eine Einladung für Spender.
Der Kinderhort von Jantho, eine Autostunde von Banda Aceh entfernt und von UNICEF unterstützt. Ibu Rosna, die Leiterin, motiviert hier Jungen und Mädchen im Vorschulalter zum Lernen, Lachen, Singen.
Sie arbeiten hart. Und bescheiden
Auf dem Rückweg in die Stadt: Gedanken über Not- und Entwicklungshilfe. Was sie falsch machen kann, ist vielfach beschrieben. Zuletzt an Haiti nach dem Erdbeben-Desaster: 400 und mehr herbeistürzende NGOs, Nicht-Regierungs-Organisationen, die sich gegenseitig auf den Füßen herumstehen. Etwa 400 waren es auch in Banda Aceh. Die Katastrophe der guten Absichten, wenn zwischen den professionellen Helfern auch „MoNGOs“ auftauchen, jene „desaster groupies“, die als my own NGO dazwischenfunken, ohne jede Ahnung von den lokalen Kulturen und Gegebenheiten. Dann jene, die auf den CNN-Gehalt ihrer Aktionen abzielen, die Steine nur schleppen, wenn TV-Kameras in der Nähe sind und jeder ein frisches T-Shirt mit Hilfslogo am Leibe trägt, um im „Schönheitswettbewerb der Geber“ zu siegen. Dann jene, die nicht wissen, wohin mit dem Spendengeld und lieber schnell als vernünftig bauen. Auch in Banda Aceh stehen ganze Siedlungen leer; deren Leichtbauweise wird längst von Termiten zerfressen, leer auch ein Hospital, das niemand brauchte. Dann jene, die ohne Ahnung kommen und ohne das Wissen in die Notwendigkeit, mit der Politik vor Ort kooperieren zu müssen, so schwer es auch manchmal fallen mag. Dann jene „Moral-Ökonomie“, die ihre Versprechen nicht hält, ihr Geld nie überweist. Zu Beginn des 1. Weltkrieges gab es rund 1000 internationale NGOs, nach Schätzungen des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) sind es mittlerweile mehr als 37.000. 37.000, die nach der Legitimation ihres Daseins dürsten, aber totale ethische Desaster wie etwa im zairischen Goma nicht verhindert haben, als dort eine Million Menschen vor dem Bürgerkrieg in Ruanda flüchteten – und keine Hilfe erhielten.
Und UNICEF? Weder Gunilla noch Michael noch Zubedy oder Umar sehen so aus, als würden sie sich Illusionen hingeben. Vermutlich gelingt auch ihnen nicht alles, aber sie fallen nicht in Großraumlimousinen in Vorzeigeprojekte ein. Sie kommen nicht wie die Sternenkrieger der guten Tat daher. Nicht wie die Befreier von aller Miserabilität. Sie arbeiten hart. Und bescheiden. Und können traurig sein. Und lachen. Und Rosna bewundern sie. Diese Frau, die verletzt und schwanger und mittellos der Flut entstieg. Die jahrelang jeden Tag 100 Kilometer auf dem Motorrad fuhr, Mutter zweier, dann dreier kleiner Kinder, um einen Abschluss in Erziehungswissenschaften zu machen.
Ibu Rosna tut Gutes, aber sie muss dafür werben
Wir fahren durch sattes triefendgrünes Land zurück, Wasserbüffel kreuzen unseren Weg, Kaffee und Tee und Kakao und Bananen werden hier angebaut neben dem Reis, in den Bergen sind es auch Marihuana-Kulturen, dann die Stadt: Werkstatt neben Werkstatt entlang aller Straßen, riesige Reklametafeln, ein Musikfestival wird angekündigt, Verkehrserziehung per Lautsprecher bei Rotlicht an den Ampeln, Schönheitssalons, neue Shopping Malls, volle Restaurants bis tief in die Nacht. Wer nicht weiß, was zu tun ist, könnte meinen, es sei hier nichts mehr zu tun.
Aber das täuscht. Und nicht einmal für die Menschengewinnerin Rosna war es einfach, wie sie uns erzählt, die Eltern für ihren Kindergarten zu gewinnen. Indonesien, nach Bevölkerungszahl das viertgrößte Land auf dem Globus und in der Gruppe der ersten Unterzeichner der UN-Konvention für die Rechte des Kindes, ist noch immer eine Welt großer Disparitäten: zwischen Arm und Reich, zwischen Java und den Inseln vor allem im Osten, zwischen Stadt und Land. In dieser Welt kann es sein, dass ein Konzept frühkindlicher Förderung hart arbeitenden Eltern als unnötiger Luxus erscheint. Das macht die Überzeugungsarbeit so nötig, wie sie Rosna leistet.
WASH – oder wie aus dreckiger Brühe gesundes Wasser wird
Am Nachmittag: WASH! In der Notversorgung mit Lebensmitteln, im Aufbau erster Feldschulen, als die Steinschulen zu Schutt und Schlammmasse geworden waren, im Kinderschutz hatte UNICEF nach der Katastrophe von Banda Aceh und hat es in anderen Katastrophen den lead, die Führung. Das ist eine traditionelle Absprache mit anderen Hilfsorganisationen, und es hat die Oberhoheit jedesmal auch in WASH. Übersetzt: in Wasser, Sanitärversorgung und Hygiene. 100.000 Menschen in den Auffanglagern wurden 2004 aus einem riesigen Truck, an UNICEF gespendet von Iveco, mit frischem Wasser versorgt. Nun, versorgt mit jeder Menge Wasser aus dem Himmel, stapfen wir durch den Matsch am Rande der Stadt, um uns eine der Anlagen anzuschauen, in denen aus ungenießbarem Brackwasser jene Tropfen wurden und werden, die den Opfern des Tsumani das Weiterleben schenkten und schenken. 160.000 Tote: Das war die Welle. Aber niemand, der sie überlebte, musste anschließend verhungern. Oder verdursten. Ein Erfolg, der alles andere als selbstverständlich ist. Und der nachhaltig ist. Denn inzwischen versorgt diese Wasserfabrik über 20.000 Familien dauerhaft. UNICEF, historisch die Milchpulver-Vergabestation, hat in den 1970er Jahren begonnen, auch Wasser zu vergeben.
In der Anlage, in der wir stehen, sind es 300 Liter pro Sekunde, gefiltert mit Polyprophylen, an die Ärmsten für zehn Cent pro 1.000 Liter abgegeben, an die Mittelklasse für knapp das Dreifache des Preises. „Wie lange wird im Notfall gestundet?“, fragt Gunilla. „Drei Monate“, wird ihr gesagt. Gunilla Olsson, UNICEF-Chefin aus Jakarta, ist nicht wirklich glücklich mit dieser Antwort. Aber sie kann die Welt nicht aus den Angeln heben, das weiß sie schon.
Vier Milliarden US-Dollar: das UNICEF-Budget für 155 Länder. Was nach viel klingt, ist nicht viel. Was man merkt, wenn man sieht, wie die Menschen hausen, die zehn Cent für 1.000 Liter Wasser zu bezahlen haben. Und im Monat soviel verbrauchen, wie unsereins an einem halben Tag. Manchmal, sagt Zubedy, fühle er sich erschöpft. Und frustriert. Und auch hilflos fühle er sich mitunter, das bleibe nicht aus. Aber wir fahren weiter. Nass von außen. Nass auf der Haut von unserem Schweiß. 33 Grad Celsius, Luftfeuchtigkeit vermutlich über 80 Prozent. Der Himmel grau.
Das Mädchen, das fortgespült wurde
Wir landen bei einem Lächeln. Das Lächeln kommt von Intan Afriati, die zehn Jahre alt war, als sie das Wasser auf einen Leichenberg spülte, auf dem sie überlebte. Anders als ihr Bruder überlebte. Ein junger Mann fand sie dort und nahm sie mit. Mit in den Süden, 13 Autostunden entfernt. Intans Vater war nicht mehr unter den Lebenden, Intans Mutter Nazariah suchte 30 Tage lang unter den Toten, sie betete, sie suchte nach den Ringen am Ohr eines Mädchenkörpers, wollte ihre Tochter nur wenigstens erkennen und begraben, bis mehrere Zufälle dazu führten, sie vom Leben der Kleinen zu überzeugen. UNICEF half Nazariah, ihre Tochter zu finden und nach hause zu holen. Es war Teil einer eindringlichen Ermunterung der Behörden durch UNICEF, möglichen Kinderhandel zu unterbinden und das Schicksal verlorener Kinder auf die Fahndungsliste zu setzen.
