Migrierte Kinder in Agadez: Gestrandet im Nirgendwo
Die Wüstenstadt Agadez in Niger war einst eine Drehscheibe für Handel, Migration und Menschenschmuggel. Sie diente vielen Migranten als Zwischenstopp auf ihrem Weg nach Libyen, Algerien und weiter nach Europa. Trotzdem fand sie wenig internationale Beachtung. Doch seitdem Europa und mehrere Länder im nördlichen Afrika verstärkt ihre Grenzen überwachen, hat sich die Lage dort verändert.
Jetzt ist die Stadt für viele Menschen zur vorläufigen Endstation ihres gefährlichen Weges geworden.
Immer gefährlichere Wege
Seit November letzten Jahres wurden mehr als 8.000 Menschen aus Westafrika von Algerien nach Niger zurückgeschickt, darunter 2.000 Kinder. Neunhundert weitere Menschen aus Ostafrika wurden von Libyen nach Niger gebracht, wo sie nun auf Neuigkeiten ihrer Aufnahme in einen Drittstaat oder der Familienzusammenführung hoffen müssen. Für Kinder und Jugendliche ist die Lage in Agadez besonders gefährlich. Sie sind weitgehend schutzlos sich selbst überlassen.
"Die Gesetzesverschärfungen haben die Situation im Land verändert. Wir beobachten einen enormen Anstieg von Kindern, die ohne Begleitung unterwegs sind. Diejenigen, die sich auf den Weg machen, nutzen Routen, auf denen sie nicht entdeckt werden können, die weit, weit gefährlicher sind", sagt Dan Rono, Kinderschutz-Experte bei UNICEF. "Es ist eine harte Reise für einen Erwachsenen, also kann man sich vorstellen, dass es für ein Kind fast unmöglich ist."
Allein unterwegs
Für Kinder ist die gefährliche Reise kaum zu schaffen. Doch allein letzten April sind 14 Prozent mehr Menschen durch Niger gereist als im vorherigen Monat – schätzungsweise 500 Menschen pro Tag, darunter ein Drittel Kinder. Die tatsächliche Zahl der Minderjährigen ist wahrscheinlich noch viel höher, denn viele von ihnen tauchen aus Angst unter. So auch Omar, der sich an einem geheimen Ort in Agadez versteckt. Wie viele andere unbegleitete Minderjährige wartet er auf eine Möglichkeit, um allein weiterzuziehen.
„Mein Vater konnte die Schulgebühren nicht bezahlen,“ sagt Omar. „Ich habe vor, nach Libyen oder Europa zu gelangen, um dort eine bessere Zukunft für mich aufzubauen. So Gott will, möchte ich nicht nach Hause zurück, bis ich es dorthin geschafft habe und ein guter Junge geworden bin, der seine Familie zuhause unterstützen kann. Wenn ich zuhause bleiben würde, hätte ich keine andere Möglichkeit als ein schlechter Junge zu werden. Ich würde rauchen und trinken… solch ein Leben möchte ich nicht. In Europa könnte ich weiter zur Schule gehen. Und Fußballspielen möchte ich dort auch.“
UNICEF-Befragungen zufolge möchten die meisten migrierenden Kinder und Jugendlichen in Afrika bleiben. Ein Drittel derer, die wie Omar nach Europa möchten, geben jedoch als Grund die Hoffnung auf Bildung an.
Daoussiya (7) kehrt zurück
Auch für Daoussiya, die gemeinsam mit ihrem Vater aus einem Dorf in ihrer Heimat Niger aufgebrochen war, um in Algerien für ihren Lebensunterhalt zu betteln, wurde Agadez zum Wendepunkt einer gefährlichen Reise. In Algerien wurde sie von der Polizei aufgegriffen und ohne ihren Vater an der nigrischen Grenze ausgesetzt. In einem Transitzentrum für migrierte Menschen in Agadez wurde sie von UNICEF betreut. Kurze Zeit später wurde sie wieder mit ihrer Mutter in der nigrischen Provinz Kantché vereint, einer der ärmsten Regionen in Niger.
"Ihr Vater beschloss, dass es das Beste für die Familie wäre, wenn sie betteln ginge", sagt Daoussiyas Mutter. "Ich musste das akzeptieren, weil er das Familienoberhaupt ist. Ich war nicht glücklich darüber und ich habe jeden Tag an sie gedacht. Ich hatte solche Angst um sie."
UNICEF hilft Kindern wie Daoussiya wieder mit ihren Familien zusammenzukommen, verschafft ihnen Lernmöglichkeiten und stellt sicher, dass sie Zugang zu grundlegenden Hilfsangeboten haben. Gemeinsam mit der Kinderschutzbehörde in der Hauptstadt Niamey organisiert UNICEF zudem psychosoziale Hilfsangebote für Kinder in Transitzentren, damit sie ihre traumatischen Erlebnisse besser verarbeiten können.
Für Daoussiya ist ihre gefährliche Reise vorerst zu Ende. „Ich bin sehr froh, wieder zu Hause zu sein“, sagt sie und strahlt.
Doch Millionen migrierter Kinder und Jugendliche sind auf ihren Wegen weiterhin großen Risiken ausgesetzt: der Gefahr, bei der Bootsüberfahrt zu ertrinken, an Hunger und Durst zu sterben und Opfer von Menschenhandel, Kidnapping, Vergewaltigung oder Inhaftierung zu werden.
Globale Pakte zu Flucht und Migration – eine einmalige Chance
Vor Kurzem haben die UN-Mitgliedstaaten die Verhandlungen über die globalen Pakte für sichere, geordnete und reguläre Migration sowie zu Flüchtlingen abgeschlossen. Darin werden Regeln und Mindeststandards im Umgang mit den betroffenen Menschen festgelegt. Regierungen und Organisationen weltweit sollten diesen einmaligen Moment nutzen und überregionale Vereinbarungen treffen, um die Sicherheit von Kindern zu gewährleisten und Familien zusammenzuhalten. Auch Investitionen in Gesundheit, Schutz und Bildung von Kindern in Niger und der Region müssen eine Priorität bekommen.
Denn Kinder müssen geschützt und gefördert werden – ganz gleich woher sie kommen und wo sie sich aufhalten.
Unsere Kollegin Sarah Crowe ist gemeinsam mit dem Fotojournalisten Ashley Gilbertson nach Niger gereist, um die Situation migrierter Kinder zu dokumentieren. Dieser Beitrag basiert auf ihren Berichten. Lesen Sie dazu auch Ashley Gilbertsons Beitrag zur Situation von migrierten Kindern in Agadez in Die Zeit: Weniger Tote auf dem Meer bedeuten mehr Tote in der Wüste.
Serie: „Kinderrechte sind grenzenlos”
Flüchtlinge? Asylbewerber? Migranten? Falsche Frage!
Jedes Kind ist in erster Linie ein Kind, ganz gleich woher es kommt und wo es sich aufhält. Wir setzen uns dafür ein, dass die Mädchen und Jungen über Grenzen hinweg geschützt und gefördert werden – an ihrem Herkunftsort, im Transitland und in einer möglicherweise neuen Heimat. Denn Kinderrechte sind grenzenlos!
Lesen sie mehr dazu in unser Blog-Serie „Kinderrechte sind grenzenlos”.