Kinderrechte als Kompass
Die Bundestagswahl rückt näher. Am 26. September stimmen wir über eine neue Regierung ab. Mit Christian Schneider, Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, blicken wir zurück auf die zu Ende gehende Legislaturperiode und sprechen darüber, was die Politik in den vergangenen vier Jahren für Kinder erreicht hat. Welche Herausforderungen bleiben bestehen? Was muss die neue Bundesregierung unbedingt für junge Menschen tun?
Herr Schneider, was hat die Bundesregierung in den vergangenen vier Jahren für Kinder erreicht?
Schneider: Deutschland hat in der zu Ende gehenden Legislaturperiode einen starken Beitrag dazu geleistet, Armut und Krisen weltweit zu begegnen – auch gemeinsam mit UNICEF. Denn seit vielen Jahren unterstützt die Bundesregierung die Arbeit von UNICEF und ermöglicht vielen Kindern damit ein sicheres Aufwachsen und ein chancenreicheres Erwachsenwerden.
Was wir aus meiner Sicht besonders anerkennen sollten, ist das Engagement der Bundesregierung für geflüchtete und migrierte Kinder. Mit der Verabschiedung des globalen Pakts für sichere, geordnete und reguläre Migration und des globalen Pakts für Flüchtlinge im Jahr 2018, mit der Aufnahme von schutzbedürftigen Kindern aus Griechenland und dem langjährigen Einsatz für Kinder, die bei uns in Aufnahmeeinrichtungen leben, hat die Bundesregierung Verantwortung im Sinne der Kinderrechte übernommen und vielen Kindern Sicherheit und Schutz gewährt.
Das heißt aber nicht, dass alles getan und erledigt ist. In der internationalen Zusammenarbeit dürfen wir nicht nachlassen. Denn leider verschärft sich in vielen Regionen der Welt die Lage der Kinder durch die Folgen der Pandemie und durch die Auswirkungen von Klimawandel und Umweltzerstörung. Die humanitäre Not der Kinder in Afghanistan ist ein Beispiel für zahlreiche aktuelle Krisensituationen, die die Aufmerksamkeit, das Handeln und die Ressourcen auch der deutschen Bundesregierung dringend brauchen.
Gab es in den vier Jahren auch für Kinder in Deutschland Fortschritte?
Schneider: Ja, auch in Deutschland konnte die noch amtierende Bundesregierung einige Fortschritte bei der Anerkennung und Umsetzung der Kinderrechte erreichen, wenn ich zum Beispiel an die familien- und sozialpolitischen Maßnahmen denke. Erwähnen sollte ich die Überarbeitung des Jugendmedienschutzgesetzes. Das ist in seiner jetzigen Form ein wesentliches Element, um Kindern und Jugendlichen eine sichere Nutzung digitaler Medien zu ermöglichen und ihre digitale Teilhabe zu gewährleisten. Auch die Reform der Kinder- und Jugendhilfe scheint auf einem guten Weg.
Dennoch: Es gibt weiter ungelöste Herausforderungen und Aufgaben, die nach unserer Auffassung in der kommenden Legislaturperiode in den Mittelpunkt rücken müssen – insbesondere vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie.
In unserem Land hängt für die Kinder viel davon ab, wie Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wie auch innerhalb der Regierung und der Verwaltung an einem Strang gezogen wird. Da hat es gerade in der schwierigen Phase der Covid-19-Pandemie gehapert. Kinder, Jugendliche und Familien haben nicht immer die Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten, die notwendig gewesen wäre. Geflüchtete und migrierte Kinder hatten ganz besonders schwere Monate. Viele haben wertvolle Zeit verloren, wenn wir an ihren Zugang zu guter Bildung und damit auch an ihre gerechte Chance auf Integration und eine gute Entwicklung denken.
Welche langfristigen Auswirkungen der Pandemie für Kinder befürchten Sie? Wie beurteilen Sie mit Blick auf die Situation der Kinder das Handeln der Bundesregierung in der Zeit der Pandemie?
Schneider: Die Pandemie bedeutet weiter für die Kinder und ihre Familien in unserem Land eine enorme Herausforderung. Manche Familien sind dafür besser gerüstet als andere. Je länger die Krise dauert, umso größer werden die Belastungen. Sehr viele Familien sind in den letzten Monaten an ihre Grenzen gestoßen.