Und es ist eines dieser kleinen Häuser, 36 Quadratmeter, zwei Zimmer, Toilette mit kaltem Wasser, wie es nach der Todeswelle zu Zehntausenden von Hilfsorganisionen errichtet wurde, in dem uns Intan und ihre Mutter empfangen. Der Garten voller liebevoll arrangierter Stauden, im Stall barmen junge Ziegen um die Nähe ihrer Mutter, Enten und Gänse krakeelen, Intan lächelt aus ihrem kreisrunden Gesicht, eingerahmt von dem Kopftuch, das nun fast alle Mädchen im größten islamischen Staat der Erde tragen. Nachdem sie von ihrer Mutter gefunden wurde, lebte sie zunächst in einem Zelt, was sie nicht weiter schlimm fand, denn sie sei ja sehr klein, dann in Baracken, dann bei ihrer Großmutter, schließlich seit 2008 in dem neuen Haus.
Intan studiert im dritten Semester, sie ist selbstbewusst, sie ist unbeschädigt, sie wacht über das Wohlergehen ihrer Mutter, sie wird es schaffen. Sie fertigt akribische Bleistiftzeichnungen von ihrer Schwester und von Britney Spears, trinkt süße Limonade und verabschiedet sich mit ebenso zärtlichen wie fröhlichen Küssen von ihrer Mutter, um in die Universität zu fahren. Auf unserem Plan dagegen: das „Puspelkessos“ Mesjid Raya, ein social service center für Jugendliche.
Ein Schulgebäude, ein asphaltierter Sportplatz, eine große leere Halle. In ihr lassen wir uns auf dem Sitzteppich in der Mitte nieder, umringt von Sozialarbeitern, und wie so oft sind Uniformierte dabei, Vertreter der Provinzbehörden. In Sozial-Zentren wie diesem sollen Probleme bewältigt werden; von hier aus wird Straßenkindern bei der Re-Integration geholfen, soll Gewalt in Schulen und Familien vermindert werden, aber auch Kinder unter fünf und Alte werden hier betreut. Für 13 Dörfer ist das Puspelkessos zuständig, und auch hier macht sich UNICEF dafür stark, die Qualifikation der Sozialarbeiter zu verbessern. 25 Prozent der nach 2004 erhaltenen Mittel sind in den ersten fünf Jahren darauf in psychosoziale Betreung und Gewaltprävention geflossen, je 20 Prozent in Gesundheit und Ernährung, 35 Prozent in Schulen. Jetzt, in der Phase des Übergangs zur Initiierung nachhaltiger Veränderungen, ist es vor allem wichtig für UNICEF, freiwillige und staatlich bestellte Sozialarbeiter zu vernetzen und ihre Qualifikation zu verbessern, Standards zu setzen.
Ob sie feststellen könnten, ob häusliche Gewalt zu- oder abnehme, fragt Gunilla in die Runde, nachdem wir eine zähe Stunde lang auf indonesische Charts gestarrt haben, deren Inhalt uns Zubedy übersetzt. Es gebe mehr berichtete Fälle, lautet die Antwort, was aber daran liegen könne, dass sich die Aufmerksamkeit erhöhe und die Tabuisierung falle. Ob sich sexuell missbrauchte Kinder an jemanden wenden könnten, oder ob sie darauf angewiesen seien, als Opfer entdeckt zu werden, fragt Gunilla. Die Antwort fällt unklar aus, eine Nottelefonnummer für Betroffene gebe es noch nicht, man sei auf Vertrauensaufbau angewiesen.
Sie haben noch einen langen Weg vor sich, die UNICEF-Mitarbeiter: Das wird bei solchen Begegnungen klar. Und dieser Weg könnte bis zur Beteiligung an Nichtraucher-Kampagnen führen. Nicht einmal vorrangig, um die Lungen der rauchenden Väter zu schützen. Sondern um sie davon abzuhalten, am Geld für die Ernährung ihrer Kinder zu sparen, um sich die Zigarette leisten zu können. Denn zu rauchen, öffentlich am Abend im Café vor und mit Freunden, ist eine Prestige-Angelegenheit.
Manchmal, sagt Zubedy, wünsche er sich, dass die Zahl der Lösungen höher sei als die Zahl der Probleme.
Aber für den nächsten Tag ist etwas sehr Schönes versprochen.
Peter-Matthias Gaede
Reisetagebuch Peter-Matthias Gaede
» Tag 1: Von großen Zahlen und kleinen Schritten.
» Tag 2: Von einer Frau, die alle Kinder liebt, und von der glücklichen Rückkehr einer Verschollenen.
» Tag 3: Von einer Schule, die nicht mehr zu erschüttern ist.
» Tag 4: Von einem Museum für die Trauer.