Syrien: Die Welt muss hinschauen
Beitrag von Niclas Hammarström, Fotograf aus Schweden. Für seine Bildreportage über das Leben der Kinder in Syrien erhielt er Anfang 2014 den Preis "UNICEF-Foto des Jahres".
Ich bin Fotograf und selbst Vater von drei Jungen. Mit Blick auf den Krieg in Syrien hatte ich das Gefühl, unbedingt etwas tun zu müssen. Es tat mir in der Seele weh zu sehen, wie die Kinder dort leiden. Kinder werden verletzt werden und sterben, sie verlieren ihre Mütter, Väter, Geschwister, Verwandte und Freunde.
Das erste Mal reiste ich im September 2012 nach Aleppo. Meiner Frau erzählte ich, dass ich in die Türkei reisen würde, um eine Geschichte über syrische Flüchtlinge zu machen. Das war gelogen.
Ich traf viele Menschen, die um Hilfe baten: Bitte mach Bilder davon. Zeig der Welt, wie wir leiden. Kaum Nahrung und Wasser. Keine Heizung, keinen Strom. Keine Medikamente.
Sie nahmen mich mit, um mir ihren Sohn, ihre Mutter oder einen Freund zu zeigen, die schwer verletzt oder tot waren. Die Ärzte berichteten, dass sie seit Beginn des Krieges rund um die Uhr im Einsatz seien. Dass sie nicht genug Medikamente und Material hätten. Dass die Regierung Krankenhäuser angreife und medizinisches Personal töte.
Warum?, fragte ich. Die Antwort war: Wenn sie einen Arzt umbringen, kann er keine Verletzten mehr versorgen. Und dadurch sterben mehr Menschen.
Als ich nach Hause zurückkam, fragte mich meine Frau, wie die Reise gewesen sei. Ich zeigte ihr die Bilder. Erst war sie wütend auf mich, weil ich ihr nicht gesagt hatte, wohin ich reisen würde. Doch dann verstand sie mich.
Seither ließ mich Syrien nicht mehr los. Also ging ich im Januar 2013 wieder zurück. Es war jetzt schwieriger, in Aleppo zu arbeiten. Die Menschen waren Journalisten gegenüber misstrauisch. Viele wollten nicht fotografiert werden. Sie sagen: Was willst du hier? Es bringt ohnehin nichts.
Sie hatten Recht. Nichts war geschehen, um den Menschen zu helfen. Es gab noch immer zu wenig zu essen und zu wenig Medikamente. Noch immer Leid und Angst.
In Aleppo war fast jeder Baum gefällt worden, um damit zu heizen. Ich sah Kinder, die sogar die Wurzeln ausgruben, um damit Feuer zu machen. Ich sah Kinder, die in Müllhaufen nach etwas Essbaren suchten. Vor dem Krieg war der Ort ein wunderschöner Park gewesen. Doch jetzt waren alle Bäume verschwunden und der Platz voller Müll.
Ich traf Kinder, die draußen auf dem Hof gespielt hatten, als Heckenschützen sie angriffen oder sie aus Mörsergranaten unter Beschuss gerieten.
Ich besuchte eine Schule, wo der Unterricht im Freien stattfand, weil es draußen wärmer war als drinnen. Die Schülerinnen und Schüler schafften es wegen der Bombardierungen und der Heckenschützen nicht jeden Tag, zur Schule zu kommen. Die Lehrerin sagte, dass sie es verstehen könne, wenn sie nicht kämen.
Eines Abends, in einem kleinen Lazarett, trugen ein paar Männer einen kleinen Jungen herein, zusammen mit einigen anderen Verletzten. Der Junge hatte schwere Verbrennungen und stand unter Schock.
Die Ärzte legen ihn auf ein Bett, aber sie mussten sich erst um andere noch schwerer Verletzte kümmern. Also ließen sie ihn allein dort liegen. Der Junge war ungefähr so alt wie mein jüngster Sohn. In dem Krankenhaus war es sehr kalt und der Junge hatte keine Decke. Ich versuchte, ihn zu trösten und mit ihm zu reden. Ich gab ihm meine Hand und er hielt sie fest. Schließlich kam ein Arzt, der ihm Morphium gab, und er schlief ein. Dieser Moment hat mich sehr berührt.
Im November 2013 kehrte ich erneut nach Syrien zurück, dieses Mal in die Region Kalamun in der Nähe von Damaskus. Mein Kollege Magnus Falkehed und ich übernachteten bei einer kleinen Kampfeinheit vor der Stadt Yabrud. Es war sehr schwierig, dort zu arbeiten. Wir wurden verdächtigt, Spione zu sein. Es war schwer, Menschen zu fotografieren – egal ob Zivilisten oder Kämpfer. Sie alle hatten Angst, dass die Regierung sie selbst oder ihre Verwandten bestrafen würde.
Dennoch gelang es uns einige Leute zu treffen, die uns ihre Geschichte erzählten. Wie sie aus Homs in diese Gegend geflohen waren, wie sie gehofft hatten, dort Ruhe und Frieden zu finden. Wie ihre Kinder gelernt hatten, die unterschiedlichen Bomben nach ihrem Geräusch auseinanderzuhalten. Wie sie gelernt hatten einzuschätzen, aus welcher Richtung sie abgefeuert wurden.
Eines Tages waren wir draußen unterwegs und unterhielten uns mit ein paar Kindern. Immer mehr kamen hinzu, und bald hatten sich etwa 25 Kinder um uns versammelt. Plötzlich sahen wir schwarzen Rauch am Himmel, der direkt auf uns zukam. Es ging unglaublich schnell. Plötzlich war das Flugzeug nur noch ein paar Hundert Meter von uns entfernt, es flog in niedriger Höhe. Wir wussten nicht, wohin wir flüchten oder wo wir uns verstecken sollten. Die Kinder schrien. Der Pilot flog so niedrig, dass ich sein Gesicht erkennen konnte. Zu unserem Glück hatte er uns zu spät gesehen. Er sah uns erst, als er direkt über uns war, dann begann er, seine Waffen abzufeuern. Die Schüsse haben uns alle verfehlt. Es besteht aber kein Zweifel daran, dass er gesehen hat, dass das da am Boden nur Kinder waren.
Nach sechs Tagen entschlossen wir uns, nach Hause zurückzukehren. Es war für uns zu gefährlich, länger zu bleiben. Nicht nur wegen der Kämpfe, sondern auch wegen der Gefahr, entführt zu werden.
Irgendwo auf halbem Weg zwischen Yabroud und Arsal im Libanon wurden wir an einem Checkpoint angehalten. Drei Männer mit Maschinengewehren zwangen uns aus dem Auto. Sie schossen auf uns und verletzten unseren Fahrer. Wir wurden zu einem Haus gebracht und in einen Raum eingesperrt. Nach einer Woche versuchten wir zu fliehen, doch sie entdeckten uns und begannen, auf uns zu schießen. Ich wurde ins Bein getroffen und sie brachten uns in das Haus zurück. Später wurden wir zu einem anderen Haus gebracht und in einem dunklen Keller gefangen gehalten. Erst nach fast sieben Wochen wurden wir freigelassen. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich musste die ganze Zeit an meine Familie denken. Und daran, ob ich meine Kinder je wiedersehen würde.
War es das wert? Fragt man meine Familie: Nein. Fragt man mich: Ich hoffe es. Wir haben es geschafft, unsere Computer außer Landes zu bringen, und konnten so unsere Geschichte in schwedischen Zeitungen veröffentlichen. Ich denke es war gut, um auf das Leid der Menschen aufmerksam zu machen. Doch der Preis für mich und meine Familie war sehr hoch.