Kinder weltweit

Südsudan: Zum Krieg gehört der Hunger

„Bei meinem letzten Besuch vor drei Jahren dachte ich: Das ist die schlimmste vorstellbare Situation für Kinder und ihre Familien. Jetzt weiß ich: Es hört nicht auf, für Millionen Kinder.“


von Christian Schneider

Für mehrere Tage hat UNICEF-Geschäftsführer Christian Schneider unsere Kollegen im Südsudan begleitet und berichtet in dieser Blog-Serie von seinen Begegnungen und dem Nothilfeeinsatz für die Kinder an einem der härtesten Orte der Welt. Nach seinem ersten Bericht „Mindestens weiterleben“ erzählt er heute vom Überlebenskampf der Kinder gegen den Hunger.

Die Kinder im Überlebensland - Teil 2

Als würden die Kämpfe, der Tod in ihrer Nähe, die Erfahrung gnadenloser Überfälle, die Vertreibung aus ihren Dörfern all diesen Kindern nicht schon viel zu viel zumuten, kommt mit dem Krieg auch der Hunger.

Südsudan: Ein Blick auf Bentiu

Die Menschen suchen in dem großen Flüchtlingslager in Bentiu Schutz und Hilfe vor Gewalt und Hunger.

© UNICEF South Sudan/2017/Ellie Kealey

Man kann sich der Hungerkrise im Südsudan über die grausam sachlichen Statistiken nähern, die einen Großteil der Menschen hier seit Monaten am Rande einer Katastrophe sehen. Für mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist die Versorgung mit Nahrung unsicher. Fast 2 Millionen sind nicht weit von dem entfernt, was Experten als Hungersnot definieren.

Die Landkarte der Not

Die Landkarte der Not wird von den Farben Rot und Orange beherrscht – das sind die Farben des Hungers, das sind die Situationen, in denen ohne massive humanitäre Hilfe der Tod vieler Kinder droht. „Fast das ganze Land ist rot und orange“, ruft unser UNICEF-Leiter Mahimbo Mdoe laut. „Wir wissen nicht einmal, wie viele Kinder aufgrund der Mangelernährung sterben, weil wir nur die sehen, die es überhaupt bis in eine Gesundheitsstation oder ein Krankenhaus schaffen oder die wir bei einem unserer Noteinsätze untersuchen.“

Dennoch versuchen wir diese Krise irgendwie zu vermessen und zu zählen – schon, um wenigstens ungefähr zu wissen, wie viele Kinder dringend Zusatznahrung, therapeutische Milch, Erdnusspaste, Medikamente brauchen, um die nächsten Wochen zu überstehen.

Info

UNICEF im Südsudan

Hier erhalten Sie weitere Informationen sowie alles Wissenswerte dazu, wie UNICEF dank Ihrer Spenden für den Südsudan vor Ort hilft.

1,1 Millionen Kinder in akuter Not

Da steht dann diese erschlagende Zahl: 1,1 Millionen. So viele Jungen und Mädchen sind akut mangelernährt, viele seit vielen Wochen oder Monaten. Ein Kind, das heute, nach vier Jahren erneuter brutaler Auseinandersetzungen, im Südsudan geboren wird, gehört mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu. In diesem Millionenheer viel zu schwacher, in ihrer Entwicklung gehemmter, hungernder Kleinkinder steht jedes vierte an der Schwelle zum Tod, wenn es nicht sofort therapeutisch versorgt wird.

Südsudan: Ein schlafendes Baby in einer Decke

Ein Neugeborenes im Krankenhaus von Bentiu: Genug Nahrung ist überlebenswichtig.

© UNICEF South Sudan/2017/Ellie Kealey

Der Überlebenskampf der Kinder

Plötzlich ist mir der Hunger, sind die Krankheiten und der Überlebenskampf dieser Kinder ganz nah. Denn neben mir auf Bett Nr. 7 sitzt Nyanyal, zwölf Monate alt. Vor ein paar Tagen hat ihre Mutter die Kleine in das vom Krieg arg mitgenommene Krankenhaus von Bentiu gebracht. Einen ganzen Tag lang war sie dafür zu Fuß unterwegs, bei Temperaturen um 40 Grad. Noch zehn weitere Kleinkinder sind heute hier. Immer wieder ist es die Kombination aus lange währender Mangelernährung, Durchfall, oft Malaria, die diese Kinder in Lebensgefahr gebracht hat.

Südsudan: Christian Schneider mit der kleinen Nyanyal

Begegnung, die Mut macht: Nyanyal geht es dank der therapeutischen Behandlung schon viel besser.