Aus Sicht von UNICEF wurden die Auswirkungen von Schul- und Kitaschließungen, von Homeoffice-Situationen, von Isolation und Stress für Familien und Kinder beispielsweise im Fall einer Quarantäne viel zu spät gesehen. Bis heute bleibt die Hauptlast bei den Eltern und den Kindern und Jugendlichen selbst. Bei politischen Entscheidungen werden sie jedoch kaum gehört, wenn es zum Beispiel darum geht, welche Unterstützung sie jetzt besonders brauchen.
Wir warnen eindringlich davor, dass infolge der Covid-19-Pandemie die Schere zwischen Kindern, die gut gefördert, geborgen und in materieller Sicherheit aufwachsen, und denen, die all dies nicht haben, größer wird. Das dürfen wir nicht zulassen, denn das würde dazu führen, dass benachteiligte Kinder immer mehr abgehängt werden.
Die Pandemie hat über die sozialen Folgen hinaus auch schwerwiegende Auswirkungen auf die mentale Gesundheit vieler Kinder und Jugendlicher. Es braucht also politische Antworten. Antworten, die über die tagesaktuelle Entwicklung dieser fortdauernden Krise und die Wochen des Wahlkampfes hinausreichen.
Kindheit in der Corona-Pandemie
Möchten Sie mehr über die Folgen der Pandemie für Kinder weltweit erfahren und darüber, wie UNICEF hilft? Hier finden Sie immer die aktuellsten Corona Infos im UNICEF Blog.
In welchen Bereichen hat die aktuelle Regierung Ihrer Meinung nach zu wenig für Kinder getan?
Schneider: Kurz vor der Bundestagswahl wird die Armut von Kindern in Deutschland ein Thema im Wahlkampf. Das ist gut so! 2019 lebten 1,48 Millionen Kinder unter 16 Jahren in relativer Armut. Und dies, obwohl unser Land alle ökonomischen Voraussetzungen hat, um allen Kindern die soziale Teilhabe und damit gerechte Chancen zu ermöglichen.
Die aktuellen Daten sprechen zwar dafür, dass die relative Armut von Kindern und Jugendlichen in den letzten zehn Jahren leicht gesunken ist. Dennoch ist die Zeit des starken wirtschaftlichen Wachstums seit 2010 nicht ausreichend genutzt worden, um sie deutlich stärker zu senken. Dabei gibt es keine wichtigere Investition als die in die Entwicklung und das Wohlergehen der Kinder.
Die nächste Bundesregierung muss dringend etwas tun, um einen Anstieg der Kinderarmut infolge der Pandemie zu verhindern. Dazu müssen benachteiligte Kinder sowohl durch materielle Leistungen als auch durch Infrastrukturleistungen stärker unterstützt werden. Bestehende Leistungen sollten gebündelt und automatisch ausgezahlt werden. Die Debatte um eine Kindergrundsicherung sollte dabei aus meiner Sicht ohne ideologische Scheuklappen geführt werden. Ich wünsche mir hier einen gemeinsamen Ansatz, der benachteiligten Kindern wirklich hilft. Deshalb fordern wir eine interdisziplinäre, von Bund, Ländern und Kommunen gemeinsam eingesetzte Kommission nach der Wahl, die einen Plan entwickelt, der dann auch umgesetzt wird.
Die große Koalition hatte sich vorgenommen, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Wie bewerten Sie das Scheitern des Vorhabens?
Schneider: Das ist ein herber Dämpfer für die Kinder, Jugendlichen und Familien in Deutschland und eine verpasste Chance, die Rechte junger Menschen nachhaltig zu stärken. Es ist enttäuschend, dass sich die Bundestagsfraktionen nicht auf eine Formulierung einigen konnten. Kinder und ihre Familien hätten hier mehr Kompromissbereitschaft und Rückhalt über alle Parteien hinweg verdient.
Wir setzen uns weiterhin für die Aufnahme der Kinderrechte in unsere Verfassung ein. Das ist eine wichtige Grundlage für eine kindgerechte Gesellschaft und bessere Entwicklungschancen für alle Kinder, für eine stärkere Rechtsposition und auch für mehr Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Die Zeit für diesen Schritt war schon lange reif, aber ich bin nach vielen Gesprächen mit Politiker*innen der Fraktionen optimistisch, dass es für die Aufnahme der Kinderrechte in der nächsten Legislaturperiode frischen Wind geben wird.
Im Koalitionsvertrag hatten die Regierungsparteien ebenfalls ein Lieferkettengesetz vereinbart, das im Sommer beschlossen wurde. Wie stehen Sie dazu?
