Interview mit Kinderpsychologin: Warum wir die psychische Gesundheit von Kindern stärken müssen
Um die Herausforderungen, die das Heranwachsen mit sich bringt, gut zu meistern, braucht es ein ganzes Bündel an „Rüstzeug“. Dazu gehören eine positive emotionale Bindung zu den Eltern und ein schützendes Umfeld in der Familie und der Schule.
Wenn Kinder jedoch Gewalt erleben, beeinflusst dies ihre mentale und körperliche Gesundheit. Welche Folgen Gewalt für Kinder haben kann und wie ihnen geholfen werden kann, erklärt Kinderpsychiaterin und UNICEF-Komitee-Mitglied Dr. Susanne Schlüter-Müller im Interview.
In seinem neuen Bericht „On My Mind“ widmet sich UNICEF der psychischen Gesundheit von Kindern. Was genau bedeutet psychische Gesundheit?
Schlüter-Müller Psychische Gesundheit bedeutet ein Zusammenspiel von emotionalem, psychologischem und sozialem Wohlergehen und wirkt sich auf das Denken, Fühlen und Handeln aus. Psychische Gesundheit hat einen Einfluss darauf, wie Menschen mit schwierigen Situationen umgehen, wie sie Beziehungen gestalten und ihre Begabungen einsetzen können.
Psychische Gesundheit bedeutet nicht, dass es keine Krisen gibt. Sie hat aber einen deutlichen Einfluss darauf, wie mit diesen umgegangen werden kann. Bei der Bewältigung von schwierigen oder traumatischen Lebenserfahrungen spielt die Resilienz eines Kindes eine große Rolle. Damit ist eine psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken gemeint. Resilienz umfasst somit ein hochkomplexes Zusammenspiel aus Merkmalen innerhalb (z.B. genetische Anlagen) und außerhalb (z.B. Lebensumwelt) des Kindes. Aufgrund dieser Ressourcen unterscheiden sich Kinder in ihrer Fähigkeit mit schwierigen Situationen umzugehen und sie zu bewältigen.
Belastende Kindheitserfahrungen, insbesondere Gewalt und Missbrauch, können lebenslange Folgen für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen haben. Wie wirken sich solche Erfahrungen langfristig auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus?
Schlüter-Müller Sexuelle, psychische und körperliche Misshandlungen stellen eine extreme Belastung dar, die das Leben des Betroffenen oft lebenslang prägt.
Trifft diese Traumatisierung ein Kind sind die Auswirkungen besonders prägend. Die Wahrscheinlichkeit, eine psychische Störung zu entwickeln, ist für ein misshandeltes und/oder missbrauchtes Kind ca. zwölfmal höher als für andere Kinder.
Je jünger das Kind ist und je häufiger die Misshandlungen stattfinden, desto schwerwiegender sind die Auswirkungen. Denn junge Kinder beziehen die Welt auf sich. Sie sind noch nicht in der Lage zu abstrahieren, dass es auch noch andere Lebensrealitäten gibt als die eigene. Ein anschauliches Beispiel ist, dass dreijährige Kinder sich die Augen zuhalten und denken, dass dann auch die anderen sie nicht sehen können. Das heißt aber auch, dass sie, wenn die Eltern streiten, wenn es Gewalt unter den Erwachsenen gibt, wenn sie selbst Gewalt erfahren, denken, dass es etwas mit ihnen zu tun hat, dass sie schuld daran sind.
Zumindest im Falle eines frühen Traumas ist das Kind nicht in der Lage zu verstehen, was passiert ist.
Wie kann den Kindern geholfen werden?
Schlüter-Müller Weil es keine Worte oder reife Erinnerung an das Geschehene gibt, können kleine Kinder das Geschehene oft nur – beispielsweise im Spiel – wiederholen oder ausagieren, ohne zu wissen was es bedeutet. Oder das Kind greift auf andere, unreifere Erinnerungsspuren zurück, die sich in diffusen, körpernahen Gefühlen äußern und sich der gefühlsmäßigen Erinnerung entziehen. So wird die Erinnerung an das Trauma oft erst einmal in körperlichen Symptomen "sichtbar", was ein Gegenüber erfordert, das diese Sprache versteht. Deshalb sollten sowohl Lehrer/Pädagogen als auch Kinderärzte wissen, dass körperliche Leiden (auch) psychische Ursachen haben können. Das ist wichtig, damit Kinder bestmögliche Hilfe und Unterstützung erfahren können.