© UNICEF South Sudan/2017/Ellie Kealey

Zurück ins Leben – Einsatz für mangelernährte Kinder

Und immer wieder schaffen es die UNICEF-Kollegen gemeinsam mit den Gesundheitshelfern, den Teams der Ärzte und Pfleger in den Stabilisierungszentren, den vielen, die mithelfen, Nahrung und Medikamente trotz der Gefahr zu transportieren, Kinder wie Nyanyal zurück ins Leben zu holen. Das Mädchen hat es geschafft. Das hohe Fieber von über 39 Grad ist gesunken. Die Kraft kehrt langsam zurück in den kleinen Körper. Nyanyal ist wach und greift zum Löffel, mit dem ihre Mutter ihr stärkende Nahrung einflößt. So sieht Überleben aus.

An diesem und dem nächsten Tag treffe ich in Bentiu und im großen Schutzlager der Vereinten Nationen viele weitere Mütter, deren Verzweiflung immer größer wurde, mit dem ihre Kinder schwächer wurden, fiebriger, apathisch. Sie bringen ihre Kinder zum Wiegen und Messen. Sie stehen an, um die von UNICEF bis hierher in den Norden gebrachte stärkende Erdnusspaste für die Kinder in Empfang zu nehmen. Sie campieren im Freien, während ihre Kinder endlich Hilfe bekommen.

Etwa 160.000 Jungen und Mädchen wie Nyanyal konnten die vielen Helfer, die gemeinsam mit UNICEF im Einsatz gegen diese Hungerkrise stehen, in diesem Jahr versorgen. Trotz der Gefahren, trotz fehlender Krankenhäuser, trotz der Tatsache, dass tausende Familien aufgrund des Konfliktes oder weil die noch andauernde Regenzeit die unbefestigten Straßen in Matsch und Buckelpisten verwandelt hat, nur noch mit raschen Noteinsätzen per Hubschrauber zu erreichen sind.

Ein Arzt und sein großer Wunsch

Für Kinder wie diese sind Menschen wie Johannes ein Segen. Der hochgewachsene junge Mann ist der medizinische Leiter des einfachen, improvisierten Krankenhauses am Rande des Schutzlagers von Bentiu. Ein besonnener Mediziner, ein besonderer Arzt. „Das hier ist eine große Aufgabe für mich, die ich sehr mag. Ich wollte etwas beitragen. Ich wollte helfen, die hohe Müttersterblichkeit und die Kindersterblichkeit zu senken.“

Südsudan: Eine Warteschlange vor den Behandlungsräumen im Krankenhaus

Warten auf Hilfe: Eltern kommen mit ihren geschwächten Kindern ins Krankenhaus.

© UNICEF South Sudan/2017/Ellie Kealey

Mit seiner Organisation World Relief, die von UNICEF unter anderem mit Medikamenten versorgt wird, hat er aus Holzplatten und Wellblech rund um den sonnenverbrannten Platz eine Ambulanz für mangelernährte Kinder aufgebaut, eine Neugeborenen- und Geburtsstation, ein kleines Labor, eine Apotheke...

Johannes ist kein internationaler Experte. Er war selbst ein Flüchtling aus dem Südsudan, seine Familie rettete sich vor Jahren nach Kenia. Andere Flüchtlinge halfen dem klugen Jungen, damit er weiter zur Schule gehen konnte.

Nun ist er als Arzt zurück – und nirgend wo sonst könnte er mehr bewirken als hier, in dem kleinen Krankenhaus, das er so stolz zeigt. Johannes und sein Team arbeiten hart, um das Leben der Kinder zu retten, die sich hierher flüchten konnten. Lächelnd und freundlich (wie sein ganzes Team) erzählt er dann, was ihn antreibt: „Ich möchte den Menschen hier die beste Versorgung geben, die irgend möglich ist.“

Weitermachen – für die Kinder

Unserem UNICEF-Leiter Mahimbo Mdoe lässt angesichts der Notlage des Großteils der Menschen im Südsudan die Aussicht auf die kommenden Monate keine Ruhe. Denn die Hungerkrise ist längst nicht vorbei: „Aufgrund des Konfliktes konnte oft nichts gepflanzt werden, die Ernten werden schlecht sein.“

So, wie es aussieht, wird er auch 2018 mit seinem Team und den Partnerorganisationen einen Großeinsatz gegen den Hunger organisieren müssen. Weitermachen, weitermachen für das Leben der Kinder hier. Nachdenklich sagt Mahimbo: „Wir müssen liefern, ob mit dem Auto, dem Boot, dem Lkw oder mit dem Hubschrauber. Wir müssen liefern, um Leben zu retten. Wir müssen.“

Serie: Die Kinder im Überlebensland

Lesen Sie alle Artikel von Christian Schneiders Reise in den Südsudan.

» Teil 1: Mindestens weiterleben

» Teil 2: Zum Krieg gehört der Hunger

» Teil 3: Endlich wieder eine Familie


Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.