Schneider: Das deutsche Lieferkettengesetz ist ein wichtiger Schritt für verantwortungsvolles Handeln von Unternehmen, doch es weist einige entscheidende Lücken hinsichtlich des Schutzes von Kinderrechten in globalen Lieferketten auf. So gilt das Gesetz derzeit nur für Großunternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeiter*innen und deckt nicht die gesamte Lieferkette ab. Aus unserer Sicht schützt ein Gesetz in dieser Form Kinder nicht ausreichend vor Ausbeutung und Gesundheitsschäden.
Dennoch sollte die neue Bundesregierung die mit dem Gesetz beschlossenen menschenrechtlichen Verpflichtungen ernst nehmen und die Umsetzung gemeinsam mit deutschen Unternehmen vorantreiben. Darüber hinaus sollte die kommende Regierung bei der Europäischen Union darauf hinwirken, ein starkes und wirksames Gesetz auf den Weg zu bringen, das die Rechte von Kindern in Lieferketten nachhaltig schützt.
Welche Herausforderungen für Kinder und Jugendliche weltweit und auch hier bei uns muss die neue Bundesregierung dringend in den Blick nehmen?
Schneider: In der heißen Phase des Wahlkampfs wird die politische Agenda von komplexen Krisen bestimmt, die weitreichende Auswirkungen auf das Leben und die Zukunft von Kindern haben. Dazu gehören die Covid-19-Pandemie, aber auch Gewalt und Vertreibung in den Konfliktregionen der Erde, für die Kinder immer den höchsten Preis zahlen.
Eine der größten Herausforderungen für junge Menschen ist zudem die Klimakrise, die in großem Maß die Sicherheit, die Gesundheit und die Entwicklung der jungen Generation bedroht und schon heute eine Milliarde Kinder extremen Gefahren aussetzt. Das zeigt der gerade von uns vorgestellte erste Klima-Risiko-Index.
Klimakrise, die in großem Maß die Sicherheit, die Gesundheit und die Entwicklung der jungen Generation bedroht und schon heute eine Milliarde Kinder extremen Gefahren aussetzt. Das zeigt der gerade von uns vorgestellte erste Klima-Risiko-Index.
Die neue Bundesregierung muss deutlich mehr tun, um Klimawandel, Umweltzerstörung und ihre Auswirkungen zu bekämpfen. Wir brauchen mehr Investitionen in Maßnahmen, die Kindern und Familien ermöglichen, sich auf neue klimatische Bedingungen einzustellen. Kinder und Jugendliche müssen in alle nationalen, regionalen und internationalen Klimaverhandlungen und -entscheidungen einbezogen werden, damit ihre Perspektive gesehen und ihre guten Vorschläge ernst genommen werden.
Doch um all diesen Krisen begegnen und eine zukunftsgewandte Politik im Sinne der nachhaltigen Entwicklungsziele und der Kinderrechte gestalten zu können, ist ein umfassender Ansatz zwingend. Die Bundesregierung konnte über die letzten Jahre zwar die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie weiterentwickeln. Doch hier müssten aus unserer Sicht noch viel stärker Kinder und ihre Rechte in den Blick genommen werden.
Was fordert UNICEF Deutschland darüber hinaus von der neuen Bundesregierung?
Schneider: Angesichts der großen Herausforderungen, vor denen junge Menschen heute stehen, kommt es darauf an, unseren grundlegenden Werten zu folgen und einen klaren Kompass zu haben: das Wohl unserer Kinder und die Verwirklichung ihrer Rechte.
Die kommende Bundesregierung hat die Aufgabe, nicht nur in Deutschland, sondern auch in der internationalen Zusammenarbeit die Lebensbedingungen und Perspektiven von Kindern dauerhaft zu verbessern. Dabei darf kein Kind zurückgelassen werden!
Es liegt in der Verantwortung der Politik, Zukunft zu gestalten – für Kinder und mit Kindern. Die neue Bundesregierung muss sich für eine verstärkte, wirkungsvolle Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, für soziale Gerechtigkeit und für eine an den Kinderrechten orientierte Umwelt- und Klimapolitik einsetzen.
Wir freuen uns auf die Gespräche, vor der Wahl, nach der Wahl, mit dem neuen Parlament und unserer künftigen Bundesregierung, für eine #PolitikMitZukunft.
Zur Bundestagswahl 2021 appelliert UNICEF Deutschland an die kommende Bundesregierung, die Verwirklichung der Kinderrechte zum Kompass einer zukunftsorientierten Politik zu machen. Das Positionspapier „Eine Politik mit Zukunft – für Kinder und mit Kindern“ enthält neben konkreten Empfehlungen zur Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland auch Vorschläge für ein stärkeres Engagement der Bundesregierung, um extreme Armut und die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche weltweit zurückzudrängen.