Leistungsstark, aber unglücklich?
UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Industrieländern 2013
Nach der heute veröffentlichten internationalen UNICEF-Vergleichsstudie zur Lage der Kinder in Industrieländern hat sich das Lebensumfeld für Kinder in Deutschland insgesamt deutlich verbessert. Deutschland liegt auf Platz sechs der Industrienationen, wenn Lebensbedingungen wie relative Armut, Gesundheit oder Bildung der jungen Generation bewertet werden. So erreichen deutsche Schüler bessere Werte bei den PISA-Tests und rauchen deutlich seltener.
Im Kontrast zu diesen positiven Entwicklungen steht allerdings die subjektive Sicht der Jugendlichen in Deutschland auf ihre Lebenssituation. Bei der Selbsteinschätzung der Lebenszufriedenheit von Mädchen und Jungen fällt Deutschland dagegen tiefer ab als jedes andere untersuchte Land – und zwar auf Platz 22 von insgesamt 29 untersuchten Ländern. Jeder siebte Jugendliche in Deutschland ist mit sich und seiner Situation eher unzufrieden.
„Die deutschen Mädchen und Jungen stellen damit sich und ihrer Umgebung ein erschreckendes Zeugnis aus, das uns nachdenklich machen muss“, sagte Professor Hans Bertram von der Humboldt-Universität Berlin und Mitglied des Deutschen Komitees für UNICEF.
„Die einseitige Konzentration auf Leistung und formalen Erfolg führt dazu, dass sich viele Kinder und Jugendliche ausgeschlossen fühlen. Unsere an Ressourcen reiche Gesellschaft versagt offensichtlich dabei, allen Mädchen und Jungen Hoffnung und Perspektiven auf gerechte Teilhabe zu geben.“
Der Vorsitzende von UNICEF Deutschland Dr. Jürgen Heraeus betonte, dass die Untersuchung die Lage der Kinder so umfassend wie möglich abbildet. „Die Studie zeigt, dass die Politik sich nicht allein auf vermeintlich objektive Daten verlassen sollte. Wir müssen Kindern und Heranwachsenden besser zuhören und ihnen mehr Möglichkeiten zur Mitgestaltung eröffnen.“
Die UNICEF-Vergleichsstudie 2013
Erstplatziert im internationalen Vergleich sind – wie schon in den vorherigen UNICEF-Studien – die Niederlande:
Das Land schneidet in allen fünf Dimensionen des kindlichen Wohlbefindens am besten ab – und diese gute Situation spiegelt sich auch in der Selbsteinschätzung von Kindern und Jugendlichen. Auch die skandinavischen Länder Norwegen, Island, Finnland und Schweden schneiden im Durchschnitt aller Dimensionen besser als Deutschland ab. Rumänien bildet in allen Dimensionen das Schlusslicht der Ranglisten.
Die neue Studie des UNICEF-Forschungsinstituts Innocenti in Florenz knüpft an frühere Untersuchungen an, in denen die Lage der Kinder in Industrieländern anhand von sechs Dimensionen verglichen wurde. 2007 schnitt Deutschland dabei insgesamt nur mittelmäßig ab. Nun wurde das frühere Konzept variiert. Die neue Studie analysiert zunächst die Daten der fünf Dimensionen materielles Wohlbefinden, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Verhalten und Risiken sowie Wohnen und Umwelt und blickt dann – in einem zweiten Teil – gesondert auf das subjektive Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen.
So ergibt sich das zweigeteilte Bild: In den ersten fünf Dimensionen schafft es Deutschland nun in die Spitzengruppe, hinter den Niederlanden und den skandinavischen Ländern. Fragt man die Jugendlichen nach ihrer Lebenszufriedenheit, stürzt Deutschland in das untere Drittel der Rangliste ab. Grundlage der Analyse sind die neuesten erhältlichen Daten von Eurostat, OECD, PISA, Weltgesundheitsorganisation und Weltbank. Sie beziehen sich auf die Jahre 2009/2010 – durch die Notwendigkeit, verschiedenste nationale Datenerhebungen vergleichbar aufzubereiten, ergibt sich eine zeitliche Verzögerung von zwei bis drei Jahren.
Kindliches Wohlbefinden – die wichtigsten Ergebnisse aus deutscher Sicht
Deutschland ist bei der Bildung in die Spitzengruppe auf Platz 3 vorgerückt – hinter den Niederlanden und Belgien, knapp gefolgt von Finnland. Deutsche Schüler haben bei den neueren PISA-Tests ihre Leistungen deutlich verbessert – beim Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften. Zudem erfasst das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem mehr Jugendliche als im Durchschnitt der europäischen Länder. 96 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren befinden sich in Schule oder Ausbildung. In Spanien und Italien gingen dagegen bereits 2009/10 mehr als zehn Prozent der Jugendlichen unter 19 Jahren weder zur Schule noch hatten sie eine Lehrstelle.
In keinem der anderen 28 Länder hat sich der Anteil der Jugendlichen, die rauchen, in den vergangen Jahren so deutlich reduziert wie in Deutschland. Mädchen und Jungen hierzulande konsumieren auch Alkohol und Cannabis deutlich seltener. Die früher bereits niedrige Zahl von Teenagerschwangerschaften ist noch weiter gesunken. Vorbildlich ist zudem die besonders niedrige Gewaltbereitschaft. In Kontrast hierzu steht die eher negative Selbsteinschätzung vieler Heranwachsender. Deutsche Kinder sind zudem deutlich häufiger übergewichtig als früher.
UNICEF-Schlussfolgerungen
- Kampf gegen Kinderarmut gezielt verstärken: Der Mittelplatz im internationalen Ranking darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es innerhalb Deutschlands große Unterschiede bei der relativen Kinderarmut gibt. Mit einer nationalen Agenda gegen Kinderarmut muss die Politik ihre Anstrengungen verstärken, gezielt die wirtschaftlich schwächsten Familien zu unterstützen – und das sind in Deutschland vor allem die Alleinerziehenden.
- Kindergesundheit fördern: Die Vergleichsstudie zeigt, dass man Übergewicht bei Kindern erfolgreich entgegenwirken kann. In Belgien, Frankreich, Spanien und Großbritannien sank der Anteil übergewichtiger Jugendlicher zum Teil deutlich. Deutschland hat diese Trendwende noch nicht geschafft. Sport und Bewegung sowie ausgewogene Ernährung müssen hierzulande einen höheren Stellenwert erhalten. Kindergärten und Schulen sollten dem gesundheitsorientierten Sportunterricht sowie gesunder Ernährung mehr Zeit einräumen.
- Kinder und ihre Rechte stärken: Politik, Medien und Forschung dürfen Kinder nicht ausschließlich aus der Perspektive ihrer Leistungsfähigkeit beurteilen. Das Wohlbefinden von Kindern und ihre Rechte müssen zur Richtschnur der Politik von Bund, Ländern und Gemeinden werden. Wichtig ist es, allen Kindern Möglichkeiten zur Teilhabe zu eröffnen. Insbesondere die Kommunen haben die Aufgabe, für mehr Kindergerechtigkeit und Kinderfreundlichkeit im Alltag zu sorgen.