Der UNICEF-Bericht unterstreicht, wie entscheidend eine positive Eltern-Kind-Bindung für die Entwicklung und die psychische Gesundheit von Kindern ist. Warum ist diese Bindung so wichtig?
Schlüter-Müller Um Urvertrauen aufbauen zu können braucht es verlässliche Eltern, die einem Kind wohlwollend begegnen, was nicht heißt, dass Eltern nicht auch Fehler machen dürfen. Aber das Kind muss sich sicher sein können, dass es „ausreichend“ gut beschützt und geliebt wird oder Fehler, die es macht, nicht bestraft werden, sondern Regeln immer wieder neu verhandelt werden können.
Was können Eltern für eine sichere Bindung zu ihren Kindern tun?
Schlüter-Müller Eltern müssen ihren Kindern zeigen, dass sie „richtig sind, wie sie sind“, auch wenn sie etwas falsch machen, „böse“ sind oder nicht gehorchen. Mit Gewalt zu reagieren, zerstört nicht nur die Persönlichkeit des Kindes, sondern dient auch dem falschen Vorbild, dass Konflikte mit Gewalt gelöst werden. Eine wichtige Voraussetzung für das Urvertrauen ist, dass Eltern Dinge halten, die sie versprechen, nicht drohen, wenn das Kind nicht „hört“, dass es positive Rückmeldungen gibt, d.h. dass das Kind gelobt wird und dass man an es glaubt. Es ist wichtig, dass Fehler verziehen werden, da die Kinder dadurch lernen, dass es menschlich ist, Fehler zu machen und sich und anderen zu verzeihen.
Haben wir nicht langsam gelernt, dass es gut ist, über psychische Probleme zu sprechen?
Schlüter-Müller Die Tabuisierung, über psychische Probleme zu sprechen, ist leider immer noch groß, besonders in Gesellschaften, in denen wenig Wissen über psychische Erkrankungen oder Störungen besteht. Es gibt dann Zuschreibungen wie „Strafe Gottes“, „böser Blick“, „Neid der Nachbarn“ oder ähnliches. In vielen Gesellschaften werden psychisch kranke Kinder und Jugendliche „weggesperrt“ oder verleugnet oder ihre Probleme werden als mangelnde Bereitschaft, sich anzustrengen oder sich zusammenzureißen abgetan. Die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen ist weltweit noch sehr hoch.
Was muss Ihrer Meinung nach geschehen, um das Schweigen zu brechen?
Schlüter-Müller Am wichtigsten ist es, über psychische Gesundheit aufzuklären. Kinder und junge Menschen müssen wissen, dass eine Erkrankung nicht mit einem unentrinnbaren Schicksal zusammenhängt und dass es Hilfe gibt. Es ist wichtig, klar zu benennen, dass es eine Erkrankung ist, es einen Namen und Behandlungsmöglichkeiten dafür gibt. Dafür ist es von hoher Bedeutung, in Ländern ohne kinder- und jugendpsychiatrische und/oder psychotherapeutische Versorgung den Aufbau einer solchen genauso dringlich zu unterstützen, wie den Ausbau der pädiatrischen Versorgung. Genauso wichtig wie es ist, die Kindersterblichkeit in den Ländern der Welt zu senken, genauso wichtig ist es, die psychische Gesundheit der Kinder im Blick zu haben und dafür Sorge zu tragen, dass die Früherkennung und Versorgung mit entsprechend ausgebildeten Personen vorangetrieben wird.
Übersicht über aktuelle Informationen zu Hilfs- und Unterstützungsangebote des Bundesministeriums für Familie.
Die "Nummer gegen Kummer" bietet Telefonberatung für Kinder, Jugendliche und Eltern.
Kinder und Jugendliche können sich online an jugendnotmail.de wenden. Die dort ehrenamtlich tätigen Fachkräfte bieten eine vertrauliche und verlässliche Beratung unabhängig vom Anliegen.
Das Elterntelefon richtet sich an Mütter und Väter, die sich unkompliziert und anonym konkrete Ratschläge holen möchten.
Die Initiative #keinKindalleinlassen gibt eine Übersicht über Tipps und Strategien, die helfen könnten, wenn Sie sich Sorgen um ein Kind und seine Familie machen.
Kinder und Jugendliche können sich zudem vertrauensvoll an die erfahrenen Beraterinnen und Beratern der Caritas wenden. Die Webseite fasst zudem wichtige Anlaufstellen für Notsituationen zusammen.
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Die Initiative #keinKindalleinlassen gibt eine Übersicht über Tipps und Strategien, die helfen könnten, wenn Sie sich Sorgen um ein Kind und seine Familie machen.
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