Neue UNICEF-Studie zur Situation von abgeschobenen und rückgeführten Kindern
Stilles Leid: Kinder leiden unter schweren psychosozialen und gesundheitlichen Problemen
Bei Abschiebungen oder Rückführungen von Flüchtlingen und Migranten werden das Kindeswohl und die seelische Gesundheit von Kindern nicht ausreichend beachtet. Dies ist das alarmierende Ergebnis der UNICEF-Studie „Stilles Leid“. Hierfür hat ein internationales Team aus Psychologen, Ärzten und Sozialwissenschaftlern 164 Jungen und Mädchen sowie 131 Eltern befragt. Sie waren 2010 aus Deutschland und Österreich – meist gegen ihren Willen – in den Kosovo zurückgebracht worden.
Die systematische Untersuchung der Heranwachsenden und ihrer Familien zeigt: Viele leider unter schweren psychosozialen und gesundheitlichen Problemen:
- Fast die Hälfte aller Jugendlichen (44,2 Prozent) leidet an Depressionen, ein Viertel (25,5 Prozent) berichtet von Gefühlen der Hoffnungslosigkeiten und ein Fünftel (19,1 Prozent) empfindet das Leben als nicht lebenswert.
- Ein Viertel (25,5 Prozent) hat Selbstmordgedanken, was in einer Region mit traditionell niedrigen Selbstmordraten außerordentlich hoch ist.
- 40 Prozent der Mädchen zwischen 6 und 14 Jahren hat große soziale Probleme, ein Drittel (33 Prozent) zeigt Symptome einer klinischen Depression, 35,2 Prozent leiden unter Angstzuständen.
- Jedes dritte Kind zwischen 6 und 14 Jahren (29 Prozent) und jeder dritte Jugendliche (30,4 Prozent) in der Befragung leidet unter klinisch nachweisbaren posttraumatischen Belastungsstörungen und benötigt dringend psychiatrische Hilfe.
- Zwei Drittel der befragten Kinder gehören einer ethnischen Minderheit an. Diskriminierung, Sprachbarrieren, fehlende soziale und psychologische Unterstützung im Kosovo verstärken die psychologischen Probleme.
„Bei allen Entscheidungen über Abschiebungen, von denen Kinder betroffen sind, müssen das Wohl jedes einzelnen Kindes und seine Gesundheit im Mittelpunkt stehen“, sagte Tom Koenigs, UNICEF-Vorstand und Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, bei der Vorstellung der Studie in Berlin. „Kein Kind darf zurückgeführt werden, wenn seine gute körperliche und seelische Entwicklung nicht sichergestellt sind.“
„Rückführungen“ ins Abseits
Aus den Staaten der Europäischen Union wurden allein in 2010 mehr als 220.000 Migranten und Asylsuchende in ihre Herkunftsländer zurückgeführt – über 600 am Tag. Eine Vielzahl von Richtlinien soll dabei das Wohl betroffener Kinder, die Achtung familiärer Bindungen und der Gesundheit sicherstellen. Doch in der Praxis spielen die besonderen Gefährdungen und Bedürfnisse der betroffenen Kinder und Jugendlichen oftmals kaum eine Rolle – so zum Beispiel im Rückführungsabkommen, das die deutsche Bundesregierung im Jahr 2009 mit dem Kosovo abgeschlossen hat. Danach sollen insgesamt 12.000 Roma, Ashkali und „Ägypter“, die im Schnitt bereits 14 Jahre in Deutschland leben, zurückgeführt werden. Darunter sind etwa 5.000 bis 6.000 Kinder und Jugendliche. Die meisten von ihnen sind in Deutschland geboren und gehen hier zur Schule.
Für die meisten von ihnen bedeutet die „Rückführung“ in den Kosovo eine Abschiebung ins Abseits. Viele gehen dort nicht zur Schule und leben am Rand der Gesellschaft. Gleichzeitig leiden die Kinder und Jugendlichen – so die aktuelle UNICEF-Studie – im Stillen unter erheblichen psychologischen Beschwerden und gesundheitlichen Problemen.
Wie Kinder und Jugendliche Abschiebungen erleben
Die Heranwachsenden beschreiben die oftmals nächtlichen Abschiebungen als traumatisch.
- Jedes zweite Kind und jeder zweite Jugendliche beschrieb seine Rückkehr als das schlimmste Erlebnis seines Lebens (54,9 Prozent), ein weiteres Viertel beschrieb sie als „sehr schlimm“ (27,2 Prozent).
- Vor allem jene, die zwangsweise zurückgeführt worden waren (65,4 Prozent der Kinder und Erwachsenen), erlebten dies als den schlimmsten Augenblick ihres Lebens.
„Wir wurden zur Rückkehr gezwungen“, erzählt ein Mädchen. „Sie kamen nachts um 1 oder 2 Uhr und klopften an die Tür. Das war die ständige Angst, die ich immer im Schlaf hatte! (…) Ich wusste nicht, wo ich hingehen werde. Ich kannte den Ort, an dem ich ankommen würde, nicht. Ich hatte das Wort ‚Kosovo‘ schon gehört, wusste aber nicht, was für ein Ort das war.“
Ein anderes Mädchen berichtet, wie sie sich erinnert. „Dann habe ich Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und Magenschmerzen. Ich zittere und werde ohnmächtig. Wenn das passiert, sehe ich gar nichts mehr, da ist nur noch diese schwarze Wand vor mir. Das passiert, wenn ich an die Abschiebung denke und es dauert ungefähr eine halbe Stunde.“
Ein 13-jähriger Junge geht jede Nacht mit der Angst zu Bett, „wann sie kommen werden“. Wann immer er an seine Rückkehr erinnert wird, „fange ich an zu zittern und zu schwitzen“ und „fange an, einfach zu schreien. Ich gehe raus, um nur nicht zu Hause zu bleiben, und um mich irgendwo abzuregen. (…) Ich laufe in die Stadt, weil ich zu viel Angst habe, um zu Hause zu bleiben….“
Schon vor der Abschiebung waren viele dieser Heranwachsenden und ihre Eltern bereits schweren Belastungen ausgesetzt – während des Krieges auf dem Balkan, durch ihr zeitweises Leben in der Illegalität und langjährige Diskriminierung. Nach ihrer Rückkehr in den Kosovo fehlt es dort an sozialer Unterstützung. Die Kinder und Jugendlichen sind fremd und isoliert. Insbesondere die zwangsweise rückgeführten Kinder und Jugendlichen brauchen dringend psychiatrische und kinderpsychologische Hilfe. Diese steht im Kosovo jedoch nicht zur Verfügung.
UNICEF-Empfehlungen
UNICEF ruft angesichts der Ergebnisse der Untersuchung dazu auf, die Rechte der Kinder und ihre besonderen Schutzbedürfnisse bei Abschiebungen und Rückführungen jederzeit sicher zu stellen:
- Bei allen Entscheidungen über Rückführungen, von denen auch Kinder betroffen sind, muss das Wohl jedes einzelnen Kindes im Mittelpunkt stehen.
- Die seelische Gesundheit der Kinder muss besonders berücksichtigt werden.
- Rückgeführte Kinder und ihre Eltern brauchen unkomplizierten und ungehinderten Zugang zu einer psychiatrischen und psychologischen Gesundheitsversorgung.
- Abgeschobene oder rückgeführte Kinder brauchen umfassende Hilfe bei der Wiedereingliederung.
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Weitere Informationen und die vollständige Untersuchung zum Download finden Sie hier: