Fotoreportagen

Das Ende von Moria


von Peter-Matthias Gaede

Zur Geschichte jenes Bildes, mit dem der griechische Fotograf Angelos Tzortzinis das „UNICEF-Foto des Jahres 2020“ geschaffen hat.

Es war nicht irgendein Job für Angelos Tzortzinis, immer wieder in den Flüchtlingslagern auf Lesbos zu fotografieren. Und dort mit einem besonderen Augenmerk auf das Leben der etwa 4000 Kinder und Jugendlichen. Tzortzinis, in Athen geboren, wuchs in einem ärmlichen Viertel der griechischen Hauptstadt auf, nahezu Wand an Wand mit Flüchtlingen aus dem Irak, die oft zu fünft oder zu sechst mit einem einzigen Raum auszukommen hatten.

Er schloss Freundschaften mit den fremden Kindern. Er verlor seinen Vater früh und ist inzwischen selber Vater eines kleinen Jungen. Und er sagt, er sei ja kein Besucher seines Landes. Er lebe inmitten all der Probleme. Und deshalb sei es ihm auch gar nicht möglich, die Situation der Flüchtlinge zu verdrängen.

Lesbos, Griechenland: Die brennende Not
© Angelos Tzortzinis, Griechenland (AFP)

Am Thema Migration arbeitet Tzortzinis deshalb seit acht Jahren. Er ist zwar, nachdem er an der Leica Academy of Creative Photography studiert hatte, auch in Georgien gewesen, hat 2010 über die Konflikte nach einem Erdbeben auf Haiti berichtet, über den „Arabischen Frühling“, der kein Frühling wurde, in Ägypten und Libyen.

Doch die ökonomische und soziale Krise in seiner Heimat, die spezifische Flüchtlingssituation an der Südostgrenze Europas stehen für Tzortzinis im Zentrum seines Engagements als Foto-Reporter. Als er nach Abschluss seines Studiums zu Griechenlands jungem „Fotografen des Jahres“ gewählt wurde, habe er zum ersten Mal gedacht, dass ihm etwas gelungen sei.

Und seit er im Fernsehen die Körper toter Flüchtlinge sah, auch Kinder darunter, die an die Küste der Insel Kos geschwemmt worden waren, habe sein Beschluss festgestanden, aufmerksam zu machen auf eine Tragödie. Unter anderem in der „New York Times“ und der „International Herald Tribune“ ist ihm das gelungen.

Lesbos, drittgrößte Insel Griechenlands, bewohnt von etwa 100.000 Menschen, liegt eine Flugstunde von Athen entfernt; beinahe zwölf Stunden sind es von Piräus aus mit dem Schiff dorthin.

Aber in den vergangenen drei Jahren war Tzortzinis mindestens 15 Mal auf der Insel, als freier Fotograf und für die Agentur Agence France Presse – und wurde zum Zeugen der immer heikleren Verhältnisse in Moria, einem mit fast 13.000 Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak furchtbar überfüllten Lager, in dem Krankheiten und auch Konflikte grassierten, Ratten herumliefen, immer wieder Lebensmittel und Trinkwasser knapp wurden. Er wurde zum Zeugen auch des unerträglichen Wartens auf Asylbescheide; auf die Erlaubnis, weiter nach Westeuropa reisen zu dürfen.

Lesbos, Griechenland: Das Ende von Moria
Bild 1 von 3 © Angelos Tzortzinis, Griechenland (AFP)
Lesbos, Griechenland: Das Ende von Moria
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Lesbos, Griechenland: Das Ende von Moria
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Nur neun Seemeilen sind es von Behram in der Türkei übers Meer nach Skala Sikamineas auf Lesbos, eine Unendlichkeit aber ist es von dort in gesicherte Lebensverhältnisse. Tzortzinis zitiert in einer seiner Reportagen den in Griechenland legendären Dichter Constantine P. Cavafy (1863 – 1933), der in einem Poem über das Schicksal von Migranten schrieb: „Ich wollte in ein anderes Land, an eine andere Küste. Aber was immer ich fand, erwies sich als falsch, und mein Herz wurde begraben. Wie lange kann ich an einem Platz vermodern, wo ich auf die schwarzen Ruinen meines Lebens sehe? Wo ich so viele Jahre verschwendet und zerstört habe?“

Es sind wohl diese Gefühle, die der Fotograf bei seinen Begegnungen mit Flüchtlingen spürte und spürt, bei obdachlosen und sich in Fabrikwinkeln in Athen versteckenden Migranten. Und eben im Lager Moria.

Lesbos, Griechenland: Die brennende Not
Bild 1 von 14 © Angelos Tzortzinis, Griechenland (AFP)
Lesbos, Griechenland: Die brennende Not
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Lesbos, Griechenland: Die brennende Not
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Lesbos, Griechenland: Die brennende Not
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Lesbos, Griechenland: Die brennende Not
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Lesbos, Griechenland: Die brennende Not
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Lesbos, Griechenland: Die brennende Not
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Dann der 9. September 2020. Ob das Feuer in Moria auf Brandstiftung oder ein Unglück zurückgeht: Es ist unklar zunächst. Aber so oder so macht es die Bewohner zu Opfern einer doppelten Tragödie: Vor Krieg und Perspektivlosigkeit sind sie hierher geflohen, vor Flammen fliehen sie nun ein zweites Mal.

Tzortzinis erfährt zwei Stunden nach Mitternacht von dem ersten Feuer, trifft morgens zwischen neun und zehn Uhr im Camp ein. Er kennt dort inzwischen jeden Winkel, aber nun kommt er in ein Chaos. Menschen rennen mit einigen Habseligkeiten um ihr Leben, von überall her hört er Schreie.

Aus dichten Rauchwolken tauchen Kinder auf, manche an der Seite eines sie vorwärtsziehenden Erwachsenen, manche Hand in Hand mit kleineren Geschwistern, manche mit Masken. Manche gefasst wirkend, manche hemmungslos weinend.

Portrait: Angelos Tzortzinis

Angelos Tzortzinis gewinnt das UNICEF-Foto des Jahres 2020.

© Vasso Balou

Tzortzinis bleibt innerhalb der Polizei-Absperrungen an den Straßen aus dem Lager; erlebt die Flucht vor einem zweiten Feuerherd, von dem das Camp nun restlos zerstört wird. Er will auch jetzt und gerade hier dem oft abstrakt diskutierten Flüchtlingselend ein Gesicht geben. Weg vom Pro und Contra zum Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, weg von den Konflikten zur Flüchtlingsaufnahme in der EU – hin zu einem ganz einfachen Mitgefühl.

Und dieses Gesicht sieht er in jenem Moment, als aus dem Inferno von Moria ein Kind auftaucht und dem Fotografen direkt in die Augen schaut. Im Blick dieses Kindes, an dessen Hals sich ein kleiner Junge klammert: Entsetzen und Tapferkeit. Und vielleicht auch die ganze Hoffnung, es möge einen Weg aus Armut und Gewalt in ein anderes, ein besseres Leben geben.

Lesbos, Griechenland: Das Ende von Moria
Bild 1 von 4 © Angelos Tzortzinis, Griechenland (AFP)
Lesbos, Griechenland: Das Ende von Moria
Bild 2 von 4 © Angelos Tzortzinis, Griechenland (AFP)
Lesbos, Griechenland: Das Ende von Moria
Bild 3 von 4 © Angelos Tzortzinis, Griechenland (AFP)
Lesbos, Griechenland: Das Ende von Moria
Bild 4 von 4 © Angelos Tzortzinis, Griechenland (AFP)

Es ist die Intensität dieses Augenblicks, der Tzortzinis Bild von aberhunderten anderen Fotos von den Ereignissen auf Lesbos unterscheidet. Es sind die Verletzung und der Überlebenswille nicht nur dieses Kindes zwischen den Ruinen von Moria, sondern im Herzen von weltweit Millionen Mädchen und Jungen auf der Flucht, die Angelos Tzortzinis Bild zum „UNICEF-Fotos des Jahres 2020“ machen.

Die Bundesregierung hat im Oktober 2020 etwa 50 Kinder und Jugendliche aus Moria nach Deutschland geholt. Wie viele weitere unbegleitete Minderjährige folgen sollen, ist noch nicht ausgemacht. Griechenland hat auf Lesbos ein neues Flüchtlingslager gebaut.

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Autor*in Peter-Matthias Gaede

Peter-Matthias Gaede, langjähriger Chefredakteur des Magazins GEO, ist ehrenamtliches Mitglied im UNICEF-Vorstand.